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- 04.08.2001
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Leichen im Keller
Das Heim der Familie Klein hatte eine saubere, makellose Fassade. Frisch gestrichen, in knalligem beherrschendem Gelb, stand das Haus inmitten anderer Einfamilienhäuser und war von einer auffallenden Sauberkeit.
Der Vorgarten war gepflegt und tadellos auf den kommenden Winter vorbereitet, der Jägerzaun, der in gewissem Sinne zu dem Bild dazugehörte, war frisch und in der passenden Farbe gestrichen und die Auffahrt in die angrenzende Garage war sauber gefegt und wies in ein ebenso sauberes Heim.
Gäbe es um diese abendliche Zeit, die novembermäßig abweisend und kalt erschien, einen Spaziergänger durch das Wohnviertel, er wäre ohne Zweifel angezogen gerade von der Wohnstätte der Familie Klein.
Das Haus selbst war dunkel, bis auf das Wohnzimmer, in dem sich das Ehepaar Klein um diese Zeit aufhielt, schweigend und jeweils der eigenen Tätigkeit nachhängend.
Wolfgang saß am Schreibtisch, der in einer Nische des Zimmers untergebracht war, die funktional und dem Zweck entsprechend eingerichtet und im hintersten Winkel des Raumes gelegen war, sein massiger Körper fand kaum Platz auf dem Stuhl, sein Gesicht allerdings zeigte trotz seiner 49 Jahre kaum Spuren des Alterns. Wolfgang wirkte wenigstens im Antlitz zumindest kindlich, fast babyhaft.
Er saß über Papiere gebeugt, Abrechnungen seiner Tätigkeit, und hatte auch die Anwesenheit seiner Frau verdrängt.
Petra lag auf dem Ledersofa in der anderen Ecke des Raumes, beschienen vom dumpfen Licht der Wandlampe, mit einer Illustrierten in der Hand. Ihre harten Gesichtszüge verwischten etwas den Eindruck, den ihr sportlicher Körper und ihre kontrollierten Bewegungen machten. Die Augen waren müde; die Krähenfüße in den Augenwinkeln und die Wangen, die einen Tic zu sehr herunterhingen, bewiesen, dass das Alter auch von dieser einstmals schönen Frau Besitz ergriffen hatte. Ab und zu blickte sie auf, als erwarte sie irgend etwas von ihrem Mann.
Das Schweigen in dem Zimmer, in dem selbst die Wanduhr stillzustehen schien, wurde von den Geräuschen, die Wolfgangs Stift auf den Papieren machte, nicht durchbrochen, sondern umschirmt. Petra schlug dann und wann eine Seite um, um danach wieder in Starre zu verfallen.
„Wie kommst du nur darauf, dass alles so weitergehen kann?“, war der Satz, mit der sie die Stille beendete.
Wolfgang schrieb zwei Sekunden weiter, ehe er reagierte. Er blickte sich um zu seiner Frau, fragte „Was?“ und strich sich eine Strähne aus seinem Gesicht. Die Haare waren fettig, klebten an der Kopfhaut, nur diese eine unwillige Strähne leistete Widerstand. Er blickte hinüber zu seiner Frau mit fragendem Blick.
„Es kann so nicht weitergehen“, antwortete Petra. „Nicht so wie bisher. Irgendetwas muss geschehen!“
„Was meinst du?“
Wolfgang drehte schwerfällig seinen Leib in die Richtung seiner Frau. Er hatte Mühe damit, in den letzten Jahren war der Körper immer breiter und der Antrieb zu jedweder Bewegung immer kleiner geworden.
Petra lachte auf und legte die Zeitschrift beiseite. Sie setzte sich und sagte: „Es spielt sich vor deiner Nase ab, Blödmann!“
Eine kleine Pause, die Wolfgang brauchte, um zu verdauen.
„Mach deine Augen verdammt!“, fuhr Petra fort und man spürte, dass sie voller Wut war. „Wir sind pleite. Die Rechnungen, die jetzt reinkommen, bleiben liegen bis zum nächsten Monat. Und wenn die bezahlt sind, bleiben die nächsten liegen. Irgendwann fliegt der ganze Schwindel auf. Wir sind pleite, das ist los.“
Wolfgang schluckte. Die seltsame Stille kehrte wieder zurück, zumindest für einige Augenblicke. Dann sagte er mit einer Stimme, verwittertem Ziegel ähnlich: „Das ist nur vorrübergehend.“
Sie lachte freudlos. „Vorrübergehend? Wir sind blank! Wolfgang, verabschiede dich von deinen Träumereien. Wenn nicht ein Wunder geschieht, können wir in ein, zwei Monaten die Rate fürs Haus nicht mehr zahlen. Was bist du für ein Traumtänzer?“
„Ich werde Sonderschichten schieben.“
„Mit deinen Staubsaugern?“ Noch einmal das Lachen, diesmal versetzt mit etwas Boshaftigkeit. „Mach dich nicht lächerlich! Deine Tingelei bringt jetzt schon kaum was ein. Wenn du losziehst mit den Dingern, gibst du mehr fürs Essen aus, als du am Ende der Woche nach Hause bringst. Es war ein Fehler, sich selbstständig zu machen, sieh es ein!“
„Was?“ Er machte große Augen. „Du warst doch diejenige, die mir zugeredet hat! Als ich noch zögerte, hast du mich angestachelt. Tu es, hast du gesagt.“
„Weil ich angenommen habe, dass du dich etwas geschickter anstellen würdest in dem Beruf.“
„Das ist die Zeit, Petra. Denkst du vielleicht, die Leute kaufen Staubsauger reihenweise, wenn es ihnen schlecht geht?“
„Schlecht geht, das ist das Stichwort. Die einzigen, die mich wirklich interessieren, sind wir. Und uns geht es schlecht. Verstehst du, uns geht es wirklich mies. Du bist die ganze Woche außerhalb.“ Sie wies auf die Rechnungen und Verträge, die vor Wolfgang auf dem Schreibtisch lagen. „Morgen bist du wieder verschwunden und kommst frühestens Donnerstag zurück. Ich“ – sie klopfte sich gegen die Brust – „ich muss die Rechnungen bezahlen, die Versicherungspolicen, das Gas, den Strom. Monat für Monat. Und ich bin es, die zur Bank gehen muss und um Aufschub bettelt. Wieder mal. Du kommst nach Haus und der Tisch ist gedeckt.“
Wolfgang griff die Blätter auf dem Tisch und schichtete sie umständlich zu einem Stoß. Mit seinen Fingern durchfuhr er das Papier, nur um sofort den Stapel neu zu ordnen. Und immer mit dem Blick auf seine Frau.
