Leben in der Schwebe
Leben war wie … Schweben.
Schweben in einem Raum ohne Luft, ohne Zeitgefühl, ohne Licht. In einem Raum, der nicht einmal mehr ein solcher zu sein schien.
Leben in einer Welt ohne Hoffnung, ohne Boden, ohne Haltegriff. In einer Welt, die nicht einmal mehr eine solche zu sein schien.
Alles, was ihm als Haltegriff diente, war die Zigarette in seinen Händen, das Nikotin in seinem Blut. Doch es war wie im Leben. Der Haltegriff zerbröselte zu Asche. Er drückte die Zigarette aus und starrte in den Kaffee, der durch seine unbewussten Rührbewegungen eine rhythmische Strömung entwickelt hatte. Alles strömte. Und das meiste strömte von ihm weg. Schnell nahm er einen Schluck.
»Verdammt noch mal! Warum … warum hast du nur …? Ich weiß nicht, … Hilf mir! Sag etwas!«
»Es tut mir leid.«
»Aber du willst noch ›aber‹ sagen, richtig? Richtig?«
»Ich … Ja, ich wollte aber sagen.«
»Dann … Ich weiß nicht, was ich tun soll, außer diach anzuhören.«
»Danke.«
Er hatte ganz einfach vergessen zu bezahlen. Das wusste er jetzt. Er hatte vergessen für ihre Liebe zu bezahlen. Er hatte sie nicht gewürdigt, diese Ehre. Denn das war es gewesen: eine Ehre.
Jetzt saß er hier, starrte in den Kaffee und versuchte verzweifelt, in dem Schwebezustand zu bleiben. Er wollte nichts von der Welt dort draußen hören, nichts sehen und die Zeit vergessen. Vielleicht vergaß die Zeit dann auch ihn, ließ ihn hier zurück. So wie sie ihn zurückgelassen hatte.
»Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst. Ich möchte nur, dass du Bescheid weißt.«
»Okay.«
»Lass mich bitte ein paar Minuten einfach reden, ja?«
»Okay.«
Sie hatte schon immer in sehr blumigen Worten gesprochen. Das war etwas gewesen, was er sehr an ihr geschätzt hatte. Jetzt hustete er heftig und zündete sich eine weitere Zigarette an. Die Leere tat gut. Das Schweben tat gut. Ohne äußere Einflüsse musste er nicht so viel nachdenken. Hätte er die Augen wirklich geöffnet, hätte er wirklich hingehört, dann hätte er Sachen wahrgenommen, die ihm den Boden unter den Füßen wirklich entrissen hätten. Da hätte auch das Nikotin nichts geholfen, welches schon wieder unter dem Glimmen des Feuers schwand.
Das Feuer der Leidenschaft. Dem war sie verfallen. Und in dem hatte sie ihn stehen lassen. Und die Flammen schmerzten unsäglich, schmerzten sosehr, dass nicht einmal die Leere sie gänzlich ausblenden konnte. Wieder schüttelte ihn ein Hustenkrampf und er nahm einen tiefen Zug.
»Es ist … nicht mehr wie früher gewesen. Nicht mehr wie noch vor zwei Jahren. Nicht das ich es seit zwei Jahren merke, versteh mich bitte nicht falsch. Es ist nur … Es hat sich weggeschlichen, dieses Gefühl. Ganz langsam, verstehst du? So langsam, dass ich es erst gemerkt habe, als es schon fast außer Sichtweite war. Ich war … machtlos. Streng genommen habe ich mich noch nie so machtlos gefühlt wie in dem Moment, als ich sah, wie es am Horizont verschwand. Und dann war es nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passiert.«
Zeit war irrelevant. Zumindest in seiner Leere. Er brauchte keine Zeit, er hatte sie ohnehin noch nie gemocht. Dieses bestialische Ticken, welches einen immer wieder daran erinnerte, dass die eigene Zeit verrann. Immer wieder rief es einem ins Gedächtnis, was kommen würde, weil man hörte, wie die verbleibende Zeit verschwand. Aber wohin verschwand sie eigentlich? Gab es nur eine einzige Sekunde, die sich immer wiederholte? Aber nein, das war Schwachsinn. Jede Sekunde war anders. Und manchmal passieren in einer Sekunde Sachen, die ein gesamtes Leben ändern.
»Es kam plötzlich über mich. Von einer Sekunde auf die andere. Verstehst du? Aber nein, wie könntest du verstehen? Du trägst das Gefühl noch bei dir, dir ist es nicht weggeschlichen. Du hast es in deinem Herzen und es dort verankert, sodass es nicht forttreiben kann, ich weiß das. Aber bei mir ist genau das passiert. Vielleicht war mein Anker rostig, vielleicht war es auch die Strömung, die den Anker gelöst hat. Und wahrscheinlich war es auch die Strömung, die mich … dazu getrieben hat. Es war ein und die selbe Strömung.«
Er hörte auf zu rühren. Der Kaffee war inzwischen nahezu erkaltet, dennoch leerte er die Tasse und stellte sie scheppernd ab. Es war wirklich seltsam. Die Sicht veränderte sich. Die Sicht auf die Dinge, auf die Menschen und auf ihre Taten. Durch die Leere hindurch betrachtet sah das Leben anders aus. Aber er wollte ja gar nichts betrachten. Eilig nahm er den letzten Zug aus der Zigarette und bohrte sie zu den anderen in den Ascher. Es war ein Haufen nutzloser Dinge, der sich darin befand, ähnlich wie in seinem Herzen. Dort, wo sich ein einzelner Anker verzweifelt gegen den Strom der Realität stemmte, wie als habe er ein eigenes Bewusstsein, welches verhindern wollte, dass der Anker in Richtung Horizont verschwand.
»Es fing mit einer Unterhaltung an. So wie es immer anfängt. Smaltalk eben. Und dann, irgendwann … kamen wir uns näher und … Ach verdammt, ich kann es nicht. Du weißt es ohnehin und es tut mir leid.«
»Aber?«
»Die Strömung …«
»Verstehe.«
»Nein, ich glaube nicht. Du weißt nur zu gut, dass meine Worte stets recht blumig waren. Aber du musst es auch nicht verstehen … Noch nicht. Ich hoffe nur, dass du irgendwann verstehst.«
»Okay.«
»Darf’s noch nen Kaffee sein?«
Durch die Leere hindurch sah die Bedienung verschwommen aus. Doch möglicherweise lag das auch an den Tränen in seinen Augen. Oder an dem Zigarettenrauch, der ihm in die Augen gestiegen war, weil er seit einem Jahrzehnt nicht mehr geraucht hatte. Langsam schüttelte er den Kopf und die Bedienung ging. Doch dadurch, dass er sich auf sie konzentriert hatte, hatte sie ein Loch in seine Leere gerissen. Durch das strömten nun Einflüsse hinein, die ihn völlig aus der Fassung brachten. Wieder drehte sich alles. Die Strömung wurde stärker, angetrieben von dem, was er sah und hörte. Schnell griff er sich das Päckchen Zigaretten. Er stand auf und eilte aus dem Lokal, die Bedienung schreiend hinter ihm her, weil er vergessen hatte, zu bezahlen.