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Laufen in der Nacht

Monster-WG
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10.07.2019
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Laufen in der Nacht

Deine Freundin hat sich zur Ex gemacht. Das ging so: Sie saß auf einem roten Schemel in der Wohngemeinschaftsküche. Ihre Haut adlig blass. Der Himmel grau wie Dachpappe. Es gab schwarzen Tee. Sie berichtete aus eurer gemeinsamen Vergangenheit. Die, laut ihr, gar nicht so gemeinsam war. Du merkst: Zwischen Einsam- und Gemeinsamkeit schwebt eine hauchdünne Membran und ein falsches Wort durchstößt sie. Man merkt das manchmal nicht. Du hast es nie gemerkt. Und: Du hast dich nicht entwickelt. Und stellte den Satz sehr fest, unverrückbar fest, dass er in den Tagen nach der Trennung an allen Orten deines Denkens deutlich aufleuchtete wie Wegweiser auf der nächtlichen Autobahn.

Tage vergingen ...

Sich lautlos verabschieden – deine Mitbewohner, die dich verabschieden sehen, haben deine Verabschiedung nicht als Verabschiedung erkannt. Als Gang zum Zigarettenautomaten am Addis-Abeba-Platz oder zu Than Pho Asia interpretiert – sie haben dich als den gesehen, der du für sie bist und nicht bemerkt, wie du bist, wenn du fortgehst. Nämlich sehr, sehr allein.

Aus der Stadt laufen. Sich die Stadt erlaufen. Dem Epizentrum entlaufen. Ein Kind wartet auf seinen Kebab. Die Straßenbahn bummelt im Wendekreis. Laternenmasten biegen sich unter der Last gesammelten Lichts.

Deine Ex hat gesagt: Du hast dich nicht entwickelt.

Du denkst: Jahre sind zum Zählen da. Schaust auf die Hand. Fünf Finger an der linken Hand. Viereinhalb an der rechten. Autounfall.

Jeden Morgen die Inspektion deiner Haut. Sie gründlich abgetrocknet und das Halogenlicht über der Spiegelscherbe auf deinen Intimbereich gelenkt. Riesige, weiße Flächen. Deine Ex hat eine Landkarte in diese Flächen gemalt. Eine Bahnlinie mit Fineliner-Strichen ins Zentrum deiner terra incognita projiziert. Eine Stadt gegründet. Flagge gehisst. Die Hymne gesummt. „So british I am“, und gelacht: „This is my empire.“

Doch du hast jeden Morgen auf die Zeichen deiner Häutung gewartet. Auf den weißen Flächen nach dem Rosaschimmer der neuen Haut gesucht. Da schält sich kein Wesen aus den heißen Kernzentren deines Körpers, in denen was zerfällt, was zusammengehört.

Deine Ex hat auch gewartet. Auf dieses innere Wesen und sie hat sich vorbereitet – auf dieses innere Wesen, sie hat sich auch geduscht und einen schmalen Streifen geöffnet und gewartet – unter Bettdecken, auf Zeltplätzen, in Hotelzimmern. Sie hat gewartet. Lange gewartet. Zählst die Finger deiner linken Hand.

Mit deiner demenzkranken Oma hast du immer Pinguin, Affe und Co. geschaut. Im Juli letzten Jahres haben die Tierpfleger fünf Folgen auf die Häutung einer Schlange gewartet. Fünf Folgen! Die vertiefenden Sorgenfalten der Tierpfleger im warmen Terrarium. Die Schlange zwischen den braunen Steinen aus gebrannter Erde. Der Veterinärmediziner trommelt nervöser und nervöser gegen ein glattgeschliffenes Tropenholz. Schlangenkot und Sorge. Schweiß und Kondenswasser auf fingerdickem Gehegeglas. Plötzlich, ein Wunder, am Abend vor dem Wochenende: Der Praktikant Stefan S. findet zwei Meter Schlangenhaut hinter dem Busch. Freude! Deine Oma freut sich, schlägt die Hacken zusammen, drückt das Rückgrat durch und fragt, ob sie jetzt endlich, endlich nach Hause fahren könne. Aber du bist hier zu Hause, denkst du und lässt den Gedanken Gedanken sein. Und hoffst auch auf ein Wunder, das Wunder einer neuen Haut.

Weiterlaufen. An der Hauptstraße laufen. Ihrer Bordsteinkante folgen. Sich der Richtung nie versichern. Von sechs Fahrspuren überwältigt sein.

