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Lebens-Lauf
Ein Kind schlug die Augen auf und fand sich auf einem lichterbunt strahlenden Boden wieder, welcher in tausend Facetten funkelte und schimmerte. Langsam stand das Kind auf und blickte sich um – so weit es schauen konnte, sah es keinerlei Wände, sondern nichts als eine grenzenlose Fläche, die so einladend leuchtete, dass es jauchzend loslief.
Der Boden federte leicht unter seinen blanken Füßen, dass das Springen und Rennen eine reine Freude war. Hie und da blieb das Kind stehen, bückte sich nach einer besonders schönen Blume nieder und freute sich über ihre bunte Faszination. Es lief weiter und summte dann und wann eine der vielen Melodien mit, die ihm zu Ohren drangen. Wundersame Düfte roch es, die ausgefallensten Tiere ließen sich von ihm streicheln, ehe sie mit anmutigen Bewegungen hinwegsprangen. Über allem lag ein tiefes Gefühl des Friedens und des Glücks.
Das Kind hüpfte gerade über einen samtweichen Flecken und tanzte mit einem violett schillernden Käfer um die Wette, als plötzlich ein großer, dunkler Brocken mitten aus dem Nichts über ihm auf die Erde stürzte. Es erschrak sehr und wich vor dem düsteren, Unheil ausstrahlenden Objekt zurück. Nichts vermochte das Kind zu erkennen, als es nach oben schaute – kein Hinweis darauf, woher dieses seltsame Ding gekommen war. Friedlich und schweigend wie immer erstreckte sich die hellschimmernde Decke weit droben über seinem Kopf.
Das Kind wagte nicht, den grauen Brocken zu berühren – er verbreitete abweisende, bedrohliche Kälte. Schnell rannte das Kind davon. Doch es kam nicht weit, da sah es aus den Augenwinkeln einen weiteren Fels hinabfallen. Der Boden erbebte unter seinen Füßen, und viele der Blumen knickten plötzlich zusammen, sodass sie schlaff da lagen. Bestürzt kniete sich das Kind neben einer einst so eleganten, tulpenähnlichen Pflanze nieder und nahm die schon angewelkte Blüte sacht in die Hände. Eine salzige Träne tropfte hinab auf sie.
Mit einmal nahm das Kind einen Schatten über sich wahr und sprang hastig auf. Keinen Moment zu früh, denn ein immenser Brocken stürzte nur eine Armeslänge von ihm hernieder und begrub die Pflanze unter sich.
Bildete der junge Mensch sich das ein, oder wirkte das Licht nun weniger freundlich? Zitternd dachte er bei sich, wie knapp er eben dem Tod entgangen war. Er seufzte leise und drehte sich dann um, um fortzugehen von diesem Ort, an dem ihm solche Gefahr drohte.
Nach wenigen Metern spürte er erneut eine Erschütterung des Bodens und beschleunigte seine Schritte, bis er in einen Laufschritt verfiel. Immer wieder musste er einen Haken schlagen, um vor ihm herabstürzenden Brocken auszuweichen. Dichter und dichter wurden die Abstände, in denen sie herniederfielen. Der Mensch begann, zu rennen.
Oft genug konnte er den Luftzug spüren, den ein neben ihm aufschlagender Felsen verursachte. Der Boden unter seinen Füßen erbebte in immer kürzeren Intervallen, und wohin er auch seine gehetzten Blicke warf, er konnte nur Verwüstung sehen. Zerfallene, verfaulte Blumen verbreiteten einen ekelerregenden, penetranten Geruch. Das Licht war nun wirklich kälter geworden; aggressiv beinahe. Seine Lungen schmerzten, doch der Mensch erlaubte sich keine Rast. Er musste fort von hier, von diesem Ort, an dem kein Dasein mehr möglich war.
Als er keuchend aufblickte, bemerkte er, wie dicht die Brocken mittlerweile am Boden lagen. Ein Wunder, dass er noch nicht getroffen worden war.
Er beschleunigte seine Schritte nochmals, als er weit hinten in der Ferne ein warmes Licht schimmern sah. So vertraut war es, so Geborgenheit verheißend!
Bald würde er es geschafft haben!
Stechende Krämpfe peinigten seinen Körper, doch der Mensch gab sein Äußerstes und wich weiter behende den Steinbrocken aus. Rechts und links von ihm türmten sie sich nun schon mannshoch auf, doch vor ihm lag immernoch eine schmale Gasse. Unverzagt kämpfte der Mensch sich weiter, bis er auf einmal um Haaresbreite einem Klotz entging, der unmittelbar vor ihm herabstürzte. Keuchend hielt er inne und sah verzweifelt an dem riesigen, kalten schroffen Brocken hinauf. Vorbei konnte er nicht. Das Ding versperrte den gesamten Durchgang. Mit einem Stöhnen arbeitete sich der Mensch langsam an ihm hinauf und kletterte über das Hindernis hinweg. Seine Gelenke und Muskeln schmerzten, und ihm wurde bewusst, wie unendlich lange er schon um sein Leben gerannt war. Als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erblickte er ein totes, kaninchenähnliches Tier vor ihm liegen. Leblos starrten die kleinen Augen in die graue Decke hoch droben. Ein einzelne kleine Blutspur floß langsam aus seinem Ohr und vermengte sich mit den Tränen des Menschen, der auf einmal all die Last spürte, die auf ihn drückte. Nichts war so, wie es einmal gewesen war. Hinweg die Unbeschwertheit, das Glück. Gehetzt war er all die letzte Zeit, vertrieben aus dem Idyll, ständig bedroht und gejagt. Seine Knochen waren nicht mehr die Jüngsten. Schwer lastete nun eine Ermattung auf ihm, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Mit der Linken strich er behutsam das kalte Fell des Tierchens entlang und sank neben ihm zu Boden. Wozu. Warum. Der Greis dachte zurück an die ausgelassenen Stunden, in denen er mit den Schmetterlingen getanzt war. So unendlich lange her schienen sie ihm... wie fühlte es sich an, machen zu können, was man wollte? Hinlaufen zu können, wohin es einem beliebte? Ohne Furcht vor dem nächsten Augenaufschlag zu leben?
Er wusste es nicht mehr.
Mit gebrochenem Blick sah er auf, seinen Weg entlang. Zu einem Tunnel war er mittlerweile geworden; zu beiden Seiten von steinernen Mauern begrenzt und oben abgedeckt.
Das Licht, welchem er so lange entgegengejagt war, ohne dass es nennenswert näher gekommen wäre, schien mit einemal so greifbar nah. Schon spürte er die Wärme, die es ausstrahlte, in seinen alten Gliedern.
Mit letzter Kraft erhob sich der Alte, nahm das tote Kaninchen hoch und trug es vorsichtig in Richtung des Leuchtens. Klein waren seine Schritte, doch stetig kam er näher. Geblendet schloss er seine Augen und dachte bei sich, dass dies dem Damals so ähnelte... Wärme... Frieden... Geborgenheit...
Warum musste ich damals vertrieben werden... so lange Zeit ohne Freude dahinhetzen... immer auf der Flucht... nur um jetzt wieder dort sein zu dürfen, wo meine Reise begann... warum... was war nur der Sinn...?
Dies waren die letzten Gedanken des Sterbenden.