- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Leben
Ich hatte keine schlimmen Hintergedanken, als ich mich neben dieses Mädchen setzte. Nun, zumindest keine all zu schmutzigen. Melissa war ihr Name – er schmeckt noch immer wie Honig, wenn er mir über die Lippen kommt. Und ihr Gesicht, ihre Figur – ich bin sicher, dass ich noch nie zuvor ein so hübsches Mädchen gesehen habe.
Die meisten Leute finden es erbärmlich, in einer anderen Stadt zu studieren, aber nicht hinzuziehen, sondern bei seinen Eltern wohnen zu bleiben und jeden Tag zu pendeln. Wenn man allerdings keine andere Wahl hat, dann entdeckt man daran Vorteile, die einem sonst nie in den Sinn gekommen wären.
Dein Leben spielt auf zwei verschiedenen Bühnen. Das Zuhause auf der einen Seite, die Universität auf der anderen. In deren Stadt kennt dich niemand. Deine Mitmenschen bekommen den Eindruck von dir, den du ihnen gibst. Du kannst einen Exzentriker spielen, ein arrogantes Arschloch oder einen Witzbold. Niemand wird wissen, wie du wirklich bist. Du musst schließlich nicht mit diesen Leuten zusammenleben.
Wenn man zwischen den Seminaren, Vorlesungen und Tutorien etwas Freizeit hat, dann kann man – für eine Stunde oder so – den Campus verlassen. Und die Stadt wird zum persönlichen Spielplatz. Fremde Leute kreuzen permanent deinen Weg, Menschen, die du nie wieder sehen wirst; niemand sonst.
Hat man diesen Umstand erst einmal realisiert, so verliert man alle Hemmungen, Fremde anzusprechen.
So habe ich sie getroffen. Ein früh morgendlicher Kurs war gerade zu Ende gegangen und es würde noch ein paar Stunden dauern, bis der nächste begann. Ich konnte mich nicht dazu bewegen irgendwas Vernünftiges zu tun, also ging ich spazieren.
Meine Füße trugen mich zur nächsten U-Bahnstation hinab und ich nahm einfach den ersten Zug der aus dem schwarzen Tunnel auftauchte, wie ein Vampir der aus den Schatten der Nacht tritt.
Fünf Haltestellen später stieg ich aus, ohne die geringste Ahnung zu haben, wo ich gelandet war. Ich brauchte allerdings nicht lange um herauszufinden, dass ich mich direkt vor dem städtischen Krankenhaus befand.
Ich beschloss: bevor ich dort hineingehen würde – unter dem Vorwand ein Besucher zu sein, wodurch es mir gestattet sein würde, in den Korridoren herumzulaufen – wollte ich noch dem Klinikgarten einen Besuch abstatten. Nun, tatsächlich sollte ich dieses Krankenhaus an jenem Tag nicht betreten, ich würde nicht einmal die Vorlesung um dreizehn Uhr besuchen.
All das, weil ich sie traf.
Sie saß auf einer Parkbank, schön wie die aufgehende Sonne, aber umgeben von einer Aura, die sich eher nach tiefster, dunkelster Nacht als nach Morgenstimmung anfühlte.
Sie schien allein zu sein, ich konnte in der näheren Umgebung niemanden sonst ausmachen. Also setzte ich mich einfach zu ihr. Ich wollte nicht, dass sie mich wegschickte, daher entschloss ich mich einen Frontalangriff zu starten. Ich starrte ihr Profil an, wobei ich jede Linie ihres engelgleichen Gesichtes studierte. Man stelle sich die perfekte Frau vor, färbe ihre makellose Haut in attraktiven Bronzetönen und ihr wundervolles, langes, glattes Haar im Braun europäischen Kaffees.
Es dauerte nicht lange, bis sie begann sich unwohl zu fühlen und sie ihren Kopf zu mir drehte. Meine Augen trafen die ihren, brandyfarbene Edelsteine, die aber all ihren Glanz verloren zu haben schienen.
„Wenn man dich ansieht“, sprach ich sie an, „dann könnte man meinen, der Dritte Weltkrieg hätte getobt, ohne dass man es mitbekommen hätte. Ich nehme an, du hast einige harte Tage hinter dir.“
Sie blinzelt zweimal, überrascht von meinen Worten. „Das geht dich nichts an!“, gab sie eisig zurück.
