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Lass mich!
Die letzten Kletterkollegen verabschiedeten sich. Es dämmerte bereits. Jens hing immer noch im Fels, als wäre er selbst zu Stein geworden.
“Du kannst dich auch einfach fallen lassen! Siehst du nicht, dass ich dich habe?!”, rief ich und zog das Seil strammer.
“Lasss mich”, zischte Jens zum x-ten Mal.
“Du wirst aber irgendwann schlapp und rutschst ab. Und was soll ich dann deiner Lara erzählen??”
“Lassss mich!”
Jens schob den Kiefer nach vorne und fuhr sich mit der Zunge über den Mund.
“Was soll das heißen? Hast Du Hunger?”
Ich bekam keine Antwort. Ein Blick auf die Uhr. In zwanzig Minuten fuhr der letzte Bus nach Palma. Wenn ich mich jetzt auf den Weg machen würde...wäre ich ein egoistisches Arschloch. Andererseits hatte ich weder Schlafsack noch Isomatte noch Proviant dabei, um die ganze verdammte Nacht hier auszuharren. Außerdem tat mir vom ständigen Hochschauen der Nacken weh. Ich massierte ihn und bekam dabei eine Idee.
“Hey Jens! Ich schnalle mich mal kurz ab und rolle dir ein Kippchen. Tabak! Na, was sagst du dazu?”
Immerhin ein Zucken im Bein. Jens war Kettenraucher und verputzte locker ein Päckchen am Tag. Doch nun krallte er sich umso fester in den Fels. Ein Wunder, dass er noch keinen Krampf in den Fingern oder in den Zehen bekommen hatte.
“Hast ´nen Superstand da oben“, rief ich und klinkte mich aus.
“Du bist jetzt ungesichert, ja? Fall mir nicht runter!”
Jens drehte sich zu mir um, kräuselte die Stirn und streckte seine Zunge raus.
Noch einmal ließ ich den Karabiner vor seinen Augen auf- und zuschnappen.
“Du bist ungesichert. Und ich schmöker jetzt ein wunderbares Kippchen. Ganz allein!”
Ich führte zwei Finger zum Mund und zog die Luft ein.
“Lasssss mich”, zischte Jens.
Ich winkte ab und machte mich an die Arbeit. Jens war ein schweigsamer Typ, aber so unkommunikativ hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich überlegte, Lara anzurufen. Vielleicht konnte sie ihn noch erreichen. Oder aber der Tabakrauch. Ich zündete meine Selbstgedrehte an und schrak auf.
Ein metallischer Aufprall ganz in meiner Nähe. Das Seil folgte. Zuletzt streifte Jens die Kletterschuhe ab, die er sich erst vor einer Woche gekauft hatte. Jetzt war er ein Freeclimber. Ein wenig Neid war schon dabei, als ich ihm bei seinem behenden Aufstieg zusah. Woher nahm er plötzlich diese Sicherheit? Fasziniert sah ich Jens dabei zu, wie er den Grat erklomm und auf allen Vieren im Gebüsch verschwand. Wen sollte ich jetzt zuerst anrufen? Lara? Die Polizei? Oder das Irrenhaus?
Ich drückte die Kippe an der Felswand aus. Plötzlich schoss eine Eidechse auf mich zu, sprang auf meinen Oberarm und krabbelte meine Schulter hinauf. Ich schrie und schüttelte mich. Vergeblich, sie zwängte sich bereits in meinen Gehörgang. Ich packte sie in letzter Sekunde an ihrem Schwanz.
“Lass mich!!” zischte eine Stimme, die schon halb zu mir gehörte.
Ich musste meine ganze Kraft aufwenden, um das Vieh aus meinem Ohr zu zerren. Anschließend schmetterte ich die Echse gegen die Felswand. Sie fiel wie ein Stück Holz zu Boden. Kurz bevor ich auf sie drauftreten konnte, kam sie wieder zu sich und entwischte. Auch ich machte mich schleunigst aus dem Staub und trampte zurück nach Palma.
Was aus Jens geworden ist? Wir haben ihn vermisst gemeldet und suchten wochenlang nach ihm, bis wir sein Lieblingsplätzchen entdeckten. Die Steilwand des Penyal de Honor an sonnigen Nachmittagen. Ehrlich gesagt schaue ich ihm gerne beim Klettern zu. Er würde selbst Jim Reynolds in die Tasche stecken. Auch Lara hat die Sache besser verkraftet als ich dachte. Ich darf sie nur nicht zu lange durchs Fernglas schauen lassen. Jens hat sich schon ein wenig verändert mit der Zeit. Vor allem seine Haut. Und sein Gesicht. Manchmal fragten wir uns, wovon er sich wohl ernährte. Aber lassen wir das. Die Hauptsache war doch, dass er lebte – und dass er klettern konnte, wie nie ein Mensch zuvor.