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Lebenslang
here comes the rain again
falling from the stars
drenched in my pain again
becoming who we are
as my memory rests
but never forgets what I lost
(Green Day- wake me when September ends)
Sie starrte aus dem Seitenfenster. Ein grauer Mercedes zog im Schritttempo an ihrem Auto vorüber. Ein dicklicher Mann Mitte Vierzig saß darin und sprach aufgeregt in sein Mobiltelefon. Sein Ballon- ähnlicher Kopf war vor Zorn errötet. Er sah nicht, wie sie ihn beobachtete.
Sie würde diesen Mann wahrscheinlich niemals in ihrem Leben wieder sehen. Ein Gesicht unter tausenden die täglich ihren Weg kreuzten und sich auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Bewusstsein verabschiedeten.
Hinter dem Mercedes kam ein Ford Focus langsam an ihr vorbei gerollt. Darin saß eine grauhaarige Frau, die, ihr Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert, aus der Frontscheibe starrte.
Gerade so als würde sie nicht etwa im ersten Gang dahin tuckern sondern zweihundert Stundenkilometer auf der Überholspur zurücklegen.
Alles nur Statisten in einem Leben, in denen ich mir die Hauptdarsteller selbst aussuchen kann.
Sollte man zumindest meinen, dachte sie und kramte im Seitenfach eine Cd heraus und legte sie in den Wechsler unter dem Armaturenbrett.
„American Idiot“ von Green Day erklang aus ihren Boxen, worauf sie an dem Bedienteil die Titel weiter schaltete, bis sie das zu ihrer Stimmung passende gefunden hatte.
I walk a lonely road
The only one that I have ever known
Don't know where it goes
But it's home to me and I walk alone
Einige ihrer Träume hatten sich in ihrem Leben erfüllt, doch ein wichtiger war zerbrochen. Doch sie schwor sich selbst nicht dran zu zerbrechen.
Niemals wollte sie neben sich selbst her leben, niemals das Offensichtliche als normal aktzeptieren.
Nichts was die Welt ihr mit ihrer Schönheit und ihrer dunklen Seite vorgab, nahm sie als Selbstverständlich hin, sie bemühte sich stets, Dinge zu hinterfragen und selbst banale Sachen wie das Trinkwasser zu ergründen.
Neben ihren Eltern, die sie sich eben nicht ausgesucht hatte, gab es wechselnde Hauptrollen in ihrem Leben. Freunde, Bekannte und Liebschaften. Alle hatten sie auf ihrem bisherigen Weg begleitet, sie teilweise verändert, ihren Horizont erweitert.
Viele der Hauptrollen waren mit der Zeit aus ihrem Stück raus geschrieben worden und sie hatte oft gelitten wie ein Hund. Aber die Zeit hatte ihr Nötigstes getan, um die Wunden zu heilen. Auch wenn sie immer gedacht hatte, dass sie nie darüber hinweg kommen würde, einige Monate danach war das Schlimmste immer überstanden. Die Erinnerung blieb bestehen, aber der Schmerz war verschwunden.
Vor ihr wurde nun die Baustelle sichtbar. Langsam rollte sie mit ihrem Polo an den blinkenden Warnlichtern vorbei. Als sie die schwitzenden Bauarbeiter passiert hatte, wurde wie Bahn wieder frei.
Sie schaltete in den dritten Gang hoch und gab Gas. Bäume, Häuser und Landschaften flogen an ihr vorbei, nachdem sie in den fünften Gang geschaltet hatte, hinaus aus ihrem Sichtfeld.
Sie überlegte sich wieder einmal, ob die Welt an sich überhaupt existierte, während Green Day den nächsten Song zum Besten gab.
Oder war es nur ihr eigenes Bewusstsein, dass die weltlichen Dinge produzierte und außerhalb ihres Sichtfeldes gab es nur ein großes Nichts?
Vielleicht war sie ja eigentlich ganz alleine.
Aber wenn es so wäre, würde sie sich dann nicht eine schönere Welt vorstellen, eine ohne Tod und Leid?
Und würde sie dann ihr eigenes Leben nicht so gestalten, dass sie immer glücklich wäre?
Während sie darüber nachdachte, erreichte sie die Ausfahrt, die sie nehmen wollte.
Anne setzte den Blinker und nahm den Fuß vom Gas.
Sie verließ die Bahn und kurbelte ihr Seitenfenster herunter. Kühle Luft strömte herein. Sie konnte das Meer bereits riechen und ließ den salzigen Duft tief in ihre Lungen ziehen.
Die Liebe zum Meer war eine der vielen Dinge, die sie mit ihm verband und wenn sie am Wasser stand und in die endlos scheinende Weite blickte, dann fühlte sie sich ihm nahe.
