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Leben um Haaresbreite
Als Lennard Meyer an diesem Morgen seinen Kaffee trank, flogen seine Augen über die Rückseite der Tageszeitung. Sie blieben an seinem Horoskop haften und er runzelte die Stirn. „Lernen sie Leben! Warum soll es immer ein einschneidendes Erlebnis geben um ihnen das beizubringen?“, ließ eine Madame Grinour verlauten. ‚Laut Melanie typisch für Zwillinge’, dachte Lennard. ‚Leben lernen, quatsch, ich lebe mit allen Sinnen, ich sage doch Horoskope sind Schwachsinn.’
Eine Stimme in seinem Kopf verlangte nun nicht an Sandra und ihre tollen Beine zu denken, doch erst der Ruf seiner Frau ließ ihn aus seinem Tagtraum erwachen.
„Ich verschwinde. Soll ich dir wieder die große Packung Milchschnitten mitbringen? Naja wie auch immer, bis heute Abend!“, rief sie und hetzte zur Tür.
„Jaja...“, seufzte Lennard gedankenverloren Sekunden nachdem er das Öffnen des Garagentors vernahm, sah auf die Uhr, faltete raschelnd und ungeduldig die Zeitung zusammen und stellte seine Kaffeetasse in den Abwasch.
Nach über einer Stunde saß er an seinem Schreibtisch.
Kurz nach 18 Uhr kam dann Sandra. „Machst du Schluss?“, hauchte sie ihm entgegen und ihr verführerischer Mund wurde zu einem verschmitzten Lächeln.
„Ja, aber ich…“, begann Lennard, doch da hatte sie schon die Tür verschlossen und saß nun auf seinem Schoß.
„Wir könnten doch zu mir fahren und dann“, zärtlich streichelte sie an seinem stoppligem Kinn entlang und er spürte wie ihre Nägel zart über seine Haut strichen, „na du weißt schon…“.
Sie richtete sich auf seinem Schoß und gab ihm deutlich zu spüren auf was sie aus war. Er liebte diese Abende, wenn er seiner Frau erzählte, es würde länger dauern und dann eine Runde um das Dorf fuhr damit seine Scheinwerfer ihn durch das Wohnzimmerfenster hindurch ankündigten.
Als er Sandras Tür zuzog gähnte er und blickte durch seine glasigen Augen auf die Uhr. Kurz nach neun, nun aber nach Haus. Es war Herbst und so tauchte er in eine tiefe Dunkelheit ein als er aus dem Wohnblock am Rande der Stadt trat. Eine Laterne leuchtete seitlich auf sein Autodach, er blickte sich um und trabte auf den Citroén zu. Hier wohnte niemand den er kannte, aber die Bekannten seiner Frau vielleicht… ‚Unsinn’, ermahnte er sich nicht von Ehekrachsszenarien zu träumen, denn eigentlich liebte er seine Betty, nur liebte er nun mal auch sich selbst und so brauchte er irgendwann wieder mehr Bestätigung, wie er sich jedoch gern eingestand. Außerdem war das für einen Mann in seinem Alter die perfekte Ausrede. Wieder ein Tagtraum. Am Auto angekommen knipste er die kleine Lampe am Dach an und sah in den Spiegel. Er strich durch sein Haar und rieb sich die Augen, die müde blinzelten. „Die 60 Minuten schaff ich auch noch.“, flüsterte er sich selbst Mut zu und zündete den getunten Motor.
Es war ein weiter Weg vom Stadtrand durch Allee, die dunklen Kiefernwälder, dann auch noch durch die ewig langen Straßendörfer und wieder und wieder Wälder, in denen seine Frau im Sommer gern nach Pilzen suchte.
Die Straße vor ihm wurde immer schwärzer und schwärzer als er endgültig aus der Stadt fuhr und sein Wagen die Allee durchquerte. Geschwindigkeitsbegrenzung, gerade Strecke, keine Laternen. Lennard gähnte erneut. Sein Hals machte ein merkwürdig glucksendes Geräusch und er schluckte. Nach ein paar Kilometern machte er das Radio an und erhöhte die Lautstärke. Seine Augen wurden immer kleiner und er brauchte eine schier unmenschliche Kraft sie aufzuhalten. Schon öffnete sich sein Mund noch einmal und während er ausatmete sang er das Lied im Radio mit. Es fiel Lennard schwer, sich auf die Straße zu konzentrieren, seine Gedanken waren bei seinem Haus. Das Schlafzimmer musste noch renoviert werfen, vielleicht rote Wände, oder blau?! Nein rot, ein dunkles rot wäre toll!
