Lebenswille
Sie stand auf einer Brücke. Die Brücke war hoch. Das Wasser tief. Ruhig plätscherte der Fluss unter ihr. Unschuldig, als wüsste er nichts von seiner Kraft. Doch sie ließ sich nicht täuschen.
Sie packte das Geländer und zog sich hoch. Das Eisen war kalt. Der Wind war kalt. Alles war kalt. Selbst ihr Inneres, obwohl ihr Herz in Flammen zu stehen schien.
Da stand sie nun. Unter ihr war der Fluss. Sie musste nur springen, dann wäre alles vorbei. Ein Schritt ins Leere und sie würde fallen. Sie stellte sich vor, wie der Wind ihr um die Ohren rauschte, vergeblich versuchend sie zu fangen. Wie die Oberfläche des Wassers nachgab, die Wellen um sie schlugen, ihre Kleidung schwer wurde. Wie der Fluss sie schließlich in die Tiefe zog. In die ewige Vergessenheit.
Dabei hätte sie so gerne noch Venedig gesehen. Wie sehr ihre Großmutter von der Stadt geschwärmt hatte. Als Kind hatte sie oft auf ihren Schoß gesessen und ihren Geschichten gelauscht.
„Verspreche, dass du eines Tages nach Venedig gehst“, hatte sie immer gesagt.
Sie hatte das Versprechen geben müssen. Und nun konnte sie es nicht halten.
Jetzt würde sie springen.
So schön schimmerte das Wasser im Mondlicht. Wie kleine funkelnde Diamanten. Es war ruhig. Kein einziges Auto fuhr vorbei, das die reine Nachtluft verpesten konnte. Die Bäume raschelten. Die Grillen zirpten. Es gab keinen schöneren Augenblick.
Sie lehnte sich nach vorn, das Geländer immer noch fest umklammernd, Der Wind streichelte ihr Gesicht und ließ ihre langen Haare flattern wie eine Fahne. Sie musste jetzt nur die Hände vom Geländer lösen.
Ich will es so, dachte sie, ich habe mich entschieden!
Sie riss ihre linke Hand vom Geländer und hielt sie ausgestreckt ins Mondlicht. Überall waren Spuren von Fingernägeln, die nicht ihr gehörten. Neben faustgroßen blauen Flecken auf ihrem Arm zogen sich Kratzer und blutige Schnitte bis hin zur Schulter. Ein Anblick, den sie gewohnt war. Er ließ sie innerlich verrecken wie bei einer Vergiftung. Langsam und schmerzhaft.
Sie weinte brennende Tränen. Die Hand am Geländer fühlte sich merkwürdig schwach und lasch an, glitt immer mehr vom glatten Stahl ab. Sie würde fallen. Sie wollte fallen. Ertrinken und für immer vergessen, was er ihr angetan hatte. Immer weiter neigte sie sich nach vorn, bis sie nur noch das schwarze glitzernde Wasser unter ihr sah.
Plötzlich löste sich ihre Hand vom Geländer. Sie fiel und stürzte ins Wasser.
Es fühlte sich an wie ein Schlag, als sie durch die Wasseroberfläche schlug. Sein Schlag. Nein, schlimmer.
Erschrocken tauchte sie wieder an die Oberfläche. Sie zitterte und brannte vor Kälte. Der Fluss war schön, doch grausam, er tat ihr weh. Wellen peitschten ihr ins Gesicht. Das Gewicht ihrer Kleider zerrte sie nach unten. Sie ruderte mit den Armen, um sich über Wasser zu halten.
Es hat keinen Sinn, dachte sie, Es ist zu stark, und du hast dich entschieden. Es ist zu spät.
Sie ergab sich der Kraft des Wassers und ließ sich in die Tiefe ziehen.
Über ihr schimmerte der Mond. Von unten gesehen sahen die Wellen wie sich ständig bewegene hübsche Muster aus. Von den Seiten umfing sie die Dunkelheit. Das Wasser gurgelte, während sie immer tiefer sank.
Es war so schön und grausam. Wie er. Auch ihn hatte sie für schön gehalten. Hatte feststellen müssen, dass er so dunkel war, wie das Wasser um sie. Wie das Wasser hatte er sie vor Kälte brennen lassen. Erstickt und ihr den Atem genommen. Sie ähnelten sich so sehr.
Das Wasser und er.
Er ist das Wasser... Und ich ergebe mich ihm!
Panik breitete sich in ihr aus und überwältigte sie. Vor wenigen Sekunden hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als zu sterben. Jetzt wollte sie nur noch eins: leben.
Sie hatte nicht mehr viel Luft. Nicht mehr lange und sie würde den gefährlichen Atemzug tun. Das Wasser in ihrer Lunge würde sie töten.
Sie war schon so weit unten. Sie konnte kaum noch den Mond über sich erkennen. Der Druck der Wassermassen wurde unerträglich. Sie bezweifelte, dass sie es schaffen könnte, ihr Leben zu retten.
Trotzdem strampelte sie so schnell sie konnte mit den Beinen. In ihrer Verzweiflung schlug sie um sich, als wolle sie das Wasser verscheuchen. Bald schmerzten ihre Arme und Beine. Der Mond war näher gekommen. Doch für das, was noch zu schaffen war, reichte ihre Luft nicht. Sie spürte, wie sie langsam ruhig und benommen wurde, dennoch schwamm sie weiter. Auch wenn sie wahrscheinlich dabei sterben würde.
Dann stieß sie mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche. Japsend schnappte sie nach Luft.
Sie hatte es geschafft. Sie hatte das Wasser, ihn, besiegt.
Mit der Hand schlug sie auf die Wasser Oberfläche. Die Tropfen prasselten auf ihr Gesicht wie ein Sommerregen. Sie lachte. Der Wind trug ihr Lachen fort. Auf einmal hatte sie neuen Lebensmut gefasst.
Sie musste ihn nur noch verlassen. Sie musste raus aus diesem Fluss.
Sie war erschöpft. Ihre Beine fühlten sich an wie Blei. Ihr Atmen ging flach. Das Wasser zerrte noch immer an ihr. Doch der Fluss war nicht breit, das Ufer nicht fern.
Sie schwamm, trotz Schmerz und Müdigkeit. Wieder schlugen die Wellen nach ihr. Sie schluckte Wasser.
Es dauerte nicht lange und sie erreichte das Ufer. Völlig erschöpft kroch sie aus dem Wasser. Der Sand klebte an ihrem durchnässten Körper. Ihre Kleider lagen an wie eine zweite Haut. Sie zitterte vor Kälte.
Ruhig lag sie da. Sie konnte nicht zurück. Sie konnte nicht zurück zu ihm.
Fort. Fort, einfach nur fort. Egal wohin.
Nein, natürlich war es nicht egal. Wie konnte sie es nur vergessen? Wie hatte sie auch nur einen Moment nicht daran denken können?
Venedig. Sie hatte es versprochen. Und jetzt konnte sie das Versprechen halten.