Leben und leben lassen
Ich kann nicht schreiben.
Im orthografischen Sinn natürlich schon. Ich kenne sämtliche Buchstaben des deutschen Alphabets und dazu sogar einige des russischen. Ich kann Sätze sinnvoll aneinander reihen und ich hatte auch immer sehr gute Noten in der Schule.
Ich meine, richtig schreiben, mit literarischem Hintergrund und einer Ahnung davon, auf was es beim Verfassen von Texten ankommt.
Ich tue es trotzdem. Das ist schon immer so gewesen und betrifft jeden Bereich meines Lebens. Dass ich etwas nicht kann oder nicht gelernt habe, hindert mich nicht daran, es zu tun. Bisher bin ich damit ganz gut gefahren. Ich bin erfolgreich in meinem Job, ich bin zufrieden mit dem was ich mache und glücklich mit den meisten Entscheidungen meines Lebens. Und doch kommen ab und zu Fragen hoch: "Was denken andere über mich? Kann es sein, dass ich manches falsch mache, weil ich zu wenig über das Thema weiß? Und wenn ja - möchte ich darauf hingewiesen werden? Ab wann wird Hilfsbereitschaft zur Besserwisserei?"
Meine Freundin Natascha hat sich vor vielen Jahren einen Hund zugelegt. Es war ihr erster, ein kleiner Rauhaardackel mit dem niedlichen Namen "Mr. James". Mr. James wurde von seinem ersten Besitzer ausgesetzt und lebte 4 Monate im Tierheim, bevor Natascha ihn adoptierte. Sie war vom ersten Tag an verliebt in ihn und war sich sicher, sie beide würden zusammen glücklich werden.
Natürlich erzählte sie ihren Freunden von Mr. James. Einige dieser Freunde - die unter anderem auch meine Freunde sind - waren damals selbst schon stolze Hundebesitzer. Hundemenschen können speziell sein. Das ist nicht unbedingt negativ gemeint. Sie lieben ihre Hunde und überhaupt alle Hunde auf der ganzen Welt, und meistens haben sie auch sehr viel Ahnung davon was es heißt, einen Hund zu haben. Sie kennen sich aus mit dem richtigen Futter für jeden Felltyp, wissen ganz genau, welches Spielzeug ergonomisch optimal für die Hundeschnauze geeignet ist und können zu sämtlichen Tierärzten der Stadt eine umfangreichere Bewertung abgeben als Google. Dementsprechend reagieren sie eher kritisch auf die Ankündigung "Ich habe mir einen Hund gekauft!" von Menschen, die bisher nicht zu ihrem Kreis gehörten.
Das musste auch Natascha erfahren. In den ersten Tagen, in denen Mr. James bei ihr lebte, bekam sie mehr Anrufe, Whatsapp-Nachrichten und Besuche als überhaupt jemals zuvor. Leider waren nicht alle dieser Kontakte besonders erfreulich. So erfuhr sie, dass sie die falsche Leine für ihren Dackel gekauft hatte - und überhaupt, wer führte denn kleine Hunde an einem Halsband umher? Da konnte man sie ja gleich an die Würgekette legen. Auch ihre Art, Mr. James zu erziehen, schien die denkbar schlimmste zu sein. Schließlich müsse sie sowohl Rücksicht auf seine Rasse als auch auf seine äußerst traumatische Lebenserfahrung nehmen.
Von Tag zu Tag begann sie, sich und ihren Umgang mit ihrem Hund mehr zu hinterfragen, und kam schließlich zu dem Schluss, Mr. James habe mehr verdient als eine naive junge Frau, die sich nicht genügend auf ihn vorbereitet hatte. Sie gab eine Online-Anzeige auf und Mr. James fand ein neues Zuhause bei einer Frau aus einer anderen Stadt. Natascha hörte nie wieder von ihm.
Mir tut Natascha bis heute leid. Ihre Freunde - die größtenteils immer noch ihre Freunde und auch meine sind - haben es wahrscheinlich nur gut gemeint. Sie wussten damals mehr über Hunde als Natascha, wahrscheinlich wussten sie auch manches besser. Und in ihrem Wunsch, dem Hund zu helfen, übersahen sie, dass auch ihre Freundin Hilfe gebraucht hätte. Nicht auf die Art, wie man jemandem beim Umzug hilft oder einem alten Mensch beim Einsteigen in die Straßenbahn. Sondern emotional und unterstützend, so wie Freunde sich eben helfen sollten. Auch wenn sie anderer Meinung sind.
Natascha hat wieder einen Hund. Ihre Nachbarin musste ins Heim und bestand darauf, dass ihr Mischling Tessy bei Natascha bleiben sollte. Die beiden kommen sehr gut miteinander aus, die Nachbarin ist glücklich und Natascha hört sich die Ratschläge ihrer Freunde an und befolgt sie - oder eben nicht.
Am Ende ist es doch so: die meisten Ratschläge und Hinweise, die man von anderen erhält, sollen nicht einem selbst helfen, besser zu werden, sondern sollen einem zeigen, dass der andere es eben besser weiß. Und das ist in Ordnung. Man kann sie annehmen und hoffen, dass sie helfen - oder man geht seinen eigenen Weg, macht Fütterungs- oder Schreibfehler und steckt Niederlagen ein. Am Ende ist das, was dabei heraus kommt, man selbst.