„Es wird wieder laufen.“
„Es wird wieder laufen“, äffte sie ihn nach. „Es muss etwas geschehen. Ich habe keine Lust mehr zu warten, bis es besser läuft. Wenn es besser läuft, bin ich vielleicht schon alt. Wir haben all die Jahre gewartet, bis es besser läuft.“
Sie hatte sich aufgesetzt. Die Wangen, die sie sich vorhin gecremt hatte, glänzten.
„Was willst du tun?“, fragte Wolfgang.
„Die Galinskis“, antwortete sie knapp.
Er wusste sofort, was sie meinte. „Nein“, sagte er entschieden.
„Sie sind zum Sonnabend eingeladen“, meinte Petra bestimmt. „Das ist die beste Gelegenheit. Wir werden sie fragen, das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sie aufstehen, rausgehen und ihr Essen stehen lassen.“
„Genau das werden sie tun.“
„Du fragst ihn. Und wenn du es nicht tust, dann werde ich fragen. Sie sind unsere Freunde, sie werden uns verstehen.“
„Eben weil sie unsere Freunde sind, finde ich das keine gute Idee.“
„Du fragst!“ Sie legte sich nieder, nahm die Illustrierte wieder in die Hand und versteckte sich dahinter. „Du fragst, das ist die einzige Chance, die wir noch haben.“
Wolfgang blickte noch eine ganze Weile zu ihr hinüber, beobachtete, wie sie die Seiten blätterte und ihn nicht mehr beachtete. Er beugte sich über seine Rechnungen.
Das Wetter verschlechterte sich zunehmend über die Woche, die Temperaturen sanken und Regen setzte ein. So dass am Samstag schließlich bitteres, abweisendes Novemberwetter herrschte.
Galinskis kamen im Regen an.
Wolfgang und Petra warteten im erleuchteten Eingang auf das befreundete Ehepaar und bildeten mit ihrer Silhouette einen heimeligen Schattenriss, der sich in der unwirtlichen Nacht abhob.
Als zwei Lichter in die Einfahrt bogen und erkennbar war, dass es sich um die des BMWs der Galinskis handelte, spannte Wolfgang einen Schirm auf und ging hinunter zu der Auffahrt. Der Regen trommelte auf das Leinen und es hatte etwas Rührendes, wie er dastand in der Finsternis und auf die Lichter des Wagens wartete.
„Das ist mir ein Empfang“, rief Jacob Galinski, als er aus dem Auto stieg. Wolfgang kam mit Friede Galinski unterm Schirm zu ihm herum und gemeinsam – wie mit einem Führer in einem komplizierten Höhlensystem – gingen sie zum Haus, in dessen Eingangstür Petra mit verschränkten Armen wartete.
Jacob umarmte sie mit weitausholender Bewegung, Petra ließ es sich gefallen und Friede stand etwas unschlüssig daneben. Wolfgang empfand so etwas wie Eifersucht; allerdings währte das nicht lange. Er drückte Friede die Hand und hieß sie freundlich willkommen. Sie lächelte ihr eigentümliches verhuschtes Lächeln, von dem man nie wusste, ob sie es aus Freude tat, aus Angst oder aus Mitleid.
Jacob drehte sich um zu Wolfgang und einen Moment lang erwartete Wolfgang, er wolle ihn ebenfalls umarmen. Doch er packte nur kräftig zu und schüttelte seine Hand. Obwohl Jacob mindestens einen Kopf kleiner war als er und bedeutend schmächtiger, hatte Wolfgang doch den Eindruck, Jacob wolle seine Hand zerquetschen.
„Kumpel“, sagte Jacob wie nebenbei und ließ endlich ab. Sie drehten sich um und gingen ins Haus.
Jacob Galinski war genauso groß wie seine Frau Friede. Wahrscheinlich deshalb und wegen ihrer Zurückhaltung und ihrer Eigenart, stets ihrem Mann den Vortritt zu lassen, machten sie den Eindruck eines harmonischen Paares. Sie passten einfach gut zueinander.
Die goldgeränderte Brille und das goldene Armband machten Wolfgang seit jeher nervös, als wären sie die Eintrittskarten zu einer anderen Schicht, zu der er keinen Zutritt hatte.
Friede war blass, aber auf ihre Art schön. Es hatte einen gemeinsamen Ausflug gegeben, da waren Wolfgang und sie sich beinahe näher gekommen, doch es war gut möglich, dass er sich da nur etwas eingebildet hatte. Das Ganze war einige Jahre her, die Ehe der Kleins hatte damals kurz vor dem Zerbrechen gestanden.
Sie hatten für jeden ein Glas Champagner vorbereitet, den sie vor dem Kamin tranken.
„Champagner, nichts darunter“, hatte Petra gesagt, als Wolfgang sich über den Preis mokieren wollte.
