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Laufen

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01.05.2009
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Laufen

Laufen


Ich sitze auf der Bettkante. Draußen dämmert es. Mir geht’s nicht gut, mir geht’s schlecht, mir geht’s beschissen.
Das war nicht immer so, wann hat das angefangen? Als sie wegging? Oder schon vorher?
Immer öfter erinnere ich mich nicht mehr, wo ich herkomme, weiß nicht, wo ich hin will, habe Gedächtnislücken. Mir scheint manchmal, dass ich Zeit verloren habe.
Mich quälen Stimmen. Manchmal habe ich ein Dröhnen im Kopf.
Und in letzter Zeit ist mir, als wenn jemand meine Gedanken kennt, mit mir redet, mir sagt, mach das oder das.
Manchmal denke ich fast, dass ich ein andrer bin, dass ich mich verliere oder schon verloren habe. „Du tickst manchmal nicht richtig“, haben schon öfter Leute zu mir gesagt.

Aber wenn ich laufe, ist alles anders. Laufen tut mir gut, macht meinen Kopf frei. Ich verliere dann meine Depressionen, habe keine Angst mehr und spüre keine Aggressionen. Laufen lässt mich allen Scheißdreck vergessen, setzt Glückshormone frei. Danach fühle ich mich frei, als wenn es mir endlich gelungen ist, wegzulaufen.

7.00 Uhr. Los geht’s. Der rechte Schuh sitzt nicht mehr richtig. Ausgeleiert? Bräuchte mal wieder neue Laufschuhe. Sollte vielleicht Markenware kaufen, nicht den billigen Schund aus China. Dreimal die Woche mindestens 10 km halten die nur kurze Zeit. Aber mit meiner bescheidenen Frührente kann ich keine großen Sprünge machen.
Direkt hinterm Haus die erste Steigung, Mist, habe auch schon mal besser gekeucht.
Nicht zu schnell, der Weg ist noch lang, ich komme oben an. 7 Minuten und 30 Sekunden sind vergangen, langsamer als an anderen Tagen. Ich muss schneller laufen. Ich spüre Wasser, das mir im Genick runterläuft, das Hemd klebt am Körper.
Der Weg geht jetzt durch Felder, klarer Himmel. Ich rieche die Erde. Warm werden wird es heute. Gestern hat es geregnet. Ich überquere die erste Brücke. 12 Minuten, nicht schlecht, laufe jetzt am Flussufer entlang bis zur nächsten Brücke.
Am Rande des Weges stehen Kilometersteine, alle 500 Meter einer. Zwischenziele.
Lockerer muss ich laufen, den Schritt aus der Hüfte auspendeln, öfter Zwischenspurts einlegen.
Am Stauwehr komme ich vorbei, höre das Rauschen des Wassers. Bierdosen und Holzstücke wirbeln im Strudel herum, verschwinden, tauchen wieder auf.
Nach 29 Minuten erreiche ich die zweite Brücke, laufe auf der anderen Seite des Flusses zurück. Die Hälfte habe ich geschafft. In bin in der Zeit.
Ein Typ kommt mir entgegen, unmöglicher Laufstil, krumme Beine, ein Wunder, dass der nicht hinfällt, aber er läuft wesentlich schneller als ich, ist auch viel jünger..

In meinem rechten Knie fängt es an, ein wenig zu ziehen. Meniskus? Hoffentlich hört das bald auf, vielleicht ist es ja auch eine Idiotie, in meinem Alter zu rennen.
Vielleicht sollte ich spazieren gehen und die Landschaft anschauen, vielleicht sollte ich jetzt aufhören zu joggen und mich auf die Bank da vorne setzen, vielleicht sollte ich nicht mehr weglaufen wollen.
Der Fluss führt ziemlich viel Wasser, gutes Fischwasser. Eine kleine Steigung, mein Knie ist wieder in Ordnung.

Dann sehe ich vor mir ein junges Mädchen, ich komme schnell näher, laufe hinter ihr. Sie hat einen prima Hintern. Und dann fängt es in meinem Kopf an zu dröhnen. Ich höre auch Stimmen, dann sagt jemand etwas zu mir.

Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur ersten Brücke. Meine Beine werden langsam schwer, spätestens nach 45 Minuten sollte man etwas trinken, habe ich in einem Trainingslager gehört. Mein Puls ist höher als sonst.
Die Sonne kommt raus, ich laufe am Tennisplatz vorbei; Anna mit den roten Haaren, damals, Anna beim Tennis und im Bett.

