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Leimrute
In der Klasse hatte keiner aufgepasst, auch ich nicht, und doch wusste ich als einziger die Antwort. Von da an war ich die Leimrute, Leimrute Oskar, weil es im Unterricht um den Vogelfang ging.
Ich war die Leimrute und vor allem ein großer Betrüger in den Augen meiner Klassenkameraden. Die mir jetzt in den Pausen den aus dem Rachen hochgezogenen Rotz vor die Füße spuckten. Dieselben, mit denen ich eben noch befreundet gewesen war, riefen jetzt im Chor: Leimrute Schleimrute, wenn ich morgens das Klassenzimmer betrat. Weil du ein Schleimer bist, meinte Narve, und setzte sich neben Peder.
Passt, meinte der Stiefvater, also der Name. Weil ja tatsächlich alles Gesagte und Gehörte bei mir kleben blieb. Unheimlich, meinte er, sei das.
Vielleicht für einen, der jeden Tag aufs Neue vergisst, dass er von der Milch Sodbrennen kriegt, murmelte die Mutter.
Und dann wurde noch dies gemeint und das gemurmelt, bis zuletzt der Stiefvater mit milchweißer Oberlippe und zornesrotem Kopf den Hut nahm und die Tür ins Schloss krachen ließ.
Aber bisschen stimmt’s schon, eh? Schlaumeier, du, kicherte die Mutter und ging aus dem Raum.
Juna mochte Rotkehlchen und ich mochte Juna. Schon deshalb staunte ich über den selbstgemalten Vogel an der Tafel und saugte jedes Wort ihres Vortrags auf. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr mochte ich selbst Rotkehlchen, ich fragte den Stiefvater, ob er mir mehr erzählen konnte, ob es stimmte, dass Rotkehlchen wühlenden Schweinen folgten, um dann von ihrem Fressen zu stibitzen und warum sie in Ameisen badeten, aber er war ja immer noch verschnupft, weil ich ihn vor der Mutter bloßgestellt hatte. Seine Milch trank er jetzt im Stall, wenn keiner zusah, und er wagte es auch nicht mehr, über das Sodbrennen zu klagen. Aber ich sah ihm immer gleich an, wenn er wieder litt, konnte spüren, wie das Feuer seinen Rachen entlangkroch, und dann suchte ich lieber das Weite.
Nach der Schule ging ich in den Wald. Ich hatte herausgefunden, dass, wenn ich ganz still sitzen blieb, ich selbst zum Wald werden konnte. Denn während ich anfangs dachte, alleine zu sein – was mir gut gefiel, weil mein Kopf weniger verklebte, wenn ich allein war –, nahm ich, wenn ich nur lang genug still saß, überall Bewegung wahr. Hörte es summen und rascheln und pfeifen. Und manchmal sah ich ein Rotkehlchen aufblitzen, ein Tupfen Rot im Grün des Waldes.
Morgens, wenn der Nebel um die Stiefel waberte, winkte ich der Mutter im Weggehen zu, wie ich es immer tat. Doch sobald ich außer Sichtweite war, bog ich in den Wald ab. Dann wusste ich schon, dass es Ärger geben würde, wenn ich am Mittag heimkam und die Lehrerin angerufen hatte, aber mit Ärger kannte ich mich aus. In der Schule landete die Spucke der anderen jetzt immer öfter auf der Jacke oder der Hose. Meistens, weil einer mich schubste, während ein anderer mir das Bein stellte. Manchmal aber auch einfach so, direkt aus Narves Mund zum Beispiel. Zehn Punkte pro Treffer, meinte Peder. Fünfzig in die Haare.
Wenn ich dann heimkam, schimpfte der Stiefvater. Eigentlich schimpfte er gar nicht, er sagte bloß, ach, der, aber das reichte schon, um zu wissen, was Sache war.
Deshalb ging ich in den Wald. Meistens alleine, manchmal mit Juna, zumindest stellte ich mir das vor, abends, wenn ich im Bett lag und schon lange schlafen sollte, wenn es vor dem Fenster pechschwarz war und man nichts mehr hörte außer dem Geklapper der Kühe im Stall. Wenn ich gerade noch mitbekam, wie der Stiefvater mit vollem Milchbauch leise die Tür schloss, bevor mir die Augen zufielen.
