Laute Bilder
Gleichmäßig fielen die Wassertropfen in das graubraune Keramikwaschbecken. Dicht war der alte rostige Wasserhahn schon lange nicht, zu einer Reparatur wäre es trotzdem niemals gekommen. Das Pochen der Tropfen war jedoch nur eines von vielen Nebengeräuschen in der Wohnung. Straßenlärm und sogar die Schritte der Nachbaren drangen genau so gut durch die dünnen Wände, hier, in diesem kleinen beschaulichen 2-Zimmer Appartment, das seine beste Zeit schon weit hinter sich gelassen hatte. Selbe Wände waren geziert mit gelben Papiertapeten, an manchen Stellen lösten sie sich aber schon so großflächig ab, dass man den blanken Putz darunter sah. Die Tapeten waren noch ein Überbleibsel der Vormieter. Ich hätte neue kaufen können, geändert hätte es jedenfalls nicht viel – ich wäre wohl nie dazu gekommen hier irgendetwas zu renovieren. Dennoch... der bloße Anblick dieser schimmeliggelben Fetzen löste bei mir immer wieder ein Gefühl von Unbehagen aus. Eigentlich ist Gelb ja meine Lieblingsfarbe. Diese Freude, diese Wärme die sie ausstrahlt – all dies stand hier im Kontrast zum Rest des Raumes. Aber er musste es ja nicht sehen...
Abraham saß nur auf seinem Bett, stillschweigend der Sonne zugewandt, die besinnlich durch eines der Seitenfenster hineinfiel. Der späte Nachmittag tauchte den Raum in ein sanftes goldenes Licht.
Wie immer kauerte er da, seine langen dürren Finger auf dem Griffbrett seiner Gitarre verharrend. Er hielt gerade inne, wippte nachdenklich vor und zurück, nur um dann plötzlich wie auf Kommando im selben Takt mit dem Tropfgeräusch des Wasserhahnes einzusteigen und seine ersten Akkorde zu spielen.
„Aber Abraham... du spielst ja schon wieder das selbe Lied....“, unterbrach ich ihn. Das selbe Lied, dass er jeden Tag spielte.
„Ja. Weil es noch längst nicht fertig ist. Ich brauche noch einen Schluß und das weißt du!“, erwiderte er störrisch.
„Aber du hast doch schon einen Schluß, du hast ihn mir erst neulich vorgespielt.“
„... ja... der gefällt mir aber nicht mehr.“, er wurde immer patzig, wenn man ihm widersprach.
„Er passt einfach nicht. Du,... du kannst das so nicht verstehen“, er schüttelte sich zornig, riss dann seine Lider auf und starrte mich mit den milchigen Pupillen seiner blutunterlaufenen leblosen Augen an. Er war blind... blind geworden.
Fast zweieinhalb Jahre war es nun her, seit dem Unfall der ihm das Augenlicht nahm.
Natürlich, ich fühle mit jedem Menschen mit, der die Fähigkeit zu Sehen oder auch einen seiner anderen Sinne verliert. Aber für Abraham war der Verlust seiner Augen um ein vielfaches schlimmer.
Ich kenne ihn, seitdem ich klein war. Immerschon liebte er es zu beobachten. Er war einfach der Typ Mensch, der sich stundenlang an Kleinigkeiten erfreuen konnte. Blätter die im Flußlauf trieben, und sowas. Als wir älter wurden, ging er immer öfter dazu über die Sachen die er sah auch einzufangen. Er zeichnete sie. Alles was ihm interessant schien. Zuerst mit Kohle und Kreide, dann auf Leinwand. Seine Bilder wurden gut gehandelt,... es war ein echter Verdienst, den er damit einfuhr. Und diesen Teil seines Lebens zu verlieren, das hat er nicht verkraftet.
Einmal sagte er, wenn er schon keine Bilder mehr malen könnte, dann wollte er wenigstens bei der Kunst bleiben. Am selben Tag noch schickte er mich los um ihm eine Gitarre zu kaufen. Selbst wollte er es sich beibringen. Autodidaktisch, sagte er. Weil er allerdings nie bereit war Blindenschrift zu lernen, musste ich ihm alles vorlesen, ihm jedes Detail der Bilder erklären und ihn korrigieren... ich musste selbst Gitarrespielen lernen - nur um es ihm beizubringen. Ich tat es gerne.