Als sie ausgetrunken hatten – Jacob in einem Zug und nicht ohne den alten Scherz anzudeuten, das Glas gegen die Wand werfen zu wollen – sagte Petra: „Wir freuen uns, dass ihr kommen konntet.“ und sah Jacob dabei an.
„Ja“, setzte Wolfgang hinzu.
„Danke“, erwiderte Jacob und legte einen Arm um Friede, obwohl er immer noch Petra im Auge hatte.
Die beiden Damen gingen, wie auf ein geheimes Kommando, in die Küche und Wolfgang und Jacob setzten sich in zwei Sessel, die am Kamin standen. Jacob hielt dem Hausherrn eine Schachtel Zigaretten hin und gemeinsam rauchten sie.
„Alles in Ordnung, mein Bester?“, fragte Jacob, nachdem er den Qualm mit Wonne in Richtung Kamin ausgestoßen hatte. „Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen, was?“
„Ja“, antwortete Wolfgang. Er hatte seit einigen Jahren keine Zigarette mehr geraucht; er hatte Mühe, nicht zu husten. „Eine ganze Weile. Das Leben läuft so weiter, weißt du ja. Immer im Fluss.“
„Alles im Fluss, ja, ja natürlich.“ Er war ganz begeistert von dieser Redensart und Wolfgang war es peinlich, denn er wusste nicht, was so erheiternd an dem Spruch war.
Nachdem er sich beruhigt hatte, fragte Jacob: „Ganz im Vertrauen: Ihr hattet damals diese kleine Haushaltshilfe. Wo ist sie denn, arbeitet sie nicht mehr für euch?“
Wolfgang warf den Kippen in den Kamin.
„Die Haushaltshilfe meinst du?“, fragte er. „Da warst du aber lange nicht bei uns.“
„Was denn, ist sie nicht mehr?“ Jacob lachte, doch Wolfgang blickte ihn mit traurigem Blick an.
„Wir mussten sie schon lange entlassen. Wir sind...“
Als er stockte, sah Jacob auf und sein Lachen erstarb. Dafür lachte Wolfgang gequält auf, doch der heitere Ton wollte ihm nicht gelingen.
„Tja, du weißt ja, wie das ist“ fuhr er fort. „Alles wird teurer, überall wird draufgeschlagen.“
„Ihr könnt sie euch nicht mehr leisten?“ Wolfgang war froh über Jacobs Taktgefühl, das ihn die Frage einige Stufen leiser stellen ließ.
„Wir hatten Sonderausgaben, die waren nicht eingeplant. Und, na ja. Du weißt schon, wie das ist.“
Als Jacob nickte, hörten sie Petra rufen. Das Essen war gerichtet.
Sie hatten sich alle Mühe gegeben. Es war keine Frage, worauf es bei dem Abendessen ankam. Petra wie auch Wolfgang waren konzentriert bei der Sache.
Es gab Parmaschinken mit Melonenspalten als Vorspeise, dazu reichte Petra einen Rucola mit gebratenen Austernspitzen und Parmesanspänen.
Bei der Suppe hatten sie sich beide in die Haare gekriegt. Wolfgang wollte eine einfache klare Brühe mit Einlage. Doch setzte sich Petra durch mit ihrer Ingwersuppe mit Garnelen.
Als Hauptgericht trug Petra schließlich die Schweinelendchen herein, in Gorgonzolasoße, Wolfgang brachte seinen Auberginenauflauf in Nudeln, und beide waren stolz und sonnten sich im Lob ihrer Gäste.
Jacob lobte das Essen über die Maßen, Friede nickte lächelnd und tupfte sich die Mundwinkel ab.
Sie zogen sich, jeder ein Tässchen schwarzen Mokka in der Hand, vor den Kamin zurück. Jacob rauchte eine Zigarette, Friede und Petra unterhielten sich leise miteinander und Wolfgang war fast der Meinung, es wäre alles in Ordnung.
Im Kamin das Feuer schien heller zu flackern und gab den Gesichtern der davor Sitzenden etwas Geisterhaftes, Unstetes. Friede lachte auf, war sich im selben Moment dessen bewusst und lächelte beschämt. Ihr Mann sah sie an und niemand der Kleins konnte den Blick deuten.
In das Schweigen hinein sagte Petra: „Wolfgang hatte noch etwas zu fragen.“
Das Schweigen war jetzt noch fassbarer, die Blicke auf Wolfgang gerichtet.
„So“, fragte Jacob nicht unfreundlich. „Was denn nur?“
Wolfgang stellte vorsichtig seine Tasse auf das Teetischchen. Er rückte sie umständlich zurecht und blickte sie noch einige Momente an, als er damit fertig war.
Dann sah er Jacob direkt in die Augen und hielt dem Blick stand, obwohl es ihm Mühe bereitete. Friede sah zu ihm auf und Erwartung blitzte in ihren Augen und Petra schaute demonstrativ Richtung Kamin.
„Tja, also“, begann er und fragte sich, ob es besser wäre, im Ganzen mit dem Anliegen herauszuplatzen. „Petra und ich, wir haben uns in der letzten Zeit ein wenig übernommen.“
„Das Essen war ausgezeichnet“, fiel Jacob ein. „Wunderbarer Salat, und so. Wirklich ausgezeichnet!“
„Nein, das ist es nicht. Ich meine finanziell.“ Er lächelte nervös. „Verstehst du? Wir sind ein wenig klamm. Und nachdem wir uns beratschlagt haben – wir haben wirklich diskutiert! – fragen wir beide uns, ob ihr uns nicht ein wenig... etwas, nun ja, unter die Arme greifen könntet.“
Petra atmete hörbar aus. Ihre Miene, als sie den Blick vom Kamin wieder Wolfgang zuwandte, war versteinert.
Er lächelte noch immer unsicher.
