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Laufen lassen

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22.11.2019
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Laufen lassen

Er hatte es laufen lassen. Immer schon hatte er es laufen lassen. Es genügte ihm, immer dort zu sein, wo die anderen es verlangten. Es genügte ihm, immer das zu tun, wonach die anderen begehrten. Mehr wollte er nicht vom Leben, mehr hatte er nicht erwartet. Also ließ er es laufen. Alles ließ er laufen und er kümmerte sich nicht darum, dass der Fleck auf seinem Oberschenkel immer größer und größer wurde. Es kümmerte ihn nicht.

Erst als ihn sein Freund nötigte, einen Arzt aufzusuchen, setzte er endlich seine Beine in Bewegung. Doch es war bereits zu spät. Die Zeit, in der er sein Schicksal hätte ändern können, war abgelaufen, die Zeit, in der er es laufen lassen konnte, war vorbei. „Meine Zeit ist um“, denkt er. „Mein Leben besiegelt“, stellt er fest. Er bemerkt es ohne Bitterkeit, es ist auch keine Angst in seinem Erkennen. Lethargisch wie eh und je nimmt er sein Schicksal an.

Er ist erstaunt darüber, wieviel ärztliche Kunst noch in sein verpfuschtes und aussichtsloses Leben investiert wird. Er kann nicht genau feststellen, ob er auf Grund seiner Diagnose zu einem Studienobjekt geworden ist, dass möglichst lange erhalten werden solle, oder ob die Ärzte ein ernsthaftes und ehrliches Interesse an seinem Gesundheitszustand haben. Er weiß es nicht und die abgeklärten Gesichter der behandelnden Mediziner verraten es ihm nicht. Doch fast genießt er es im Mittelpunkt der Betrachtungen zu stehen, fast genießt er es, das ständige Bemühen um Leistung und Anerkennung nun endgültig aufgeben zu können und sich fallen zu lassen in die Endgültigkeit.

Während er seine Behandlungen über sich ergehen lässt, denkt er nach. Er freut sich darüber endlich nachdenken zu können über das was war, und über das, was sein wird. Endlich hat er Zeit zum Nachdenken. Nie davor hatte er ausreichend Zeit einer Sache ordentlich auf den Grund zu gehen. Kaum hatte er seine Gedanken sortiert, sollte die Angelegenheit schon längst erledigt sein. Immer mussten hektisch und mit einer verbissenen Selbstverständlichkeit Dinge erledigt werden und nie gönnte man ihm die Muße, eine Sache ordentlich zu klären. Nun, da er aussortiert war aus der Produktions- und Leistungsgesellschaft, hatte er endlich Zeit nachzudenken.

Und er denkt über den Busfahrer nach, der ihn heute hierherbrachte, und seinen taxierenden Blick. Der Blick des Busfahrers geht ihm gerade nicht aus dem Kopf. Vermutlich versuchte dieser, ihn einzuordnen in sein System aus Normen und Erwartungen. Doch seine Kleidung verriet nicht, ob er ein Prolet oder ein Abenteurer war, sie verriet auch nicht, ob er in seinem Leben versagt hatte oder erfolgreich war. Da er ins Krankenhaus wollte, schalteten sich wohl die nächsten Kategorien in sein Denkmuster: Patient oder Besucher. Und wenn Patient, welches Leiden mochte er wohl haben? Oder ein Besucher? Doch keine Blumen, keinerlei Aufmerksamkeit in den Händen. Vielleicht bloß ein neidiger Freund, der sich am Leiden eines anderen Freundes aufrichten wollte. Und während sich der Busfahrer auf den Verkehr konzentrierte, überlegt er weiter. Er denkt darüber nach, ob der Busfahrer wohl Familie habe oder Freunde. Und er denkt darüber nach, ob der Busfahrer wohl jemanden kennen würde, der auch mit der Diagnose „Endstadium“ gebrandmarkt wurde. Und während er auf dem Behandlungsstuhl sitzt, laufen die Minuten ebenso dahin wie seine Gedanken und die Medizin in seinen Tropf.