Unbeholfen spielte er dann oft so vor sich hin, fragte immer wieder: „Fühlst du etwas? Siehst du es?“
„Was soll ich sehen?“, antwortete ich dann.
„Die Wiese. Eine Frühlingswiese mit gelben Blumen... du hast es nicht gesehen? Natürlich nicht wirklich, aber in Gedanken? Mit deinen geistigen Augen?“
Eine zeitlang dachte ich, es sei besser zu sagen „Doch Abraham. Doch, genau die habe ich gesehen als du gespielt hast.“ Er nickte jedesmal kurz und lächelte. Aber in seinem Inneren war er mit der Antwort niemals zufrieden gewesen, glaube ich. Ich auch nicht.
Ich sah keine Frühlingswiese, ich sah keine gelben Blumen. Was ich sah waren gelbe vergammelte Tapeten, ein Haufen vergilbter unbezahlter Rechnungen und ein Blinder verwahrloster Mann. Nur noch ein Schatten seiner selbst.
„Abraham... es ist wieder Zeit für deine Medikamente.“, ich setzte mich neben ihn und legte meinen Arm um seine Schulter. Sein gekrümmter Körper zitterte unter meiner Hand. Plötzlich schnaubte er: „Es GIBT aber keine Medikamente für meine Krankheit.“
„Du weißt doch ganz genau wofür das Zeug gut ist,...der Arzt hat es dir schon so oft erklärt.“, jedesmal musste ich ihn aufs neue überreden, anflehen doch bitte seine Spritze zu nehmen, ihn anlügen. Abraham sagten wir, es wären Vitamin und Mineralpräperate, die dazu führen könnten bei längerer Anwendung seine Sehkraft wieder herzustellen. Aber er hatte Recht. Natürlich konnten Vitamine verschmohrte Sehnerven nicht wieder herstellen. Es gab wirklich keine Medizin für ihn.
Was er bekam waren Beruhigungsmittel. Seit seiner Erblindung war Abraham einfach nicht mehr zu kontrollieren. Er hatte einen großen Teil seiner selbst zusammen mit seinem Augenlicht verloren und ständig wurde er deshalb wütend, ständig tobte er, oft fing er an zu weinen. Häufig tat er sich dabei selbst weh und vor kurzem auch mir. Mit Medizin wurde das ganze besser, glaube ich. Er war ruhiger, spielte mehr an seiner Gitarre.
Schnell drückte ich die Spritze in seine Vene, er zeigte keine Reaktion mehr. Kein Wort, kein zurückziehen des Armes. Seine dunkelroten Adern schimmerten bereits vernarbt durch seine bleiche Haut. Sein ehemals sattes schwarzes Haar war fast völlig ergraut und hing lasch in sein müdes Gesicht. Seine Lippen waren blass, der Bart auf seinen hochstehenden Wangen unrasiert. Selbst gab er sich keine Mühe mehr um sein Aussehen. Wenn ich wollte, dass er rasiert aussah, dann musste ich ihn eben rasieren. Regelmäßig legte ich ihn in die Badewanne und legte ihm frische Wäsche bereit.
„So kann es nicht weitergehen Abraham“, der erneute Anblick dieses müden, gebrochenen Mannes ließ meine Verzweiflung aus mir herausprudeln. Aufgeregt sprang ich auf und lief durch den Raum. Noch während ich die Worte aussprach, fing ich an einen Papierstapel zu sortieren um ihn nur kurze Zeit später, ein wenig besser sortiert jedenfalls, an die gleiche Stelle zurück zulegen. Abraham starrte einfach weiter regungslos in den leeren Raum hinein.
„Was meinst du?“, ertönte seine Stimme kraftlos. Er schluckte schwer.
„Was meine ich wohl... Ich meine es kann so nicht mehr mit DIR weitergehen.