Als er in ihr Leben getreten war, hatte er zunächst nur eine Nebenrolle gespielt, doch im Laufe der Zeit hatte er eine Rolle in ihrem Leben übernommen, die sie nicht betiteln konnte weil dies weit über jeden Verstand hinausgehen würde.
Sie parkte ihr Auto am Straßenrand und stieg aus. Sie ging den schmalen Trampelpfad zwischen den mächtigen Eichen entlang und dann sah sie es. Das Meer.
Gewaltig und doch friedvoll war es da, so wie es immer da gewesen war.
Um diese Jahreszeit war an dem kleinen Strandabschnitt nichts los. Sie zog den Kragen ihres Mantels hoch und verschränkte die Arme vor der Brust während sie in die Weite sah.
Kleinere Wellen brachen sich am Ufer und vereinzelte Möwen folgten kreischend einem Fischkutter der in einiger Entfernung in Richtung Horizont fuhr.
Sie setzte sich in den kalten Sand und ließ ihre Gedanken schweifen indessen sie den Möwen bei ihrem Flug zusah.
Früher hatte sie gedacht zu lieben, aber heute wusste sie es besser.
Er war nicht gegangen, so wie die Anderen. Er war geblieben, all die Jahre, genauso wie der Schmerz und die Sehnsucht nach seinen Armen, seinem Geruch, seinem Kuss.
Sie konnte ihn heute noch auf ihren Lippen fühlen, als wäre es erst gestern gewesen, dass er sie in seine Arme gezogen hatte.
Aber das alles war schon lange her. Sie hatte sich damals ihren eigenen Strick geknüpft.
Von Anfang an hatte Anne gewusst, dass dies der Mann war mit dem sie ihr Leben teilen wollte und war den einfachsten Weg gegangen den sie fand. Aber die Liebe ist nicht einfach und das was sie für Liebe hielt, war nichts weiter als eine Illusion gewesen.
Er hatte sich von ihr abgewandt, nachdem sie ihn in ihrer Sehnsucht pausenlos bedrängt hatte und auch danach wollte sie lange Zeit nicht das Offensichtliche akzeptieren.
Trotzdem ist es besser geworden, mit der Zeit. Sie dachte nicht mehr pausenlos an ihn, und lass auch wieder andere Männer in ihrem Leben zu.
Trotzdem war er nach wie vor in ihren Synapsen präsent gewesen, wie eine Erinnerungsfunktion in einem Handy.
Nun war alles auf der Welt Nichtig für sie. Talkshows, Modische Kleider, gutes Essen. Alles war so sinnlos geworden, außer den Dingen die sie an ihn erinnerten.
Er war nun weit weg, unerreichbar verreist.
Würde es eine Hoffnung für sie geben, wenn er zurück kehrte? Würde sie ihn wieder finden?
Es wäre besser ihn aus meinem Leben zu streichen, dachte Anne warf einen Stein ins Meer, der mit einem lauten „Plop“ versank.
Wie dieser Stein versank er damals in ihrem tiefen Meer von Gedanken.
Aber er spielte die tragende Rolle in diesem Drama und auch nach seinem eindrucksvollen Auftritt wollte er einfach nicht verschwinden.
Jeden Morgen, den sie erwachte waren ihre Gedanken bei ihm, jeden Abend war sein Bild das letzte was sie vor ihrem inneren Auge sah.
Das Leben war so verdammt kurz und jede Minute ohne ihn war verlorene Zeit, die ihr niemand zurückgeben konnte.
Er hatte zu ihr gesagt dass sie seinen Traumvorstellungen so nahe kommen würde, dass es ihm Angst macht.
Sie hatte es versaut und nun saß sie vor einem Trümmerhaufen ihrer einst so intensiven, glücklichen Gefühle für ihn.
Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl in jemanden hinein sehen zu können und auch zu wollen. Er lebte nicht neben ihr her, er lebte in ihr.
Nun lebte sie ihr Leben, das sie immer als schön empfunden hatte aber nun immer häufiger trostlos wirkte.
Sie hatte versucht, zumindest in ihrer Phantasie mit ihm glücklich zu sein, aber Tagträume konnten die Realität auf Dauer nicht verdrängen. Und hätten sie es getan, wäre sie vermutlich verrückt geworden.
Anne stand auf und klopfte sich den Sand von der Hose. Die Sonne versank bereits wie ein glühender Feuerball im Meer.
„Ich liebe dich… über jede Vorstellung der Liebe hinaus“, sprach sie leise und der leichte Wind trug ihre Worte auf das Meer hinaus.
Vielleicht würde auch er gerade irgendwo am Meer stehen und ihre Worte empfangen.
Sie drehte sich um und ging den schmalen Weg zu ihrem Auto zurück.
Sie würde wiederkommen, so wie er immer wieder in ihre Gedanken kam, denn die Hoffnung eines Tages wieder mit ihm vereint zu sein würde erst dann sterben, wenn auch ihr Bewusstsein stirbt das ihn in ihr am Leben hält.