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Lebendig begraben
Als er das erste Mal seit einigen Stunden seine Augen wieder aufmachte, war er von der erdrückenden Dunkelheit des Sarges umhüllt. Seine Hände waren ihm mit einem Seil hinter seinem Körper zusammengebunden. Sind das Dornen an dem Seil? Er spürte, wie das Blut noch immer aus seinen Handgelenken lief.
Sein Mund war trocken. Das Tuch, welches zwischen seinen Zähnen steckte, schmeckte nach Benzin. Spucke lief ihm an seinem Kinn hinunter. Seine Füße ragten aus dem Sarg heraus. Sie steckten in zwei runden Löchern, welche am Ende des Sarges anscheinend zurechtgesägt worden sind. Unzählige Tiere krabbelten auf seinen nackten Füßen herum. Ihre schleimigen Körper bewegten sich hektisch. Er schrie.
Das rote Licht fiel ihm erst auf, als seine angeschlagenen Stimmbänder zu zerreißen drohten. Er hatte sich Mühe gegeben möglichst laut um Hilfe zu schreien, aber jedes Mal wenn er Luft holte um einen weitern Hilferuf durch den hölzernen Deckel des Sarges zu pressen, atmete er den Geruch des Benzins ein. So gingen seine schwachen Schreie in einem würgenden Husten unter.
Das Licht war klein und rund. Erst dachte er an eine optische Täuschung, denn seine Augen waren angeschwollen und hätten ihm jederzeit einen Streich spielen können, aber was er sah schien konstant zu sein. Es war über seinen Schienbeinen am Sargende befestigt und schien ihn von dort zu beobachten. Zu beobachten, ja das war’s! Er presste seine Augenlider etwas zusammen um besser durch die Dunkelheit hindurch zu sehen und dann erblickte er tatsächlich etwas. Vor dem Licht spiegelte sich eine Art Glas. Es schien das rote Licht und das kleine Gehäuse über dem Licht zu schützen.
Es musste eine Kamera sein. Es musste ein psychopatischer Serienkiller sein, der ihn in diese Lage gebracht hatte und ihm nun beim Sterben zusah.
Als ihm diese Gedanken durch seinen Kopf gingen, erinnerte er sich unweigerlich an einen Spruch seiner Mutter, die ihm als kleines Kind öfters sagte: „Manchmal ist es besser, wenn man etwas nicht weiß, verstehst du?“ Er verstand jetzt.
Es dauerte nicht lange, bis er das Seil, welches seine Handgelenke umklammerte, lösen konnte. Es war zwar tatsächlich mit kleinen spitzen Drähten dekoriert, aber es war stümperhaft zusammengebunden. Er wollte es so.
Erst als er seinen Körper mit seinen blutenden Händen nach Verletzungen abtastete, realisierte er, dass eine große Scherbe in seiner Hüfte steckte, welche sich nicht herausziehen ließ.
Wo bleibt der Schmerz, fragte er sich, während er das stinkende Tuch aus seinem Mund entfernte.
Bis auf die tanzenden Tiere auf seinen Füßen spürte er nichts. Selbst die Scherbe in seiner Hüfte versuchte keinen Schmerz, obwohl sie tief in seinem Körper steckte. Warum kriege ich sie nicht heraus? Behutsam fasste er das Ende des Fremdkörpers an, aber er ließ sich nicht bewegen.
Drogen. Der Irre musste ihm Drogen verabreicht haben, damit er ihm länger bei seinem Todeskampf zuschauen konnte.
Den Schraubenzieher fand er neben seinem Kopf. Er war klein, aber wenn er lange genug das stumpfe Ende des Werkzeuges gegen den Sargdeckel hämmern würde, dann müsste es gehen. Er holte aus und schlug zu.
Durch die Löcher, welche durch die gezielten Hiebe in dem Deckel entstanden, floss ein Strom aus Dreck in den Sarg. Ist es praktisch überhaupt möglich, hier heraus zu kommen?
Er schob die Erde zu einem Haufen zusammen, wobei er darauf achtete, dass ihm die Insekten und das andere Ungeziefer nicht zu Nahe kamen.
Nach einer Weile wurde der Haufen immer größer und der Freiraum über den Löchern wurde durch eine Welle neuer Dreckfluten immer wieder verschüttet. Es geht nicht. Er schrie erneut. Dieses Mal atmete er nicht den Geruch des Benzins ein, wenn er Luft holte. Er war sich nicht sicher, ob jemand seine Schreie hören konnte, denn er wusste nicht, wie tief der Sarg in die Erde eingegraben war. Die Erde jedoch schien sowohl seine Schreie, als auch seine Hoffnungen zu verschlucken.
Seine Ratlosigkeit verwandelte sich im Verlauf seiner Befreiungsversuche in Wut. Er schlug wild um sich und fühlte plötzlich, wie der Schmerz in seiner Hüfte präsent wurde. Die Wirkung der Drogen hatte spürbar nachgelassen.
Es war nicht der Tod, der ihn zornig werden ließ, das psychisch kranke Publikum, welches ihn beobachte, machte ihn wütend. Würdeloser kann man nicht sterben.
Die Scherbe in seiner Hüfte bereitete ihm jetzt unerträgliche Schmerzen. Er fasste all seinen Mut zusammen und umklammerte sie fest mit seiner rechten Hand. Mit viel Kraft zog er sie mit einem Ruck aus seiner Hüfte heraus.
Der Schmerz rannte sofort durch seinen Körper und entfaltete seine Eigenschaft verspätetet, dafür jedoch stärker als jemals zuvor. Für einen Moment dachte er, dass er ohnmächtig werden würde, aber diesen Gefallen tat ihm sein Körper nicht. Seine Hände zitterten, als er sich die Scherbe ansah. Der Irre hat sich in dieser Hinsicht scheinbar viel Mühe gegeben, denn an dem Stück Glas waren kleine Nägel angebracht, welche als Widerhaken fungierten. Dieser kranke…
Plötzlich bewegte sich der Sarg. Er glich einem Fahrstuhl, nur mit dem Unterschied, dass er nicht so bequem war. In der obersten Etage angekommen wurde der obere Teil des Sarges von mehreren Leuten geöffnet. Als der Deckel aufflog, wurde er durch die Scheinwerfer des Fernsehstudios geblendet. Seine Augen konnte er nicht öffnen, aber er hörte eine Stimme, welche durch ein Mikrofon sprach: „Und da ist er ja! Der erste Kandidat des heutigen Abends der populärsten Realityshow im 22. Jahrhundert, `Lebendig begraben’. Heißen wir ihn herzlich willkommen!“ Das Publikum tobte, während der Kandidat endlich ohnmächtig wurde.