Jacob schaute überrascht. Nun stellte auch er seine Mokkatasse auf den Tisch und warf mit kühnem Schwung den Zigarettenkippen in die Kaminglut. Als er sich wieder zurück zu Wolfgang wandte, war die Überraschung aus seinem Gesicht gewichen und er trug sein übliches Lächeln zur Schau.
„Natürlich helfen wir euch“, sagte er und setzte hinzu: „Gern. Ein paar hundert Euro können wir jederzeit locker machen, nicht wahr, Friede?“
Friede nickte; Wolfgang hatte fast den Eindruck, sie sei erschrocken.
„Nein“, wehrte er ab und es war ihm peinlicher, als die ursprüngliche Frage. „Nein, das war so nicht gemeint.“ Er schaute zu Petra und die wich seinem Blick aus.
„Wir hatten eigentlich an einige zehntausend Euro gedacht“, sagte er leise.
Jacob lachte laut auf. „Kommt gar nicht in Frage“, sagte er ohne zu überlegen. Damit drehte er sich um und wandte sich dem Feuer zu.
Das Schweigen, das sich nun zwischen den Anwesenden ausbreitete, war unangenehmer als zuvor. Die Worte Jacobs hingen noch im Raum, und Petra und Wolfgang schienen unfähig, darauf zu reagieren.
Wie um sich vor sich selbst zu entschuldigen, setzte Jacob leise hinzu: „Ich habe ja jetzt noch keinen Cent von den zwölftausend aus dem vergangenen Sommer.“
„Aber du kriegst sie sicher zurück“, versuchte es Wolfgang noch einmal.
Jacob stand unbeweglich vor dem Kamin, die Arme vor die Brust verschränkt, den Blick nach unten aufs Feuer gerichtet und stieß eher aus, als dass er es sagte: „Nein!“
Wolfgang wollte etwas erwidern, doch Petra sprang plötzlich auf und lief durchs Zimmer. „Ich hole uns erst mal einen Cognac“, rief sie, während sie hinauseilte.
Wolfgang setzte sich langsam in einen schweren Lehnsessel, der zusammen mit drei anderen um den kleinen Tisch platziert war. „Setzt euch doch!“, sagte er. „Setzt euch und macht es euch bequem.“ Er machte ein herzliches Gesicht und eine einladende Geste.
Widerwillig setzte Friede sich an seine Seite, Jacob ihr gegenüber.
„Was macht eure Tochter? Erzählt, ich habe lange nichts mehr von ihr gehört.“
Petra betrat den Raum wieder. In der einen Hand hielt sie eine Flasche Dujardin, dazu zwei Schwenker. In der rechten trug sie die restlichen Cognac-Gläser.
Sie goss wortlos die vier Gläser voll. Schweigen herrschte währenddessen, andächtige Aufmerksamkeit eines Jeden auf diese Handlungen.
Nachdem sie eingegossen hatte, sah sie in die Gesichter und blieb mit ihrem Blick bei Jacob hängen. Sie stellte die Cognac-Flasche auf den Tisch, jedoch ohne Jacobs Antlitz aus den Augen zu verlieren. Der sah ihr aufmerksam zu und folgte jeder ihrer Bewegungen mit seinem Blick, ohne allerdings seinen Kopf zu drehen.
„Ich denke, du wirst uns das Geld doch geben“, sagte Petra leise, als sie sich neben ihren Mann gesetzt hatte. „Du wirst uns das Geld geben, und irgendwann, wenn es uns möglich ist, werden wir es dir zurückzahlen.“
„Ich glaube nicht, dass ich euch Geld borgen werde, bevor ihr die Schulden bezahlt habt“, erwiderte Jacob und es lag kein besonderer Ton in seiner Stimme.
„Ich denke doch“, entgegnete Petra und lächelte. Sie prostete den anderen zu und trank einen kleinen Schluck.
Niemand anderes wagte, sein Glas anzurühren; Wolfgang zwinkerte nervös, als er seine Frau anschaute und herauszufinden versuchte, was sie vorhatte.
Als sie die Spannung am höchsten wusste, die Augen geöffnet erwartungsvoll und fragend, fuhr sie leise, kaum hörbar, aber doch für alle verständlich, fort: „Jemand hat mir etwas erzählt, Jacob. Etwas, von dem du sicher nicht möchtest, dass es andere erfahren.“ Und schaute nun ihrerseits erwartungsvoll in die Runde.
Jacob starrte sie einige Sekunden sprachlos an und stieß dann hervor: „Red keinen Unsinn!“
„Kein Unsinn, Jacob! Das weißt du genau. In deiner Stellung, du bist Juwelier! Denke an das Gerede, die Leute.“ Sie lehnte sich zurück. „Du sollst uns das Geld ja nicht schenken.“
„Was erzählst du hier für einen Scheiß!“, platzte Jacob hervor und man sah es ihm an, dass er ernstlich erbost war. Er sah zu Wolfgang und beinahe hätte es den Anschein, als sende er eine stumme Frage: „Was hat sie?“, fragte er schließlich in diese Richtung. „Was hat sie nur?“
Und Wolfgang blickte hilflos und ein wenig ängstlich zurück, sah erst zu Jacob mit einem entschuldigenden und dann auf seine Frau mit einem fragenden Ausdruck.
„Jacob, erinnere dich dreißig Jahre zurück, das wird dir nicht schwer fallen, oder?“
Den kurzen, verhuschten Seitenblick Jacobs auf Wolfgang konnte nur erkennen, wer genau hinsah. Deutlich allerdings wurde, dass Jacob bleich wurde und seine Augen die Form von Schlitzen annahmen. Er starrte Petra an und überlegte.