Ich nickte. „Ja, ich nehme an du hast Recht. Ich konnte nur deinen Anblick nicht ertragen, als du wie eine Regenwolke hier gesessen hast. Selbstverständlich habe ich kein Recht zu fragen, warum du so traurig bist.. Trotzdem tue ich es. Nenn mich einen taktlosen Idioten, aber ich will deinen Schmerz wirklich mit dir teilen.“
Sie schien über meine Worte nachzudenken, dann war sie es, die nickte.
„In Ordnung“, sagte sie. „Du bekommst eine Chance. Wenn du es schaffst, dass ich mich besser fühle, dann darfst du bleiben.“
Ich schenkte ihr ein dünnes Lächeln. „Eine Chance ist alles was ich brauche.“
„Also gut.“ Ihre Stimme hatte all ihre Schärfe verloren, sie war nun leise und belegt. „Ich habe eine weitere Operation vor mir. Morgen. Eine sehr schwierige.“
„Eine weitere?“, fragte ich. „Du hattest schon mal eine?“
Sie lachte bitter. „Ich wünschte es wäre nur eine gewesen. Aber es waren allein zwei in diesem Jahr.“
Ich pfiff leise durch die Zähne. „Zwei Operationen in sechs Monaten. Wie kommt das denn?“
Sie musterte mich eindringlich. Dann seufzte sie. „Ich habe dieses Krankenhaus in den letzten vier Jahren kaum verlassen. Damals wurde ich eingewiesen, weil mein Arzt Gebärmutterkrebs festgestellt hatte.“
Ich deutete ein Nicken an. „Ich verstehe. Als sie ihn rausschneiden wollten stellte es sich als komplizierter heraus, richtig?“
Sie presste die Lippen zusammen, dann stimmte sie zu. „Naja, nicht während der Operation, sondern hinterher, als sie mich noch mal untersucht haben. Ich hatte Metastasen in fast jedem Teil meines Körpers. Ich habe die ganze Prozedur jetzt schon mehrmals durchlebt: Operation, Chemotherapie, Bestrahlung, Gammastrahlmesser, Thermotherapie, experimentelle Medikamente. Vier Jahre. Aber es geht immer noch abwärts.“
Es traf mich hart, als ich hörte, wie sie ihr Leid schilderte. „Das tut mir Leid.“, antwortete ich. Aber ihr Blick gab mir zu verstehen, dass sie kein Mitleid wollte. „Ich habe aber ein Frage, wenn es dir nichts ausmacht.“
„So? Worum geht’s?“
Ich würde sie nie wieder sehen, könnte mich also ruhig unbeliebt machen, und brauchte daher nicht zu einfühlsam zu sein.
„Wenn du mit Chemo, Strahlung und all dem gequält wurdest – wie kannst du dann noch so tolles Haar haben?“
Sie stutzte kurz, dann fing sie an zu lachen. „Oh Mann! Du bist klasse!“
Ich war verwirrt. „Ich verstehe nicht…“
„Mann, jeder den ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, hat nichts als Mitleid empfunden. Alles was ich zu hören bekam war ‚Oh mein Gott, das ist ja schrecklich’, oder ‚Glauben Sie, dass Sie wieder gesund werden?’. Aber du fragst einfach ‚Warum hast du noch Haare?’. Das ist erfrischend pragmatisch.“
„Äh, ja, danke.“ Ich konnte mir nicht helfen, aber irgendwie schämte ich mich.