Er schüttelte sich als würden die Gedanken aus seinen Ohren direkt in Auto fallen und verkrampfte die Hände um sein Lenkrad. ‚Wollten wir nicht am Wochenende einkaufen fahren, um für die Kleine ein Kleidchen für ihre Einschulung zu kaufen? Meine kleine Prinzessin…’, geisterte es durch seinen Kopf und er stütze diesen resignierend auf seinen Arm, der zwischen Scheibe und Türleiste verkeilt war.
Das Scheinwerferlicht wurde mitten auf der Straße durch eine schwarze Gestalt gebrochen. Lennard riss ruckartig das Lenkgrad herum und sein Auto schwenkte stark nach links. Die Reifen quietschen. Als er die Fahrt wieder ausgleichen wollte wurde sein Körper so heftig nach links gedrückt, dass sein Ellenbogen gegen den Türgriff prallte. Lennard musste das Gesicht verziehen während er heftig bremste. Er war schlagartig hellwach. Seine Schläfen pulsierten. Er hörte trotz Musik sein Herz schlagen und seine Kehle war so trocken durch das nervöse Hecheln, dass er Husten musste. Die Tachonadel signalisierte baldigen Stillstand. Lennard setzte sich gerade auf, blickte in den Rückspiegel um zu sehen, was um alles in der Welt… Plötzlich richteten sich seine Nackenhaare steil auf. Diese Person, die ihn zu dieser schier lebensgefährlichen Situation zwang, war verschwunden. Noch in den Rückspiegel starrend verriegelte er die Türen. Sein Kopf blieb in Position während deine Augen in den Winkel wanderten. Lennard hielt die Luft an. Er lauschte auf jedes kleinste Geräusch. Der Wind rauschte durch die wenigen Blätter der alten Eichen, sein Herz pochte immer noch wie wild und als er nichts weiter vernahm, schloss er kurz die Augen und begann wieder leise zu atmen. Als er sie öffnete erwartete er eigentlich, dass jemand mit einer Axt in der Hand und blutroten Augen erst mitten in seine Augen sah und sich dann durch die Scheibe zu ihm vorarbeitete.
Seine Befürchtungen wurden nicht erfüllt. Leise Angst kroch trotz allem immer weiter in ihm nach oben und so gab Lennard endlich Vollgas. ‚Falls etwas sich auf meinem Dach befände, es würde…’
Als er erneut in den Rückspiegel blickte, tauchte aus dem Rauch über dem Asphalt hinter ihm eine pferdegroße Hirschkuh mit Jungem auf. Er rieb sich mit einem Finger sein Auge, blinzelte in den Rückspiegel und erschrak erneut. Das Scheinwerferlicht eines anderen Autos blendete ihn durch die Frontscheibe hindurch. Er musste sich sofort wieder nach vorn konzentrieren. Lennard verlangsamte seinen Wagen und als der Gegenverkehr vorüber war hielt er erneut an.
„Ich sehe Dinge die gar nicht da sind. Dieser Mensch war nur in meinem Gedanken existent“, ermahnte er sich und atmete durch. Doch in seinen Gedanken wandelte der schwarze Hühne um das Auto herum, lauernd, dass Lennard endlich die Türen öffnete. ‚Große schwarze Gestalt, eine Art Zepter in der Hand, dünne knochige Finger, und sonst nur diese schwarze Kutte, kein Haar, nur die Kapuze, er war verrückt, das sage ich ihnen.’, ging er ein imaginäres Polizeiverhör in durch.
Sein Herz pochte immer noch schnell. Als sich die Aufregung gelegt hatte konnte Lennard wieder an etwas anderes denken. Er würde gut nach Hause kommen und Sandra am nächsten Tag einfach sagen, dass er in Zukunft darauf verzichten würde, solang bei ihr zu sein. Vielleicht könnten sie sich ab und an ein Hotelzimmer nehmen dort wo sie arbeiteten, das wäre praktischer und ließe sich doch auch bezahlen wenn…
Als er früher im Außendienst tätig war und manchmal noch müde vom Feiern war hielt er oft am Rand um für ein paar Minuten zu ruhen. Doch das war nicht möglich, er musste ja zu seiner Familie, war sollte er Betty erzählen, sie würde ihn holen wollen, doch diese Straße lag ja nicht einmal auf dem Weg zu seiner Arbeit! Wenn er nun einen Unfall gebaut hätte, was würde sie denken und überhaupt… ‚Ich schaffe das, ich komme nach Hause, keine Panik, ich werde keinen Unfall bauen, ich bin wach…’, rotierten Lennards Gedanken. Kuppeln, Gas und los.