„Ich glaube, du weißt, was ich meine“, fuhr Petra fort. Ihr Tonfall war sicherer geworden und hatte eine Spur Gleichgültigkeit angenommen. „Du warst gemeinsam mit Wolfgang beim Bund, nichtwahr?“ Eine kurze Pause. „Euer erster Ausgang, Jacob. Euer erster gemeinsamer Ausgang. Nach vier Monaten in dieser verdammten Kaserne, in der man euch geschliffen hatte wie Hunde. Kannst du dich erinnern?“
Lauernder Blick von Petra. Ohne ihn zu senken, griff ihre Hand nach dem Cognac-Glas, nach einigem blinden Tasten erfasste sie es, setzte an und stürzte den Inhalt in einem Zug herunter.
Jacob schaute abwechselnd zu Petra und Wolfgang. Ganz zum Schluss fasste er Friede in den Blick, die sofort wegsah.
„Das ist sehr interessant“, sagte er mit einem Ton, der seine Festigkeit noch suchte. „Du willst mich erpressen!“
„Keine Erpressung, Jacob. Nenn es eine Erinnerung an vergangene Fehltritte.“
Er lachte bitter.
Petra fuhr fort: „Eine Vergewaltigung, Jacob! Eine Vergewaltigung ist ein Verbrechen!“ Sie lehnte sich wieder zurück in ihrem Sessel und Wolfgang bemerkte, dass nicht einmal ihre Fingerspitzen mehr zitterten. Seine zitterten dafür umso mehr.
„Wolfgang hat mir alles erzählt“, fuhr Petra fort. „Von eurer gemeinsamen Ausbildung in der Kaserne, den Strapazen und dem ersten Ausgang nach vier Monaten.“
Im Kamin knackte ein Holzscheit. Er loderte auf und verbreitete für Sekunden gleißende Helligkeit im Zimmer. Es war dunkel geworden draußen und das Kaminfeuer war die einzige Lichtquelle hier.
„Ihr habt getrunken, beide, und in der Kneipe ein Mädchen kennen gelernt. Ein hübsches junges Ding, und ich kann dich verstehen, nach den vier Monaten hinter den Mauern. Du wurdest zudringlich und sie ließ dich abblitzen. Sie verließ das Lokal und du bist ihr gefolgt. Draußen passierte es dann. Wolfgang hat es gesehen, er ist dir nachgegangen und hat euch beobachtet. Er hat dir nie etwas erzählt, Jacob. Aber mir hat er sich anvertraut, über zehn Jahre, nachdem es passiert ist. Das Mädchen hat geschrieen und du hast ihr den Mund zugedrückt. Als du...als du fertig warst, bist du runter gestiegen von ihr und hast sie liegen lassen, wimmernd und schluchzend, wie einen jungen, geprügelten Hund. Es muss schrecklich gewesen sein.“
Als wäre nichts passiert, stand Petra auf, ging hinüber und schaltete eine Wandlampe an. Das Licht, das zu allen anderen Zeiten weich und warm strahlte, schien jetzt hart und gleißend. Es beleuchtete schonungslos Jacobs Gesicht, mit allen arbeitenden Muskeln darin.
Er starrte vor sich hin ins Leere und schien auch nicht zu bemerken, dass Petra sich wieder setzte. Seine Kiefern mahlten und einmal hatte es den Anschein, als lächele er kurz. Ein hässliches Grinsen, das im nächsten Moment wieder verschwunden war.
„So“, sagte er schließlich und sah dabei Wolfgang an. „Dein Mann hat es dir also erzählt.“ Er stand mit einem Ruck auf, streckte sich und wandte sich zu Friede um. „Nun, dann will ich dir sagen, liebe Petra, dass ich diesen Vorfall längst meiner Frau gebeichtet habe und sie mir verziehen hat. Nicht wahr, Friede?“
Friede zuckte erschrocken zusammen und nickte schließlich stumm, die Lippen fest zusammengepresst.
„Wir haben also beide unsere Schuldigkeit getan, Wolfgang und ich.“ Er verließ mit langsamen Bewegungen das Rund und als er sich an Wolfgang vorbeischob, war nicht zu entscheiden, ob das schmerzhafte Zusammenstoßen mit dessen Knie aus Absicht oder nur zufällig geschah. Wolfgang stöhnte auf.
„Gibt’s noch einen Cognac“, fragte er und reichte Petra sein Glas. Sie nahm es ihm ab und füllte es auf mit dem guten Weinbrand. Freundlich bedankte Jacob sich, als er das gefüllte Glas entgegennahm.
Und dann stand er vor der Sitzgruppe mit seinem Glas in der Hand und skandierte mit bedeutsamen Gesten seinen Text wie George Washington vor versammelter Menge.
„Und weiß Gott, es gab kaum einen Tag seit jenem verhängnisvollen Abend, an dem ich mein Tun nicht bitter bereut und um Verzeihung gebetet hätte.“
„Lass sein, Jacob! Dir nimmt diese Pose niemand ab“, warf Petra dazwischen. Auch sie hatte sich nachgeschenkt und der Alkohol machte sich in ihrem Gesicht bemerkbar, das eine durchgehende Röte angenommen hatte.
„Allerdings gibt es da einen Zwiespalt zwischen Wolfgangs Erzählung und meiner Version. Nicht wahr, Wolfgang, du hast nicht die ganze Wahrheit erzählt, du hast einiges weggelassen.“
Der Angesprochene antwortete nicht, seine Finger arbeiteten unablässig, der Blick war starr auf Jacob gerichtet, der Ausdruck in den Augen schwankte vom flehenden Bitten zum harten Trotz. Wolfgang begann zu schwitzen.
„Denn der gute Wolfgang“, fuhr Jacob fort, nachdem er einen weiteren Schluck aus dem Glas genommen hatte. „Der gute Wolfgang war an der Vergewaltigung genauso beteiligt wie ich. Ich gebe meine Schuld zu, aber er hier, der da sitzt und zittert, hat genauso Verantwortung am Geschehen.“
Er baute sich vor Wolfgang auf, der in der Tat zu ihm aufblickte, mit Angst und Feigheit im Blick.
