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Laufen lassen
Er hatte es laufen lassen. Immer schon hatte er es laufen lassen. Es genügte ihm, immer dort zu sein, wo die anderen es verlangten. Es genügte ihm, immer das zu tun, wonach die anderen begehrten. Mehr wollte er nicht vom Leben, mehr hatte er nicht erwartet. Also ließ er es laufen. Alles ließ er laufen und er kümmerte sich nicht darum, dass der Fleck auf seinem Oberschenkel immer größer und größer wurde. Es kümmerte ihn nicht.
Erst als ihn sein Freund nötigte, einen Arzt aufzusuchen, setzte er endlich seine Beine in Bewegung. Doch es war bereits zu spät. Die Zeit, in der er sein Schicksal hätte ändern können, war abgelaufen, die Zeit, in der er es laufen lassen konnte, war vorbei. „Meine Zeit ist um“, denkt er. „Mein Leben besiegelt“, stellt er fest. Er bemerkt es ohne Bitterkeit, es ist auch keine Angst in seinem Erkennen. Lethargisch wie eh und je nimmt er sein Schicksal an.
Er ist erstaunt darüber, wieviel ärztliche Kunst noch in sein verpfuschtes und aussichtsloses Leben investiert wird. Er kann nicht genau feststellen, ob er auf Grund seiner Diagnose zu einem Studienobjekt geworden ist, dass möglichst lange erhalten werden solle, oder ob die Ärzte ein ernsthaftes und ehrliches Interesse an seinem Gesundheitszustand haben. Er weiß es nicht und die abgeklärten Gesichter der behandelnden Mediziner verraten es ihm nicht. Doch fast genießt er es im Mittelpunkt der Betrachtungen zu stehen, fast genießt er es, das ständige Bemühen um Leistung und Anerkennung nun endgültig aufgeben zu können und sich fallen zu lassen in die Endgültigkeit.
Während er seine Behandlungen über sich ergehen lässt, denkt er nach. Er freut sich darüber endlich nachdenken zu können über das was war, und über das, was sein wird. Endlich hat er Zeit zum Nachdenken. Nie davor hatte er ausreichend Zeit einer Sache ordentlich auf den Grund zu gehen. Kaum hatte er seine Gedanken sortiert, sollte die Angelegenheit schon längst erledigt sein. Immer mussten hektisch und mit einer verbissenen Selbstverständlichkeit Dinge erledigt werden und nie gönnte man ihm die Muße, eine Sache ordentlich zu klären. Nun, da er aussortiert war aus der Produktions- und Leistungsgesellschaft, hatte er endlich Zeit nachzudenken.
Und er denkt über den Busfahrer nach, der ihn heute hierherbrachte, und seinen taxierenden Blick. Der Blick des Busfahrers geht ihm gerade nicht aus dem Kopf. Vermutlich versuchte dieser, ihn einzuordnen in sein System aus Normen und Erwartungen. Doch seine Kleidung verriet nicht, ob er ein Prolet oder ein Abenteurer war, sie verriet auch nicht, ob er in seinem Leben versagt hatte oder erfolgreich war. Da er ins Krankenhaus wollte, schalteten sich wohl die nächsten Kategorien in sein Denkmuster: Patient oder Besucher. Und wenn Patient, welches Leiden mochte er wohl haben? Oder ein Besucher? Doch keine Blumen, keinerlei Aufmerksamkeit in den Händen. Vielleicht bloß ein neidiger Freund, der sich am Leiden eines anderen Freundes aufrichten wollte. Und während sich der Busfahrer auf den Verkehr konzentrierte, überlegt er weiter. Er denkt darüber nach, ob der Busfahrer wohl Familie habe oder Freunde. Und er denkt darüber nach, ob der Busfahrer wohl jemanden kennen würde, der auch mit der Diagnose „Endstadium“ gebrandmarkt wurde. Und während er auf dem Behandlungsstuhl sitzt, laufen die Minuten ebenso dahin wie seine Gedanken und die Medizin in seinen Tropf.
Die Krankenschwester kommt und befreit ihn vom Infusionsschlauch. Sie deutet ihm an zu gehen. Er ist fertig. Er kann wieder nach Hause. Morgen darf er wieder da sitzen und dem Treiben der anderen zusehen. Morgen darf er wieder kommen, das versichert sie ihm. Er packt seine Sachen und geht zur Tür. Der Ausgang liegt in nordwestlicher Richtung. „Im Westen geht die Sonne unter, im Norden ist sie nie zu sehen“, erinnert er sich. Auch sein Leben wird untergehen und eines Tages wird nichts mehr an ihn erinnern. Niemand mehr wird sich an ihn erinnern. Er hat schon längst keine Eltern mehr und die einzige Schwester, die er beerben darf, erinnert sich schon heute nur ungern an ihn. Einmal in der Woche ruft sie pflichtgetreu an und erkundigt sich nach seinem Gesundheitszustand. Sie will wohl nur verhindern, dass sie den wichtigsten Tag in ihrem Leben versäumt. Sie will wohl um jeden Preis die Erste sein, die von seinem Ableben verständigt wird. Seine Schwester war immer schon gerne überall die Erste. Sie will immer alles wissen, alles entscheiden, alles machen. Immer schon stand sie vorne in der ersten Reihe und derweil er noch über die Antwort grübelte, hielt sie schon die Hände in die Höhe. Er mochte sie nicht besonders. Ihr Tempo hatte ihn immer überfordert, seine Gemächlichkeit hingegen strapazierte ihre Nerven. Doch nun, da ein Ende abzusehen war, mühten sich beide um ein angenehmes und erträgliches Miteinander. Immerhin würde sie alles regeln, seine Hinterlassenschaft ordnen. Und es war besser, sich gut zu stellen mit ihr. Schließlich wollte er sicher gehen, dass die verbleibenden Dinge in seinem Sinne geregelt wurden.
Und es müssen viele Dinge geregelt werden, wenn man vom Leben Abschied zu nehmen hat. Wer würde der Nachmieter seiner Wohnung sein, zum Beispiel, wer würde sich um seine Katze kümmern? Sollte er auf Kränze verzichten und die guten Wünsche einem guten Zweck zukommen lassen? Der Krebsforschung am Ende gar? Nach seinem Ende wieder Krebs? Oder einer Einrichtung für Kinder? Aber gibt es eine Einrichtung, in der die Kinder, die dort aufwachsen müssen, auch glücklich sind? Oder werden die Kinder dort mit seiner Geldspende glücklicher werden? Wird eines dieser Kinder dadurch Zeit bekommen nachzudenken? So wie er jetzt? Zeit, das Leben zu reflektieren anstelle von Hast und beständigen Fortschritts? Er weiß es nicht. Doch er weiß, was er sich für die Welt wünscht. Hätte er nur einen einzigen Wunsch frei, dann würde er den Menschen mehr Zeit schenken. Nicht mehr Zeit um noch mehr Dinge zu tun, oder mehr Zeit, um noch mehr zu erreichen, sondern einfach nur Zeit um Zeit zu haben. Einfach so.