Ich meine... sehen wir's ein. Du bist blind. Okay. Du warst früher Maler. Auch ein Punkt für dich. Aber Herr Gott, das ganze ist jetzt über zwei Jahre her. Langsam solltest du dich gefangen haben. Du bist kein Hendrix auf der Gitarre und du wirst kein Picasso mehr werden, aber du kannst wie andere Blinde immernoch ein geregeltes Leben führen. Du hast das Haus nicht einmal verlassen, seitdem wir hier einziehen mussten!“
„Du täuscht... das habe ich!“
„Wann denn?“
„Nun, als du nicht da warst... Letzte Woche,... beispielsweise.“
„Ach, und wo bist du dann hingegangen, bitte schön?“
Mit gesenktem Kopf und knirschenden Zähnen griff er wieder nach seiner Gitarre.
„Antworte mir gefälligst, Abraham. Wo bist du hingegangen?“
„Nirgendwo hin... du hast Recht.“, er musste die Worte zwischen seine Lippen durchzwingen, ehe er wimmernd anfing über die Saiten zu streifen. Mal wieder.
Ich wusste nicht ob mich diese Antwort glücklich hätte machen sollen, ...aber ich war zufrieden. Er hatte mir nicht widersprochen, auch wenn ich mir jetzt manchmal wünsche er hätte es getan.
Wieder griff Abraham die selben Akkorde. Wieder das selbe Lied.
Ich versuchte es zu ignorieren und beschäftigte mich weiterhin damit den Raum etwas aufzuräumen. Damals musste ich das noch jeden Tag tun. Jeden Tag aufs Neue durchwühlte er ziellos irgendwelche Schubladen, Schränke und Regale. Jeden Tag machte er Unordnung nur um dann sämtliche Schuld von sich zu weisen. Würde ich alles da lassen, wo er es hingetan hatte , müsste er es nicht jedesmal wieder suchen, behauptete er gerne. Überhaupt wurde er sehr wütend, wenn ich seine Sachen verräumte oder es wagte irgendetwas aus einer seiner zahllosen Schubladen zu holen.
„Ich hab ihn.“, murrte er kurz auf. „Ich hab ihn gefunden.“
Mein Blick wanderte rüber zu ihm. Er saß auf seinem Bett, immernoch mit verschlossenen Augen, immernoch mit der Gitarre auf seinem Schoß.
„Lange wollte ich es wohl nicht sehen. Aber es lag doch auf der Hand... ha... das Lied kann auch so enden.“
Ich wusste nicht genau, was er damit sagen wollte. Ich hatte zwar gehört was er nebenbei gespielt hatte, aber ich denke selbst wenn ich dem Ganzen etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wüsste ich nicht wo die Besonderheit bei genau DIESEM Schluß nun hätte sein sollen,- im Gegensatz zu den anderen, die er mir immer wieder aufs neue präsentiert hatte.
Ich fragte ihn auch nicht weiter. Nicht weil es mich nicht interessiert hätte, sondern weil er meine Frage erwartet hatte. Er wollte antworten, ich wusste es. Lange genug kannte ich ihn, lange genug um ihm diesen Wunsch nicht zu erfüllen.
„Weißt du... zu lange hatte ich mich versteift. Auf nur eine Art das Lied zu beenden. Lange musste ich suchen um das zu finden was ich sehen wollte. Aber ich hab falsch gesucht... Manchmal kommt es eben anders... Manchmal ist es einfach besser auf seine Gefühle zu hören, nicht auf seinen Kopf. Es ist einfach besser so, manchmal. Glaube ich.“
Unbeeindruckt ging ich dazu über das Geschirr zu spülen, es war nicht sein erster theatralischer Monolog. Nicht diese Woche, nichteinmal heute.
„Hast du es gesehen?“, fragte er – jetzt mit einem leicht hysterischen Unterton.
Ich konnte einfach nicht mehr.
„Nein Abraham, ich habe es nicht gesehen. Ich werde es nie sehen – und weißt du was?
DU wirst es auch nie sehen. Was willst du eigentlich von mir? Seit drei Jahren sind wir verheiratet. Seit zweieinhalb tue ich ALLES für dich. Aber weißt du was? Es reicht mir. Ich habe jede Sekunde meiner Zeit geopfert nur um es dir angenehm zu machen – und was krieg ich von dir dafür?“
„Ich widme dir dieses Lied.“, hilflos und kindlich seufzte er.