Ja, der Stiefvater trank jetzt so viel Milch, dass ich anfing, mir Sorgen um ihn und die Kälber zu machen. Denn wenn der Stiefvater bis spät in die Nacht Milch soff, dann bliebe für die Kälber ja nichts mehr übrig, dachte ich mir. Eigentlich wusste ich, dass das Blödsinn war, ich war ja kein Kind mehr. Trotzdem schlich ich eines Nachts in den Stall und da sah ich dann auch, was ich nicht sehen sollte, das, worüber ich kein Wort verlieren sollte, wenn ich nicht herausfinden wollte, ob es da draußen in der Welt noch einen Stiefvater gäbe, der dumm genug war, einen klugscheißenden Rumschnüffler durchzufüttern, eine kleine Pissnelke, die den ganzen Tag durch den Wald streunert und mit offenem Maul Löcher in die Luft glotzt, hohl wie die Milchkühe im Stall, nur zum Fressen und Scheißen gut, und jetzt schleich dich, du Mistratte! Und dann bekam er noch fünfzig Punkte.
Also schlich ich mich, zurück in die Stube, und fand so heraus, dass ich nicht der einzige war, der spät aufblieb. Aber die Mutter lag nicht im Bett und dachte an Juna. Sie saß bloß da, aufrecht, im Dunkeln, und schnaufte, dass es mir Angst machte.
Balder ist an der Mistel gestorben. Das haben wir in der Schule gelernt. Wo ich jetzt wieder hinging. Um den Stiefvater nicht weiter zu reizen. Weil ich die Mutter nicht wieder so schnaufen hören wollte.
Balder war der Sohn von Frigga und als Frigga um Balder weinte, verwandelten sich ihre Tränen in die Beeren der Mistel. Aber das war vor tausenden von Jahren, als es noch keine Schule gab, und zu meinem Glück gab es auch morgen keine Schule, weil morgen Weihnachten war.
Umso mehr sehnte ich mich nach Juna. Ich lag wach und stellte mir tausende Dinge vor, zum Beispiel, sie zu heiraten oder sie unter dem Mistelzweig zu küssen oder sogar das zu tun, was der Stiefvater mit der Bäckersfrau im Stall gemacht hatte. Vor der ich jetzt die Augen niederschlug, wenn die Mutter mich Brot kaufen schickte. Dabei war sie so schön, besonders in jener Nacht, mit ihren geröteten Wangen und dem verstrubbelten Haar, und manchmal dachte ich deshalb auch an sie, wenn ich nachts wach lag. Ich fand sie fast so schön wie das Rotkehlchen, das ich Juna zu Weihnachten schenken wollte.
Um die Stiefel waberte wieder die Nebelsuppe und darunter knirschte der Frost, als ich in den Wald stapfte. Ich rieb drei Stöcke mit Friggas Tränen ein und rammte sie in den Boden – zwei brachen ab, weil die Erde hartgefroren und ich seit dem Sommer groß und stark geworden war. Beim letzten klappte es. Und dann wurde ich Wald. Summend und pfeifend und raschelnd vor Kälte, und die einzige Bewegung kam von meinem Zittern und den kleinen Wölkchen, die aus meinem Mund aufstiegen, immer höher, bis sie von den Himmelswolken verschluckt wurden. So saß ich da, während sich an meiner Nasenspitze kleine Eiszapfen bildeten. Während mir kalt und wieder warm und dann beides zugleich wurde. Bis endlich ein roter Fleck durchs Grau blitzte und sich mitten auf Friggas Rute setzte.
Und kurz war es schön. Kurz sah ich mich an Junas Tür klopfen, sah mich ihr das Geschenk überreichen, sah uns küssend im Stall und dann heiraten.
Doch dann sah ich, was wirklich geschah, sah das Rotkehlchen panisch mit den Flügeln schlagen, sah, wie die Flügel an der Rute kleben blieben und die ersten Federn ausgerissen wurden. Und ich stürmte los und ich wollte das kleine Tier ja bloß beruhigen, aber stattdessen verdrehten und verschlangen wir uns wie im Kampf und dann sah ich, wie das Bein losgelöst vom pulsierenden Körper am Stock klebte. Wie ein kleiner Zweig, der aus dem Ast ragt und statt Blättern wuchsen Fleisch und Federn daran und der Vogel schlug wie wild mit seinen Flügeln und die Flügel klebten an meiner Hand fest, und von da an war alles eins – Federn, Vogel, Rute, Hand, und mein Kopf verklebte so schlimm, dass ich zuschlug, dass ich das, was da an meiner Hand klebte, gegen den Waldboden schlug, um es los zu sein, und weil es nicht half, nahm ich den Stiefel dazu, drückte mit der dicken, matschigen Sohle den fedrigen Klumpen auf die frostige Erde, schabte ihn von der Hand und dann rannte ich, und ich wäre lieber Balder gewesen als Oskar, lieber Wald als ich.