Hinter der Kurve durch die er seinen C5 gelenkt hatte tauchte ein schwarzer Schatten auf. Wieder eine Gestalt, schwarz wie die Nacht, mit Rücken zu ihm. Lennard sah sich in Zeitlupe das Lenkrad herumreißen, seine Haut auf den Händen bis zum zerreißen gespannt, seine Augen so weit aufgerissen, dass sie an Stränge an denen sie hingen, zerrten. Fast hätte der ausgestreckte Arm des schwarzen Mannes die rechte Seite seines Dachs gestrichen dachte Lennard noch als er nach vorn sah und erst jetzt bemerkte, dass ihm nichts entgegen kam. Aufatmen. Doch wieder war sein Puls auf 180, noch einmal bremste er stark und sah in den Rückspiegel. Etwas krachte laut auf sein Auto. Lennards Kopf zuckte und seine Arme schossen reflexartig nach oben um seinen Kopf zu schützen. ‚Sie sitzen auf meinem Auto, hier spielt mir jemand einen Streich, sie klauen mein Auto, sie werden mich töten, vielleicht Sandras Freund oder Betty oder…’
„Lasst mich in Ruhe!“ schrie er. Seine Fäusten schlugen gegen das Lenkrad. In jeder Ecke seines Wagens sah er entsetzliche Schatten. Lennard blickte nach links. Sein Atem stockte. Wie dunkel war dieser Wald, wie tief, wie er bebte, oh Gott. Er schluckte und fühlte sich wie gelähmt.
Lennard stöhnte. er presste angespannt die Beine zusammen. Sie zitterten so stark dass er diesmal nicht wieder so schnell Gasgeben könne. Er würde Abwürgen. Ganz sicher würde er.
„Oh Gott, oh Gott“, stöhnte er und sah in den Rückspiegel. Als er die Bremse trat um in dem roten Licht mehr zu sehen krampften sich seine Eingeweide zusammen. Dort stand niemand. Die Straße war leer, dort war nichts, bis auf einen riesigen Ast dessen Ausläufer sich gegen sein Heck drückten. Das konnte doch nicht sein. Lag jemand unter dem Ast begraben? Er war doch jemandem ausgewichen?! Und dieses Poltern als er zum Stillstand kam, dieser Ast hätte ihn doch getroffen oder, oder nicht!? Er war doch herum gefahren um… „Oh bitte, vergib mir!“, heulte er auf.
Lennard drehte sich um und betrachtete den Ast der gegen seine Scheibe drückte. Er legte den ersten Gang ein und fuhr nach vorn. Mit lautem Schaben ging der Ast zu Boden. Er war riesig. Seine trockenen Blätter raschelten im Wind. Lennard konnte nun eine helle Stelle auf der Seite dieses riesigen Teils erkennen. Eine Bruchstelle. Der Ast hatte dort doch nicht gelegen? Nein, wie denn, er war ja ausgewichen und erst dann fiel etwas auf seinen… Er war ausgewichen weil dieser gottverdammte Typ es ihm so gezeigt hatte, weil er im Weg stand, fast hätte doch dessen Hand das Dach…
’Bestimmt ein Besoffener, ja, oder ein Landstreicher, ein Wanderer, eine Frau, oder eine Nonne, sicher hat sie sich auch erschreckt.
‚Es ist ja keiner gestorben, ganz ruhig Lennard, alter Junge, ganz ruhig! Es ist niemand zu Schaden gekommen, weder außerhalb des Autos noch…’, er brach seine Gedankenkette ab und schnaufte durch.
Lennard schaltete, gönnte seinem Motor nach vielen Sekunden nun endlich wieder eine Auszeit und beschleunigte. Bloß nach Hause. Noch dreißig Kilometer. Dreißig Kilometer.