„Ja natürlich... Spott, Hohn und Respektlosigkeit. DAS kriege ich von dir und sonst garnichts!“
„..und ein Lied...“. Ich wusste nicht, was er mir damit sagen wollte, und es war mir völlig egal.
„Hör zu Abraham. ICH war es nicht, die dich geblendet hat. Das war und ist immernoch deine Schuld. Ganz alleine!“ Wutentbrannt lief ich in das Schlafzimmer. Das „gemeinsame“ Schlafzimmer, aus welchem ich ihm sein Bett heraus tragen musste, damit er es in die Sonne stellen konnte. Ich riss sämtliche Kleider von den Bügeln und stopfte sie in meine Tasche ohne groß zu überlegen, welche davon ich wirklich brauchen würde, die nächsten Tage... Wochen... oder wie lange ich auch wegbleiben würde, ehe ich wieder herkäme. Zumindest um meine Sachen abzuholen. Wieder im Raum war es völlig still.
Ich stand an der Tür. Zu lange waren wir zusammen, zu lange und zu sehr hatte ich ihn geliebt, um ohne Abschied zu gehen. Ich war es ihm schuldig.
„Abraham? Du weißt was jetzt kommt. Kommen muss...“
Er stand vor dem Fenster. Die Sonne erhellte das Zimmer immernoch, nun allerdings in einem fahlroten Ton, deutlich schwächer als noch Minuten zuvor.
Ich würde ihm jemanden vorbei schicken, der sich um ihn kümmert. Das hatte ich immer vor. Ich wollte ihn nicht allein zurücklassen. Vielleicht wäre ich auch wieder gekommen, wenn ich ein wenig Zeit zum nachdenken gehabt hätte.
„Ja“, antwortete er mit zittriger Stimme. Er tastete sich vorsichtig zu seinem Nachttisch. „Willst du denn garnicht wissen, wie das Lied jetzt endet? Wirklich nicht?“
„Nein Abraham... aber ich weiß, dass du es mir sagen willst. Diesen letzten Gefallen tu ich dir noch.“
„Auf Moll, Jane. Es endet auf Moll.“, ich glaubte ein schluchzen zu hören. Er stand mit einer Hand an die Wand gelehnt da, vor ihm der Nachttisch. Sein Kopf auf den Boden in der Ecke gerichtet.
„ Du hast deine ganze Zeit für mich geopfert. Ich konnte dir nur das geben, was ich hatte.“, fuhr er leise fort. „Dieses Lied... dieses Lied warst du für mich. Ich habe alles getan, um dir ein letztes Bild zu schenken. Ich wollte, dass es perfekt für dich ist. Ich wollte dir die Wiese mit den gelben Blumen malen, auf der wir früher gespielt haben... Aber nun denn... Mach's gut.“ Ich war völlig sprachlos und immernoch so starrköpfig. „Grüß deine Eltern schön von mir, auch wenn ich daran zweifle, dass sie noch was von mir hören wollen.“
Nichts fiel mir so schwer, wie meine Trauer in diesem Augenblick herunter zu schlucken. Ruckartig schloss ich die Tür hinter mir. Einen Augenblick verharrte ich noch draußen. Ich wusste nicht was kommen sollte, was kommen würde und was ich weiterhin tun sollte. Einmal atmete ich noch tief ein, ehe meine Hand den Griff meiner Tasche umschloß und ich den ersten Schritt den dunklen Gang entlang machte.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als ein lauter Knall zu hören war. Er kam direkt aus der Tür hinter mir, aus unserer Wohnung. Ich war verwirrt, ich wusste ja nicht genau was es war. Schließlich hatte ich nie vorher das Geräusch gehört, dass ein Revolver machte, wenn er abgefeuert wurde. Schnell ging ich weiter, ich wischte mir einige Tränen aus dem Gesicht – und noch ehe ich in den ersten Bus vor der Tür einstieg, wurde mir klar: Er hatte Recht gehabt. Er hatte nicht gelogen. Er hatte das Haus schon einmal alleine verlassen.