Die Krankenschwester kommt und befreit ihn vom Infusionsschlauch. Sie deutet ihm an zu gehen. Er ist fertig. Er kann wieder nach Hause. Morgen darf er wieder da sitzen und dem Treiben der anderen zusehen. Morgen darf er wieder kommen, das versichert sie ihm. Er packt seine Sachen und geht zur Tür. Der Ausgang liegt in nordwestlicher Richtung. „Im Westen geht die Sonne unter, im Norden ist sie nie zu sehen“, erinnert er sich. Auch sein Leben wird untergehen und eines Tages wird nichts mehr an ihn erinnern. Niemand mehr wird sich an ihn erinnern. Er hat schon längst keine Eltern mehr und die einzige Schwester, die er beerben darf, erinnert sich schon heute nur ungern an ihn. Einmal in der Woche ruft sie pflichtgetreu an und erkundigt sich nach seinem Gesundheitszustand. Sie will wohl nur verhindern, dass sie den wichtigsten Tag in ihrem Leben versäumt. Sie will wohl um jeden Preis die Erste sein, die von seinem Ableben verständigt wird. Seine Schwester war immer schon gerne überall die Erste. Sie will immer alles wissen, alles entscheiden, alles machen. Immer schon stand sie vorne in der ersten Reihe und derweil er noch über die Antwort grübelte, hielt sie schon die Hände in die Höhe. Er mochte sie nicht besonders. Ihr Tempo hatte ihn immer überfordert, seine Gemächlichkeit hingegen strapazierte ihre Nerven. Doch nun, da ein Ende abzusehen war, mühten sich beide um ein angenehmes und erträgliches Miteinander. Immerhin würde sie alles regeln, seine Hinterlassenschaft ordnen. Und es war besser, sich gut zu stellen mit ihr. Schließlich wollte er sicher gehen, dass die verbleibenden Dinge in seinem Sinne geregelt wurden.

Und es müssen viele Dinge geregelt werden, wenn man vom Leben Abschied zu nehmen hat. Wer würde der Nachmieter seiner Wohnung sein, zum Beispiel, wer würde sich um seine Katze kümmern? Sollte er auf Kränze verzichten und die guten Wünsche einem guten Zweck zukommen lassen? Der Krebsforschung am Ende gar? Nach seinem Ende wieder Krebs? Oder einer Einrichtung für Kinder? Aber gibt es eine Einrichtung, in der die Kinder, die dort aufwachsen müssen, auch glücklich sind? Oder werden die Kinder dort mit seiner Geldspende glücklicher werden? Wird eines dieser Kinder dadurch Zeit bekommen nachzudenken? So wie er jetzt? Zeit, das Leben zu reflektieren anstelle von Hast und beständigen Fortschritts? Er weiß es nicht. Doch er weiß, was er sich für die Welt wünscht. Hätte er nur einen einzigen Wunsch frei, dann würde er den Menschen mehr Zeit schenken. Nicht mehr Zeit um noch mehr Dinge zu tun, oder mehr Zeit, um noch mehr zu erreichen, sondern einfach nur Zeit um Zeit zu haben. Einfach so.

 
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Hola @Judith Maria,

Du hast präzise Vorstellungen von Deinem*) Aufenthalt im Forum:

Warum gelingt es anderen, mit Humor und Leichtigkeit über die Herausforderungen des Lebens zu schreiben? Ein Ausgleich mit heiteren, aber nicht oberflächlichen Texten wird meinen Horizont sicher positiv erweitern, jede Kritik gegenüber meinen ernsten Texten ebenso.

Ich lese also, dass Du die Ernsthaftigkeit zurückdrängen willst zugunsten lockerer, leichtfüßiger Texte. Bitte sehr, an uns soll es nicht liegen. Du hast wohl schon gesehen, wie viele tags hier zur Verfügung stehen. Wohlan, würde ich sagen, das kann interessant werden.

Und natürlich wünsche ich mir konstruktives Feedback mit Respekt und Wertschätzung.
Das kannst Du hier erwarten, allerdings nehmen ich und einige andere kein Blatt vor den Mund, wenn es angebracht erscheint. Auch Du kannst vom ersten Tag an voll mitmischen, das ist sogar erwünscht – hat zu tun mit Geben – Nehmen, sprich eigenen Text veröffentlichen, doch auch andere Geschichten zu kommentieren. Probier uns!

Möchte auch etwas zu Deinem Text sagen:

Es genügte ihm, immer dort zu sein, wo die anderen es verlangten.
Er lässt sich schubsen, ist immer zu Diensten, wie man so sagt.