Der letzte Anstieg beginnt, der Puls geht auf 170. Ich spüre Müdigkeit in meinen Beinen, mehr Sauerstoff brauche ich. Ich reiße den Mund auf.
Ich bin oben, 70 Minuten habe ich gebraucht, bin die Strecke schon in 59 Minuten gelaufen. War ich heute so langsam? Wo habe ich so viel Zeit verloren? Bin ziemlich fertig.
Ich gehe ruhig bis zum Haus. Als ich ankomme ist der Puls fast normal.
Ich setze mich auf die Bank im Garten, schließe die Augen, bin entspannt. Habe alles vergessen, was mich bedrückt.
Später gehe ich ins Haus.
Warum sind eigentlich meine Hosen so dreckig? Bin doch nicht gefallen.
Ich dusche mich. Im Spiegel sehe ich dann, dass mein Gesicht zerkratzt ist.

 
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Moikka Kurtchen,

ein kleiner, leichtfüßiger Einblick in ein Stück entglittene Realität, sehr schön.
Viele Taten haben einen so ungemein banalen Hintergrund wie diesen: nur für den Betroffenen selbst ist der Auslöser eine persönliche Katastrophe.

Mir gefällt der Aufbau: ein Ritual zur Ablenkung von persönlichem Unglück, die Zipperlein des Alters, die alltäglichen Beobachtungen der Umgebung beim Laufen. Die Erwähnung des Mädchens deutet zwar die Auflösung bereits an – aber: die Geschichte hätte hier noch ganz andere Wendungen einschlagen können, so blieb für mich die Spannung erhalten.

Schön auch: verlorene 11 Minuten. Mehr braucht es nicht. Und später die leise Andeutung, daß sie nicht die einzige ist.


Die Stimmen im Kopf sind natürlich ein Klassiker, doch für mich durchaus glaubhaft eingesetzt. Viele Täter behaupten, von Stimmen geleitet worden zu sein - und welcher Außenstehende könnte sich ein Urteil erlauben, ob es der Wahrheit entspricht oder nur ein Schachzug der Verteidigung ist?


Warum sind eigentlich meine Hosen so dreckig? Bin doch nicht gefallen. Ich dusche mich. Im Spiegel sehe ich dann, dass mein Gesicht zerkratzt ist.
Für die Auflösung brauchte es im Grunde nur eine der beiden Aussagen, Hose dreckig oder Gesicht zerkratzt. Da die Tat nicht vollkommen überraschend kommt, erhöht der Einschub „Ich dusche mich.“ nicht die Spannung, sondern verzögert grundlos die Pointe. Das Duschen würde ich auf jeden Fall belassen, die Hose eher streichen.


Am Text haben mich sonst nur Kleinigkeiten gestört:

Der doppelte Titel ist sicher beim Reinkopieren entstanden? Finde, das holpert immer etwas.

Ich verliere dann meine Depressionen, habe keine Angst mehr und spüre keine Aggressionen.
Ist für mich unnötig. Eleganter wäre es, wenn der Erzähler sich noch nicht so stark selbst analysiert, nur bemerkt, daß ihm hier offensichtlich etwas entgleitet. Das hast Du ja schon wuderbar beschrieben. Aggression/Depression liest sich in dieser beinahe-Doppelung auch nicht so flüssig.

Ob es Anna nur beim Tennis braucht, oder auch im Bett, ist sicher Ansichtssache - ich hätte mir letzteres aus ersterem denken können.

Alles in allem gern gelesen. :)

Heippa hei,
Katla

 

Ich habe deine Geschichte sehr gern gelesen. Ich mag solche Geshcichten, bei denen man über den Schluss ein wenig nachdenken muss.

 

Hallo katla, hallo barkai,

danke über Eure Rückmeldung, habe mich gefreut, dass Euch der Text zugesagt hat.

Deine Vorschläge, liebe Katja, werde ich sicherlich bei einer Überarbeitung bedenken.

Schönen Sonntag noch.

Kurtchen

 

Hallo Kurtchen,

ich fand die Geschichte auch gelungen.

Hier noch zwei Stellen mit Fehlern:

In bin der Zeit.

Ich bin in der Zeit.


Ein Typ kommt mir entgegen, unmöglichen Laufstil, krummen Beine, ein Wunder, dass der nicht hinfällt

unmöglicher Laufstil, krumme Beine


Viele Grüße,

tomtom

 

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