Und du denkst:

Sich an einen Ort tragen lassen. Dort aufsetzen. Saat streuen, Saat gedeihen und Saat ernten, der Ernte danken, sie einlagern, in Scheunen und Silos, die in der Sonne glänzen – wie Raumschiffe aus glattgespannter Alufolie. Die Ernte verkaufen, sie investieren. Dann zufrieden sein – die Kinder übernehmen den Hof, schreiten die Parzelle vor Sonnenaufgang ab und lassen das jäten, was zum Jäten bestimmt. Was sprach die Mutter zu ihrem Kind: Du musst den Acker finden, im Leben, Kind, auf dem du die Saat einstreuen darfst, Kind. Nimmt das Kind mit zwei Händen an den Backen, Kind, und formt den Kopf zurecht. Aber Backe bleibt halt Backe, rückt das Kind an Brust und Herzschlag, der beschleunigt und beschleunigt, ehe das Kind sich aus den Händen löst, den Blick auf den Boden richtet und mit der flachen Hand über die Küchenfliesen fährt.

Weiterlaufen. Die Hauptstraße. Jetzt der Blick in die Gegend. Gebäude, die sich vereinzeln, Lagerhallen aus silbernem Stahl, deren große und schwarze Eingänge ein inneres System der Kapitalmehrung erahnen lassen; des kleinen und großen Aufstiegs in deinen Jahren, der des Gleichhaltens in späteren; Autohandel hinter Maschendrahtzaun und schillerndes Buntmetall auf Sandplätzen. Das M des McDonalds leuchtet neben der Tankstelle, an der die Mädchen in weißen Stiefeln Rockstar-Dosen gegen ein Gitter kicken. Nachmittags haben dort ihre männlichen Freunde die Fußmatten ihrer Golfs und Polos abgeklopft.

Du läufst.

Stunden, in denen es dunkel und aufregend oder dunkel und traurig oder dunkel und einsam oder alles zugleich werden kann, in der der Mensch den Blick auf seine Innerlichkeit mit rotem Pfeffi schärft. Das Können ins Werden schieben, bis ein Kind ins Kreißsaallicht der Freiheit plumpst.

Deine Ex hat darauf gewartet.

Aber es klappte irgendwie nicht. Das Warten schon. Das Andere ...

Du läufst.

Sie habe dich immer unterstützt. Emotional. Instrumentell. Aber du hättest dich nicht entwickelt. Du sitzt vor Microsoft Office Excel und siehst die Neuen deine Gehaltsklasse überspringen. Du bist der Büro-Pol, um dich dreht sich alles, aber alle anderen nutzen die Rotation zur Beschleunigung wie kleine Kinder eine Drehscheibe auf dem Spielplatz. Sie halten sich fest, lassen los, fliegen in den Sand: Guck mal, ruft das Kind, bin viel weiter als du geflogen. Schüttelt den Sand ab. Fragt: Kannst du den Betriebsausflug organisieren? Du antwortest: Selbstverständlich.

Jetzt absteigen.

Von der Straße läufst du zum alten Kanal. Jetzt läufst du mit leerem Kopf. Ein, zwei Kilometer. Du merkst, Wasseroberflächen sind kühl und angrenzende Uferstreifen auch – eine Nachtlibelle schwirrt, ein Fisch im Wasser, der sich am Mond der Nacht versichert, du hoffst, keinen Angler zu stören, aber weißt, der Angler sieht und guckt und spricht nicht, das schätzt du an den Anglern. Du bleibst stehen. Das ist ein bekannter Ort.

Hier habt ihr gezeltet. Die Ex. Und du.

Deine Exfreundin hat eine Höhle mit ihren Händen geformt und den Ruf eines Uhus nachgeahmt – Nacht – der Mond ist noch nicht aufgegangen. Im Zelt der Geruch alter Nässe, die zu schnell getrocknet ist, die Mischung aus Tagesschweiß und Pollenflug des Zeltplatzes. Du hast ihn bestimmt und deine Exfreundin ist lächelnd gefolgt. Ihr habt einen Kaffee gekocht, welch‘ komplizierter Prozess: Das Instantpulver nicht verschütten, das Gas vorsichtig ablassen, sich nicht am Streichholz verbrennen und den unsichtbaren Butanstrahl mit der Flamme treffen, diskutieren, ob kochendes Wasser jedes Bakterium abtötet, die Sorge vor Verpuffung oder Verlust allen Gases. Aber es hat im achten Versuch geklappt und du hast erleichtert aufgeatmet. Deine Ex hat mit verschränkten Armen genickt. „Gib mir Topf, Wasser, Deckel!" Wasser braucht viele Warmzeiten, bis es blubbert, das kann ein Wasserkocher im urbanen Umfeld eben schneller. Trotzdem hast du dich geschämt, ein Dilettant des einfachen Lebens zu sein: Gaskocher, Zeltaufbau, du hast dich geschämt, ein Zelt nur schief in seine Teile zu falten, während deine Exfreundin geprüft hat, ob der Mann ein Mann ist und das „ist“ ist ein naturgesetzliches – du spürst ihn, den Selektionsdruck, ganz massiv auf deinen dünnen, nach vorne gekrümmten Schultern drücken. Du hast an die Zeit nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung gedacht und hast festgestellt: Wir werden nicht überleben. Du, ich, la famiglia. Die Ex und la famiglia werden ganz sauer sein und sich einer Bande Waldnomaden anschließen. Der Anführer hat sich den Sixpack nicht antrainieren müssen, er hat ihn; den Ehrgeiz ja auch; den Willen, eine Gruppe verängstigter Halbfamilien in einer Welt von Faust und Geschick zu verteidigen, mit Kniff und physischer Raffinesse. Und jeden Abend wählt er eine Mutter zur Prinzessin seiner Nacht. Die danken ihm befriedigt und erleichert und packen einen Schokoladenkeks für die Kinder ein.