„Kannst du dich erinnern?“ Jacob war kleiner als Wolfgang, und jetzt, wie er vor dem Sitzenden stand, überragter er ihn gerade um eine Kopfeslänge. „Du hast sie festgehalten.“ Jacob unterbrach sich, dachte nach, fuhr dann fort. „Das Mädchen. Du hast sie gehalten und hernach, Wolfgang – du warst genauso geil wie ich – musste ich sie für dich halten, damit du deine Lust stillen konntest.“
Wolfgang gab ein Stöhnen von sich, bewegte sich aber nicht. Er schaute immer noch zu Jakob auf, der sich langsam zum Tisch hinabbeugte und seine Zigaretten griff. Vorsichtig, behutsam, jede einzelne Bewegung auskostend, zündete er sich eine an, inhalierte tief und legte die Schachtel schließlich zurück auf den Tisch. Dann sah er jeden einzelnen an und als er Petra ins Auge gefasst hatte, begann er zu lächeln.
„Ich glaube, damit haben wir einige Unstimmigkeiten beseitigt, meinst du nicht auch?“
Petra antwortete nicht, obwohl Jacob demonstrativ vor ihr stehen blieb und sie anstarrte. Sie drehte sich weg und ihr Blick ging zu Wolfgang. Der starrte vor sich hin und atmete laut und geräuschvoll.
Jacob schnipste den Zigarettenstummel in den Kamin und setzte sich wieder in seinen Sessel neben seine Frau.
Friede vermied jeden Blickkontakt mit ihm. Sie hielt sich krampfhaft an ihrem Glas fest.
„Nun sind wir also beides Halunken“, sagte Jacob in die Stille hinein. „Zwei Vergewaltiger, die mit ihrer Schuld leben müssen.“
„Was ist mit dem Mädchen geworden“, fragte Friede leise aber unüberhörbar.
„Nie wieder etwas gehört. Was meinst du, wir waren vollkommen fertig am anderen Morgen. Jede Minute rechneten wir damit, dass sich jemand nach uns erkundigen würde. Aber es geschah nichts, der Alltag ging weiter. Die Kleine wird keine Anzeige gemacht haben. Hat sich geschämt oder was. Wir haben jedenfalls nie wieder etwas zu Hören bekommen von ihr. Nicht wahr, Wolfgang.“
Das Kopfschütteln war kaum zu bemerken.
„Ich muss raus!“
Mit einer heftigen Bewegung sprang Petra auf. „Ich muss in die Küche“, setzte sie hinzu und eilte hinaus. Als sie an Wolfgang vorbeikam, zischte sie ihm zu: „Du bist nicht nur dämlich, du bist auch ein Schwein.“
Wolfgang blickte ihr kurz hinterher, wie sie den Raum verließ.
Friede stand auf und folgte ihr wortlos.
Sie trugen das Geschirr in die Küche, säuberten es und räumten es schließlich in den Spüler. Alles taten sie schweigend.
Schließlich standen die beiden Frauen in der Küche, lehnten an den Schränken und unterhielten sich zaghaft.
„Was muss man tun, um Männer zu verstehen?“, fragte Petra und es war mehr als eine rhetorische Frage. „Es scheinen alles Schweine zu sein. Alles. Schwanzgesteuert und ab einem bestimmten Punkt nicht mehr in der Lage, zu denken.“
Friede nickte nur und nippte an ihrem Glas.
„Hast du etwas gewusst, von dem Vorfall?“
Friede nickte wieder, sagte aber nichts.
„Wolfgang ist so dämlich. Ich hätte nie davon anfangen sollen.“
„Wie viel braucht ihr denn?“
Petra sah sie an. „Mindestens fünfzigtausend.“
„Jacob wird sie euch niemals geben. Nicht, nach dem, was vorgefallen ist.“
„Das fürchte ich auch.“
Die beiden Frauen standen sich wieder schweigend gegenüber. Friede war etwas kleiner als die Gastgeberin. Petra stand vor ihr, musterte die andere Frau und Friede hielt ihrem Blick stand. Sie war verunsichert und wusste ums Verrecken nicht, wie sie Friede einschätzen sollte.
Und Friedes Ausdruck war von Gelassenheit kaum zu unterscheiden.
„Ich werde mich von ihm scheiden lassen“, sagte Petra, um die Stille zu unterbrechen. Ich bin mir fast sicher, dass es so, wie es jetzt läuft, nicht weiter gehen kann.“
„Das tut mir Leid.“ Friedes Ausdruck änderte sich nur unwesentlich.
„Kann man denn gar nichts machen?“
„Er ist so ein verdammtes Weichei“, wetterte Petra. „Er kann sich einfach nicht durchsetzen. Er kümmert sich um gar nichts in unserem Leben. Ich wette, er weiß nicht mal, dass wir Schulden haben. Er ist so...naiv.“
Sie sah Friede erwartungsvoll an, doch diese kam noch immer nicht aus ihrer Rolle heraus. Sie erwiderte den Blick stoisch und murmelte etwas von „Da kann man nichts machen.“
Im Rauchzimmer währenddessen hatten sich Jacob und Wolfgang Sachen zu sagen, die sie nicht für Frauenohren gut wähnten. Kaum hatte sich die Tür hinter Petra geschlossen, zischte Jacob: „Bist du völlig bescheuert, sag mal!“ Er stellte das Cognacglas aus der Hand; er zitterte.
„Wie viele wahnsinnig gewordenen Teufel haben dich geritten, deiner Frau von dieser alten Kamelle zu erzählen“, fluchte er.