Es genügte ihm, immer das zu tun, wonach die anderen begehrten.

Hier aber fehlt mir das Verständnis – beim flüchtigen Lesen geht das in der Aufzählung unter, doch wenn ich langsam lese, steh ich aufm Schlauch. ‚Er tut das, was die anderen begehren’?

Das ist mir zu ungenau und phrasenhaft.

Mehr wollte er nicht vom Leben, mehr hatte er nicht erwartet.

Also hat er keine Sehnsüchte, Träume, Wünsche, Ziele? Schlecht vorstellbar, doch gleichgültige Menschen gibt es – das kann mit einer verbockten Kindheit anfangen.

Er ist erstaunt darüber, wieviel ärztliche Kunst noch in sein verpfuschtes und aussichtsloses Leben investiert wird. Er kann nicht genau feststellen, ob er auf Grund seiner Diagnose zu einem Studienobjekt geworden ist, dass möglichst lange erhalten werden solle, oder ob die Ärzte ein ernsthaftes und ehrliches Interesse an seinem Gesundheitszustand haben. Er weiß es nicht und die abgeklärten Gesichter der behandelnden Mediziner verraten es ihm nicht.

Klasse gemacht, wirklich gut, mMn.

Doch fast genießt er es im Mittelpunkt der Betrachtungen zu stehen, fast genießt er es, das ständige Bemühen um Leistung und Anerkennung nun endgültig aufgeben zu können und sich fallen zu lassen in die Endgültigkeit.

Hier wiederum gibt es (für mich) einen Bruch: Der Phlegmatiker ‚genießt’ plötzlich?
Sein ganzes Leben ist (war) ihm wurscht, doch jetzt, mit einem Mal, wird er eitel – also’fast’ (2 x). Und wieso ‚fast’? Entweder oder, würde ich sagen.

... das ständige Bemühen um Leistung und Anerkennung ...
... kommt mir seltsam vor, weil er zu Beginn als einer geschildert wird, dem es genügte ... Da war von Anstrengung keine Rede, oder von Leistung und Anerkennung, da hat er, wenn ich richtig verstehe, Befehle ausgeführt. Vielleicht kannst Du das zu einem runden Persönlichkeitsbild verändern?

Dann liegt er, denkt nach:

Er freut sich darüber K endlich nachdenken zu können über das K was war, und über das, was sein wird.
Das heißt, ihm hat bisher die Zeit dazu gefehlt. Aber einem Phlegmatiker ist es doch egal?
Doch möglicherweise hab ich ein falsches Bild von ihm – oder Du hast es nicht genau gezeichnet.
Spielt im Moment (für mich) keine Rolle. Ich habe im letzten Teil den Eindruck, nicht einen Plot zu verfolgen, sondern die Privatgedanken des Autors zu lesen.

Natürlich habe ich zu Ende gelesen; langsam, aufmerksam. Du schreibst professionell, anspruchsvoll, alles fließt gut, prima Formatierung. Spannung bzw. Konflikt allerdings Null, doch ein gut geschriebener Text braucht das nicht unbedingt.

Eines muss ich leider bekennen: ‚Philosophisches’ ist für mich immer problematisch, vielleicht erreicht mich deshalb nicht alles im Text - aber ich war neugierig.

Viele Grüße!
José

PS:

Vielleicht bloß ein neidiger Freund, der sich am Leiden eines anderen Freundes aufrichten wollte.
Fabelhaft. Trotzdem verstehe ich nicht, warum der ‚Freund’ neidig / neidisch ist. Auf dessen Krankheit doch nicht, aber worauf dann?

*) Beim Großschreiben der Anrede bin ich die Ausnahme, es wird stillschweigend geduldet.

PSPS:
April, April! Hab diese Nacht, nachdem mein Komm fertig war, Deine Kommentare gesehen, na, da hätte ich mir das Wort zum Sonntag ganz oben sparen können. Vergiss es einfach.