Du läufst. Die Stadt in deinem Nacken. Heute ist Vollmond. Stehen und Bleiben. Du ziehst dich aus. Das T-Shirt, die kurze Hose, die löchrige Unterhose. Du bist nackte Existenz. Die weißen Stellen auf deiner Haut leuchten. Du nennst sie Milchbrand. Früher hast du deiner Ex die Geschichte erzählt, sie seien von intensivem Mondlicht verursacht. Nackt seist du im Feld eines Berges gewandert. Sie hat die Fläche berührt, ist dem unscharfen Rand gefolgt - „No, thats a scarf“ - und dann hast du eine andere Geschichte erzählt, von einem Auto, das ein anderes Auto traf.

Der Kanal liegt jetzt offen in der Ebene. Es fehlen die Bäume, die Schiffe, die Angler, die Kanalspazierer. Es fehlen die Verkehrsbojen der Binnenschifffahrt und die blassen Schwimmer mit zwei kalten funktionsunfähigen Brustwarzen. Hier bist du und du bist hier. Stadtentfernung vielleicht fünf, wahrscheinlich nur zwei, drei Kilometer. Du richtest den Blick auf die Ebene. Auf der Ebene sammelt sich die Dunkelheit und zieht den Horizont an dein Gesicht. Dein Horizont in Nasenlänge. Das Weltall tanzt auf deinem Kopf. Lauer Wind. Wenn du Kartograph wärst, würdest du eine Landkarte der Steinchen zwischen deinen Füßen zeichnen oder eine aller Sterne, die du siehst. Das wären Aufgaben für dich – präzise klassifizieren, nach Sternenform und Sternenblink oder Steinchenform und Steinchenfühl in deiner linken Hand. Eine Aufgabe beginnen und abschließen.

Deine Ex wartet.

Anlauf aus hohem Gras.

Springst in den Kanal. Tauchst ein und tauchst auf. Steigst aus dem Kanal. Klopfst Kanalwasser von dir ab. Ziehst dich wieder an.

Zurücklaufen.

"Wo bist du gewesen?", fragen die Mitbewohner am nächsten Morgen.
"Schwimmen", antwortest du.
"In der Nacht?"
"In der Nacht."
"Du hast Farbe im Gesicht."

Nach dem Duschen lenkst du das Halogenlicht über der Spiegelscherbe auf deinen Intimbereich. Die weißen Flecken sind verschwunden.

 

Hallo @linktofink :-)

Jetzt habe ich mich noch gar nicht bei Deinem sehr, sehr motivierenden Kommentar bedankt. Habe ich sehr gerne gelesen, besonders aus sprachlicher Sicht. Schreibe, schreibe, schreibe, linktofink. Bevor ich aber zu artig und pseudoaltklug klinge - die Krönung des interpunktiven Aufmerksamkieit ist das Erkennen der Zusatzmillimeters im Halbgeviertstrich! Danke für den Hinweis, ist korrigiert.

Lg aus Leipzig
kiroly

 

Hallo kiroly,

wie ein flacher Stein, der über die Wasseroberfläche hüpft. Jedes Wort eine Schlussfolgerung/Fortsetzung oder Richtungsänderung. Was ich erst feststelle, wenn der nächste Aufschlag erfolgt. Mein Gehirn galoppiert durch die Gefühle, muss nicht jedes Wort auf die Waage legen, ich versinnbildliche und genieße. Wie war das mit der Membran, man weiß nicht, wann sie durchstoßen wird? Kann ich in diesem Augenblick, in diesem JETZT, jeden Aspekt erfassen? Nein. So ist das mit deiner Story. Straight. Von Augenblick zu Augenblick. Gnadenlos und unverrückbar. Das Leben schreibt sich selbst. Mit nicht selbstgefälliger Selbstbetrachtung. Kurz: geil!
Grüße
Detlev

 

Hallo @Detlev =)

da halte ich mich kurz: Schön, dass Dir der Text gefallen hat, vielen Dank für's Lesen und Kommentieren!

Lg
kiroly

 

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