Leben
Leben
Eine kurze Kurzgeschichte
Er holt sich noch auf die Schnelle einen Pott Kaffee und dann muss er auch schon wieder los. Die da draußen haben ja keine Ahnung, wissen nichts von seinem Doppelleben. Die liegen feist und friedlich in ihren Kojen und träumen von den Abenteuern, denen er sich stellt. Stellen muss! Rund um die Uhr. Er ist ein Einzelkämpfer, das war er schon immer.
„Verlass dich auf andere, und du bist verlassen!“, hatte sein Vater schon sehr früh zu ihm gesagt. Und der Alte hatte Recht.
Er lacht still in sich hinein, bitter, so wie er es immer tut, wenn er an seinen Erzeuger denkt. Der hat sich kaputt gesoffen, ist am Leben gescheitert, wie man so sagt. Und er? Er hatte alles mitbekommen, auch wenn er damals noch ein kleiner Fetz war. Dieses Geflüster, diese mitleidigen Blicke, er hat sie gehasst. Bis heute. Nein, so wie sein Alter wird er nicht enden. Er wird nicht in der Pissrinne sein Leben aushauchen. Nein, er bestimmt nicht!
Verdammt, da sind sie schon! Beinah hätten sie ihn erwischt! Sie sind zu dritt! Die Geschosse fliegen haarscharf an ihm vorbei, ratatata, fliegen durch die schmale Gasse der Altstadt, klatschen auf die Häuserfassaden und reißen tiefe Krater in die Außenhaut.
Sie benutzen Utzis! Diese feigen Hunde! Aber nicht mit ihm!
„Nee Leute, so schnell könnt ihr gar nicht sein, dass ich euch nicht erwische!“
Im Lauf zieht er seinen Smith&Wesson Revolver aus dem Schulterhalfter und schießt. Blam, Blam, Blam. Und wieder zieht er seinen Finger durch. Blam, Blam, Blam. Die leckenden Zungen des Mündungsfeuers blitzen für einen kurzen Moment auf. Wohlweislich hatte er sich vor diesem Einsatz für das Model 38 DA entschieden. Double Action Revolver. Dieses Teil hat eine enorme Durchschlagskraft, was einer dieser Typen jetzt zu schmecken bekommt. Sein Kopf wird förmlich vom Körper gefegt. Die Kugeln lassen ihm keine Zeit mehr für einen Schmerzensschrei. Schade eigentlich! Er liebt es, wenn sie Geräusche machen. Geduckt und dicht an den Häuserwänden entlang, läuft er auf den am Boden liegenden Torso zu, greift nach der Maschinenpistole und grinst.
„Die brauchst du wohl jetzt nicht mehr“, flüstert er höhnisch. Dann schaut er sich um. Oh, er kennt ihre Tricks. Von irgendwoher beobachten sie ihn. Lauern ihm auf. Warten auf einen Fehler von ihm. Aber so leicht wird er es ihnen nicht machen. Er hat einen Auftrag und den wird er ausführen. Nein, er hat diesen Krieg nicht gewollt. Nein! Aber sie demütigen ihn, verspotten ihn, fordern ihn tagtäglich heraus. Stimmt, er redet nicht viel! Doch was soll dieses ganze Gelabere auch? Wem soll das helfen? Ihm ganz sicher nicht! Er ist ein Mann der Tat! Verflucht, er hat sich diese Leben nicht ausgesucht. Nicht dieses! Diese verfluchten endlosen Schlangen. Dieses Sitzen auf ausgemergelten Stühlen. Dieses Warten. Dieses Kopfschütteln.
Da, einer dieser Kerle springt unvermittelt aus einer Toreinfahrt und eröffnet sofort das Feuer. Ratatata! Verfluchter Dreck, es hat ihn erwischt! Zum Glück nur an der Schulter. Bloß ein Kratzer. Schwein gehabt! Das ist noch nicht das Ende. Blitzschnell macht er einen Satz nach vorne, schmeißt sich zu Boden, rollte sich ab und feuert bereits in der Aufwärtsbewegung eine Salve mit der Utzi ab.
Urguuuh!, dringt es aus der Richtung des Gegenspielers, der dann auch sogleich zusammenbricht.
„Ha, Treffer versenkt! Du Dreckskerl, dachtest wohl Du könntest mich so einfach erledigen! Da haste dich aber fies geschnitten. Und deinen Kumpel mach ich auch noch fertig.“
Er steckt die Smith&Wesson zurück in den Halfter, die Utzi schussbereit in der anderen Hand.
„Zeig dich, du Hund!“, zischt er und geht langsam, nach allen Seiten absichernd, die Gasse hoch. Er weiß aus Erfahrung, er darf sich nie zu sicher fühlen. Die Heckenschützen stecken überall. Er schüttelt den Kopf. Nein, man kann ihm nichts vormachen! Er kennt das Leben. So schnell verkauft ihm keiner ein X für ein U. Klar, auch er hatte seine Träume. Gehabt! Träume, wie sie alle haben. Doch Tanja hatte ihn nie verstanden. Hatte ihn nie verstehen wollen. Er hat keine Ahnung, wo und wie sie jetzt leben. Sie und der Junge.
Er zuckt die Schultern. Da kann man nichts machen.
Die todbringenden Kugeln schlagen brutal in seinen Körper ein. Blut strömt aus den Wunden und er sackt in sich zusammen, bleibt regungslos auf dem Asphalt liegen. Der Schütze steht auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Doch diese Erkenntnis hilft ihm jetzt nichts mehr.
„Verfluchte Scheiße!“, ruft er erschöpft und reißt sich den Kopfhörer herunter. Seine rotumrandeten Augen suchen die Uhr. 5 Uhr 30. Er starrt wieder auf den Bildschirm. „Nur ein paar Stunden“, flüstert er, „nur ein paar Stunden Schlaf, dann komme ich zurück! Und dann, ja verflucht, dann könnt ihr euch alle warm anziehen!“
21.März 2010
Mathias Wünsche