 
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@josefelipe,

oh, danke für deine Antwort. Ja, mit den Kategorien hatte ich Schwierigkeiten und Philosophisch habe ich gewählt, weil es eben ein Text zum Nachdenken ist. :) Zur Persönlichkeitsbeschreibung: Nicht jeder ist immer nur XY. Manchmal möchte man jemand sein, sieht die Anforderung jemand sein zu sollen - und schafft es dann doch nicht. Und eine schwere Krankheit hat immer Auswirkung auf die Persönlichkeit. Sie verändert dein Leben radikal. Und wenn man permanent als Versager betrachtet wird von seiner Umwelt, dann kann es durchaus ein Genuß sein, wenn einem plötzlich so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Meine Mutter hatte es auch genossen, gepflegt zu werden und es war ihr Balsam für all die Entbehrungen und Enttäuschungen, die sie in gesunden Jahren einstecken mußte. Und danke für deine Kritik. Sie ist konstruktiv. :) Die anderen Punkte lass ich mir noch genüßlich durch den Kopf gehen.

 

verstehe ich nicht, warum der ‚Freund’ neidig / neidisch ist
so, diesem Wort habe ich mich nochmal extra gewidmet. Denn auch für mich war "neidig" aus unerklärlichen Gründen sperrig. Inhaltlich stimmt es überein mit dem was ich ausdrücken möchte. Denn ja, es gibt "neidige" KH-Besucher, die sich am Leiden der anderen weiden (nicht ganz so krass wie Schaulustige bei Unfällen, aber ähnlich). Ich höre förmlich das laute Bedauern : "Ohje, der/die Arme" und kurz darauf die Feststellung: "Ja, wenn man nicht aufpasst...." und diese Besserwisserei am Ende, nach dem KH-Besuch, der hat seine Wurzeln im Neid: auf den beruflichen Erfolg, das tolle Auto, die Kinder..... und jetzt zahlt er/sie auch mal drauf. Dieses "Besserwissen" kann aber sicher auch mit Angst zu tun haben im Sinne von "hätte mir nicht passieren können", und am Ende führt es aber zum "Runtermachen", "Runterspielen" und dient wohl dazu, dass man selbst das Gefühl hat, obenauf zu sein = du (Patient) unten, ich (Besucher) oben = Vergleich = Rivalität. Naja, ich hoffe, die Erklärung dazu war jetzt schlüssig. Ein bisschen schade, dass sie vonnöten war.

Aber beim Nachdenken über deine Kritik fiel mir ein, dass ich mit dem Wort selbst nicht ganz glücklich war, konnte aber, um die obige Erläuterung zu beschreiben, nicht darauf verzichten. Dein Kommentar: nicht spannend - hat es mir aber nun erklärt. Das Wort ist zu laut. Zerlege ich es in seine Bestandteile kommt raus: Nei - wie wei (pfui Teufel oder auch weinen) und ig wie Igitt. Das spitze schrille I und das eiernde Ei. Im Vergleich zu den übrigen ist es zu laut, noch dazu, wo es um die möglichen Gedanken des Busfahrers geht, also eher zweitrangig ist.

Aber ich weiß noch nicht, womit ich es ersetzen könnte: schadenfroh? - ist mir zu eindeutig.

Das ist mir zu ungenau und phrasenhaft
Hm, ich denke, diese Kritik muss ich einfach hinnehmen. Beim eigenen Nachlesen dachte ich zuerst - ja, richtig, da stimmt was nicht und wollte von wonach auf worauf wechseln. Aber ein Blick in den Duden verriet mir, dass das nicht richtiger wäre. Vor meinem Auge steht eine Person, die verlangsamt im Denken ist und daher mit den anderen nicht Schritt halten kann, Mißerfolge einsteckt und es eben gewohnt ist, Aufträge zu erhalten und herumgeschubst zu werden. Und sie findet sich in dieses Schicksal hinein. Daher wirkt, bzw. wird sie phlegmatisch. Das bedeutet aber nicht, dass sie in dieser Rolle glücklich ist. Jetzt, da sie Zeit zum Denken hat, keine Aufträge mehr erfüllen muss, fällt der Druck, einer Norm genügen zu müssen.
Aber eigentlich erläutere ich gerade zu viel. Wenn das notwendig ist, dann

hab ich ein falsches Bild von ihm – oder Du hast es nicht genau gezeichnet.
Immerhin wird mir nun klarer, warum der Text damals nicht gewonnen hat. Und übrigens: Das Großschreiben haben mir meine Kinder abgewöhnt. Mir gefällt es.

 

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