‚Vielleicht träume ich?’ Lennard packte sich in den Oberschenkel. Dieser schmerzte, er würde morgen wieder Muskelkater bekommen.
‚Scheiß jungen Dinger!’, dachte er und sofort zogen seine Schultern sich wieder in Richtung Kopf und ihm schauderte. Kein schöner Traum. Tagträume, viele, weil er müde war, weil er fast schlief am Steuer weil er eine Bedrohung war. Würde ein echter Mensch dort am Straßenrand stehen, würde er wirklich ausweichen können? Ein echter, wenn ihn sein Gehirn nicht lange genug vorbereiten könnte auf eine Einbildung?! Ein echter Mensch und was wenn dieser dann…
„Das war nicht echt, alles nur Einbildung, ein doofer Zufall, ich hatte Glück wegen dem Ast, pures Glück!“, sprach Lennard ins Dunkel und lachte heiser. Er übertönte das Radio, welches ihn eigentlich davon abhalten sollte, einzuschlafen. Beschämt und erschrocken sah er sich um.
Er sehnte sich nach seiner Frau. Wenn er nach Hause kommen würde, würde er rauf gehen ins Kinderzimmer und seinem ‚Baby’ die Stirn küssen. Anschließend würde er sich zu Betty auf die Couch kuscheln, ihre Hand halten und ihr erzählen, was er erlebt hatte. Er würde sagen es passierte auf der gewohnten Strecke. Doch dort gab es keine so riesigen Bäume. Wie würde er ihr den Schaden erklären? Verdammt!
Lennard biss in seine Faust bis Blut an seinen Knöcheln herunter rinn. Wieder waren seine Augen gläsern. Wollte er wegen Sandra alles aufgeben? Was hatte er sich gedacht um Himmels Willen? Zwei Mal die Woche ließ er seine Familie sitzen, heulte über unbezahlte Überstunden, kämpfte gegen sein Gewissen, kämpfte gegen seine Müdigkeit und fuhr über Straßen, die einem Wildpark glichen nur um eine Mittzwanzigerin zu vögeln?!
Lennard seufzte entsetzt. Er fühlte sich elend, seine Därme pulsierten und ihm war schlecht. Als er endlich zu Weinen beginnen konnte, leerte sich sein Kopf. Jedes Schuldgefühl, jeder Gedanke an Verrat, jedes Verdrängen wich, eingeschlossen in Tränen, seinen Gedanken. Er dachte an seine Familie, an ihr Haus, an die Träume und an die Ziele und schluchzte erneut laut auf.
„Gott wie ich euch liebe“, wimmerte er leise immer wieder und fuhr langsamer und ein wenig beruhigter.
Er wollte in diesem Moment alles rückgängig machen doch als seine Scheinwerfer das Ortseingangsschild erhellten schluckte er, schnäuzte kurz und konzentrierte sich auf die Pfeiler, welche seine Einfahrt markierten.
Er betätigte zweimal den Griff und die Autotür öffnete sich. Er erinnerte sich an die Horrorfahrt, sprang schnell aus dem Auto und drehte sich um. Sein erster Blick ging auf das Dach. Dort war nichts. Er betrachtete den Schaden auf seinem Heck. Ein paar üble Kratzer. Doch wäre der Ast auf seine Frontscheibe… Lennard schluckte und wollte sich dem Garagentor zuwenden, doch zuerst trat er auf die Straße und blickte ins Dorf. Alles war ruhig. Keine Seele dort. Er atmete beruhigt aus. Als er sich drehte um zum Haus zu gehen, bemerkte er in seinem Augenwinkel eine Bewegung. Er blinzelte und konzentrierte seinen Blick auf die Straße. In weiter Ferne erkannte er etwas.
Dort war wirklich etwas! Ein Schatten, etwas großes, ein Mensch, eine Gestalt in einer schwarzen Kutte und diesmal sah er nicht ihren Rücken, er erkannte ihr Gesicht: Weiß und die schwarzen Augen und etwas in ihrer Hand, etwas Großes. Als sich die Gestalt umkehrte blinkte über ihrem Kopf das Metall der Sense auf und der lange Umhang wurde zu einem Schatten, den der Wind davontrug.
„Fast hätte dessen Hand das Dach…“, stotterte Lennard und begann leise zu wimmern während er sich gegen sein Auto lehnte und darüber nachdachte wie er ab morgen eins lernen könnte: Sein zweites Leben leben zu lernen.