Sie lächelte. „Keine Ursache. Nun, mein Haar. Ich habe sie nicht mehr wirklich. Aber diese Perücke, die ich trage, besteht aus meinen eigenen Haaren. Ich wusste, dass ich sie während der Behandlung verlieren würde, darum dachte ich mir ‚Warum kommst du deinem Körper nicht einfach zuvor und tust es selbst?’ Also ging ich zum Friseur und ließ sie mir abschneiden. Ich nahm sie mit und ließ mir daraus, für ein paar hundert Lappen, eine Perücke anfertigen.“
„Hm, irgendwie krass.“, erwiderte ich. „Aber du hast recht, warum eigentlich nicht?“
„Ja, warum nicht.“ Sie machte eine Pause. „Also, frag mich!“
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Frag was?“
„Wie viel Zeit mir noch bleibt.“
„Oh, das meinst du.“ Das war ziemlich unangenehm. „Ich habe nicht fragen wollen. Weißt du, eigentlich ist das doch egal, oder nicht?“
„Nein, das ist sehr wichtig! Es ist ein Privileg. Viele Leute würden sehr viel dafür geben zu wissen, wann ihre Zeit gekommen ist. Das eröffnet viele neue Perspektiven den Rest des Lebens zu planen.“
„Ja, schon, aber dieser Zeitplan ist deine Privatsache, findest du nicht?“
Sie legte den Kopf schief. „Hm. Ja. Wahrscheinlich hast du Recht.“
Ich versuchte die unangenehme Stille zu durchbrechen, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte. „Wenn du seit Jahren hier im Krankenhaus lebst, was machst du dann den ganzen Tag?“
Der traurige Ausdruck kehrte in ihr Gesicht zurück. „So gut wie nichts. Es gibt Leute die behaupten, die Zeit zwischen der Erkenntnis dass du stirbst und deinem Tod sei die beste deines Lebens, weil du jede Minute davon genießt. Tja, ich würde wirklich mal mit ein paar dieser Leute reden. Glaub mir, da gibt’s nicht viel zu genießen.“
Ich nickte bedächtig. Dann sah ich ihr fest ins Gesicht. „Lass uns etwas zum Genießen fordern!“
„Was?“
„Von deinem Leben! Es schuldet dir etwas Freude. Lass uns gehen und aus dem heutigen Tag einen Feiertag machen!“
„Ich kann nicht. Morgen ist doch diese Operation. Und heute Nachmittag sind noch weitere Therapiesitzungen. Und ich brauch meine Medikamente. Ich… ich kann nicht.“
„Das ist zu schade.“, entgegnete ich. Dann bemerkte ich das Päckchen, das sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte, als ich mich neben ihr niedergelassen hatte. „Was ist das?“
„Was!?“, meinte sie erschrocken. „Oh… das ist nichts. Nur ein paar Medikamente.“
„Drogen?!“, rief ich.
„Pst!“ Sie beugte sich zu mir her. „Nein. Nur so ein Zeug, das ich jeden Tag nehmen muss.“
„Warum versteckst du es dann?“
„Weil…“ Sie gab auf. „Ich darf das nicht aus der Klinik rausbringen.“
Plötzlich ging mir ein Licht auf. „Du wolltest dir den Goldenen Schuss verpassen, richtig?“
Sie nickte heftig und begann plötzlich zu weinen.
Ich legte meinen Arm um sie. „Hey! Mach das nicht. Gib nicht auf!“
Sie blickte auf, direkt in meine Augen und schluchzte. So sahen wir uns eine ganze Zeit lang an, während ich sie noch immer festhielt.
Dann nahmen ihre Züge einen entschlossenen Ausdruck an.
„Lass es uns tun!“, sagte sie, setzte sich auf und wischte die Tränen aus ihren Augen. „Lass uns gehen und Spaß haben!“
Ich kehrte an diesem Tag nicht zur Universität zurück, kam erst in den frühen Morgenstunden nach Hause. Trotzdem musste ich am nächsten Nachmittag zum Unterricht. Das tat ich, konnte mich aber nicht konzentrieren.
Als ich den Tag überstanden hatte fuhr ich wieder zum Krankenhaus. Ich musste alle Register der Lügenkunst ziehen um den Mann am Empfang davon zu überzeugen, dass ich ein Angehöriger von ihr war. Aber schließlich schaffte ich es, dass man mir gestattete mit einem der Ärzte zu sprechen, die sie behandelten.
„Nun, wie geht es ihr?“, wollte ich wissen. „Ist die Operation gut verlaufen?“
Ich wusste es bereits, als sich das Gesicht des Doktors auf erfahrene Weise in eine mitleidsvolle Maske verwandelte.
Sie war auf dem Operationstisch gestorben.