Wolfgang saß noch immer zusammengesunken in seinem Sessel und blickte auf zu Jacob.
Hilflos begann er: „Ich wollte...“
„Ich wollte!“, unterbrach ihn Jacob lauthals. Sein Gesicht war plötzlich puterrot, eine Ader wurde sichtbar auf seiner Stirn, er steigerte sich geradewegs in einen cholerischen Anfall hinein. „Du bist zu dämlich, auch nur zwei Zeilen für dich zu behalten! Ich hätte es damals wissen müssen.“
„Ich war betrunken, als ich es ihr erzählt habe.“
„Du Trottel! Wenn du betrunken bist, gibst du alles preis, was? Hier!“ Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, dass ein heller Abdruck zurückblieb. „Nachdenken sollst du, nachdenken! Ist das noch nicht durchgedrungen zu dir?“
Jetzt schlug er Wolfgang gegen die Stirn, dass es klatschte. Der bullige Mann zuckte zurück, senkte seinen Blick und wich aus. „Lass das bitte“, murmelte er.
„Nachdenken, Klein“, wütete Jacob und Wolfgangs Augen weiteten sich. Er lehnte sich in seinem Sessel noch weiter zurück, aber die Grenze war erreicht. „Nachdenken, du Spinner. Das Weib ist abgezogen und hat sich nie wieder gemeldet. Nichts wäre rausgekommen, nichts! Und da kommst du Idiot und tratschst alles aus. Die ganze Geschichte! Hat man Worte.“
Mit einem Schlag beruhigte er sich wieder, ging zwei Schritte zurück und starrte Wolfgang an.
„Und erzählt dann nicht einmal die richtige Version, die miese, feige Sau“, zischte er. „Diese Memme. Erzählt seiner Frau, er sei die Jungfrau Maria. Nur zugeschaut, was?“
Wieder ein Schritt auf Wolfgang zu. Der zuckte zurück.
„Hör auf mit dem Scheiß“, flüsterte er.
„Aufhören?“, schrie Jacob. „Hör du auf! Sei endlich ein Mann, du Flasche. Was dein Weib mit dir macht, ist peinlich. Zeig endlich Widerstand!“
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Petra stand in der Tür, hinter ihr Friede und sie starrten die beiden Männer an.
„Kommt ruhig rein“, rief Jacob, nachdem er geschluckt hatte. „Wir unterhalten uns gerade nett.“
Petra kam ins Zimmer hinein und setzte sich auf den Stuhl, der dem am entferntesten war, auf dem Wolfgang saß.
„Tatsächlich“, fragte sie. „Lasst euch durch uns nicht stören.“ Dann blieb sie stumm sitzen und blickte Jacob erwartungsvoll an.
Nachdem einige Minuten sich niemand etwas zu sagen traute, nur das tiefe Atmen von Wolfgang und das Rascheln des Anzuges von Jacob zu hören gewesen waren, sagte Petra: „Ich frage mich ernsthaft, warum du nicht gewillt bist, uns die paar Piepen zu borgen. Jacob, du schwimmst im Geld und bist nicht fähig, uns unter die Arme zu greifen?“
Jacob lachte auf. „Das Geld, in dem ich schwimme, habe ich mit meinen Händen erarbeitet. Niemand anderes als er selbst ist Schuld, dass dein Mann ein billiger Staubsaugervertreter ist.“
Ein Strich im Gesicht Petras war ihr Mund. Jetzt sah man hässliche Falten in diesem Bereich, jetzt wo sie die Lippen aufeinander presste. Ein kurzer Seitenblick zu Wolfgang, der immer noch starr in seinem Sessel saß, dann sagte sie: „Du bist ein Arschloch.“
„Ich habe das Geld.“ Er grinste. „Und den da“ er zeigte auf Wolfgang „den hast du dir gut erzogen. Du hast was besseres verdient, als diesen Schlappschwanz.“
„Jacob!“ Wolfgang war wieder zu Leben erwacht. „Lass den Scheiß! Wir werden noch einen trinken.“
Damit wuchtete er sich aus dem Sessel auf und griff sich die Cognacflasche.
„Schau ihn dir an, deinen Staubsaugervertreter!“ keifte Jacob weiter. „Ich wette, er kriegt keinen mehr hoch.“
„Jacob!“ Friede versuchte zu protestieren. Sie stand noch immer in der Tür, unfähig, sich zu bewegen.
„Es ist so! Sieh ihn dir an, der ist zeugungsunfähig.“ Er lachte und trank.
Bevor Petra den nächsten Satz sprach, herrschte eine aufgeladene, knisternde Stille. Für einen kurzen Moment verband die vier in dem Raum eine Atmosphäre der Elektrizität, eine Spannung, die Atome zum vibrieren bringen konnte.
Dann sagte Petra: „Woher weißt du das?“
Entgeistert starrte Jacob sie einen Moment an. Dann lachte er hemmungslos. Doch plötzlich erstarb sein Lachen, das Gesicht wurde zu einer Maske und er fragte: „Von wem war dann das Kind?“
„Welches Kind?“, kam es von Wolfgang.
Und alle Blicke lagen auf Petra.
Sie hatte mit dem kurzen Satz ihren Mann demütigen wollen, doch mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
„Von welchem Kind redet er?“, hakte Wolfgang jetzt nach. Er erhob sich und stand unsicher vor dem Kamin, als sei er gerade erst aus einem tiefen Schlaf erwacht.
„Wir fahren, komm!“, sagte Friede plötzlich in die Stille hinein. „Gib mir den Autoschlüssel!“
„Ich will, verdammt noch mal wissen, welches Kind er gemeint hat“, kreischte Wolfgang nun. Er war puterrot im Gesicht.
„Du Supermann hast nicht einmal gemerkt, dass deine Frau schwanger war“, blaffte Jacob ihn an. „So kümmerst du dich um sie. Sie kriegt ein Kind und du schnallst nicht mal das.“
Petra zog scharf die Luft ein und stöhnte auf.
Wolfgang verlor jede Farbe aus dem Gesicht und starrte Jacob mit leerem Blick an.
„Was soll das heißen?“, fragte er leise. „Meine Frau – schwanger? Das kann nicht sein.“ Langsam, als fiele ihm selbst das schwer, hob er den Blick und sah zu Petra hinüber. „Das kann gar nicht sein.“
„Und doch ist es so“, sagte Jacob und trank mit einem tiefen Schluck sein Glas aus. Er war betrunken, man sah, dass er Schwierigkeiten hatte, die Balance zu halten und überdies fiel es ihm schwer, die Worte deutlich zu formulieren. Er lallte, doch plötzlich war eine tiefe Traurigkeit in ihm.
„Doch ist es so. Sie wurde schwanger und sagte mir, das Kind sei von dir. Deshalb wollte sie es wegmachen lassen. Es ist von meinem Mann, sagte sie, ich will es nicht haben.“ Er wischte sich übers Gesicht. „Und ich glaubte ihr.“ Er sah zu Petra. „Auch ich bin dir aufgesessen, du Hexe.“
„Mach dich nicht lächerlich, Jacob“, sagte Petra und blickte ihn kalt an. „Du hattest deinen Spaß und der war irgendwann vorbei. Punkt. Mach kein Drama draus!“
„Ich hätte ein Kind haben können“, flüsterte Jacob, sofort war es still im Raum, so dass die Worte deutlich und klar zu verstehen waren. Eine Träne lief über seine Wange und tropfte schließlich vom Kind auf sein Hemd. „Ein Kind, du weißt, wie wichtig das wäre. Friede ist unfruchtbar, wir können keine Kinder haben. Und du, du enthältst mir mein Kind, meinen Sohn vor?“
Er schaute Petra wieder an. „Du bist eine Hexe.“
Wolfgang stürzte sich mit nicht zugetrauter Energie auf Jacob , dem von dem Stoß sofort die goldene Brille von der Nase gerissen wurde. Beide fielen in den schweren Sessel – Jacob rücklings, mit wirklichem Entsetzen in den Augen und Wolfgang mit seiner ganzen körperlichen Wucht auf ihm.
„Du Schwein“, presste er hervor. „Du Schwein hast meine Frau geschwängert.“
Es war offensichtlich, dass er nicht wusste, wie er weiter verfahren sollte, nie hatte es eine ähnliche Situation für ihn gegeben. Die Alternative, die er durchzuführen die Kraft aufbringen würde, wollte ihm nicht einfallen.
Eben wollte er halbherzig seinen Freund schlagen, als dieser ihn mit einer kraftvollen Bewegung von sich stieß und sich damit befreite. Wolfgang rollte haltlos zu Boden und blieb schwer atmend liegen.
Jacob sprang auf und bevor er sich irgend jemand anderem zuwandte, hob er seine Brille vom Boden auf und setzte sie behutsam auf die Nase.
„Denkst du, ich hätte nicht dein Techtelmechtel mit Friede bei unserem Radausflug bemerkt“, spie er zu Wolfgang hinunter. „Ich bin nicht dumm! Arschloch.“
„Lass uns gehen, Jacob.“
Es war kein bittender Tonfall, den Friede anschlug, auch kein fordernder. Eher war es so, dass jeglicher Ausdruck in ihrer Stimme fehlte. Der Satz klang blass und ohne Konsistenz.
„Gib mir die Autoschlüssel!“
Ohne Widerworte griff Jacob in seine Hosentasche und zog den Schlüssel hervor. Er reichte ihn Friede, die nahm ihn und drehte sich sofort um.
Im Eingangsbereich, als die Galinskis ihre Mäntel überzogen, kamen Kleins mit dazu: Wolfgang mit scheinbar geschrumpfter Statur und hängenden Schultern und Petra trotzig, aber nicht weniger deprimiert in ihrem Blick.
Friede reichte Petra und Wolfgang die Hand, ohne sie anzusehen und sagte leise: „Danke für alles.“ Dann ging sie vorsichtig die Treppe hinunter zu ihrem Wagen.
Jacob gab niemandem die Hand, sah aber nacheinander beiden in die Augen. Dabei loderte ein Triumph aus seinem Blick, der beinahe die ganze selbstgefällige Gestalt Jacob Galinskis zum Platzen brachte.
„Das dürfte ja dann unser letzter Besuch bei euch gewesen sein“, sagte er zu Petra und kurz blitzte ein Lächeln über sein Gesicht. Es sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber er besann sich eines besseren, drehte sich kurzerhand um und stieg die Treppe hinab.
Friede hatte den Motor angelassen und das Licht des Wagens eingeschalten. So wartete hinter dem Lenkrad ein dunkler Schatten, reglos und lauernd.
Jacob stakste auf den Wagen zu und als er unmittelbar vor den Scheinwerfern war, heulte der Motor auf und das Fahrzeug schoss wie ein wildes Tier nach vorn.
Es gab ein kurze, trockenes Knacken, als Jacob nach vorn geschleudert wurde. Er flog haltlos durch die Luft und schlug endlich auf der Treppe – zu den Füßen der entsetzten Kleins – auf.
Friede stieg aus dem Wagen und ging auf ihren Mann zu.
„Ein Unfall“, rief sie zu den Kleins hinüber.
Dann blieb sie vor ihrem Mann stehen, der wie eine Puppe vor ihren Füßen lag – widernatürlich verrenkt und leblos.
Ihr Blick löste sich von Jacob und ging hinauf in den Eingang zu Petra und Wolfgang.
„Ein Unfall“, wiederholte sie.