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Lene, hinter der Maske

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20.10.2002
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Lene, hinter der Maske

Lene

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Das blaue Häferl zersplitterte in tausend Teile. Grüntee spritzte auf den Tisch, den Boden, den Teppich. Erschrocken blickte Lene auf die Scherben. Friedel stand langsam von seinem Platz am Kachelofen auf, streckte sich und trottete auf Lene zu. Die alte Dame kraulte das Fell des Hundes.
„Lass uns spazieren gehen … ich muss an die frische Luft.“, sagte sie leise und wandte sich von den Scherben ab. Das Häferl hat mir Simon vor über sechs Jahren gekauft, auf dem kleinen Töpfermarkt … Sie verlor sich in der Erinnerung.
Friedel stupste ihren Arm. Sie bemühte sich, die Knöpfe an ihrem Mantel zu schließen. Die Hände zitterten, dass es die reinste Geduldsprobe war.
Der Mischling ließ sich brav anleinen und die beiden gingen los. Im Schnee bockte Friedel wie eine junge Ziege und hoppelte schräg neben Lene her, obwohl er nur noch drei Beine hatte. Ungestüm und übermütig freute er sich über den Schnee. Sie genoss die kalte, klare Luft und das Knirschen unter ihren Stiefeln. Sie ließen die Straße bald hinter sich und bogen in einen kleinen Feldweg ab. Krähen saßen auf den kahlen Bäumen und beäugten die zierliche Frau, die die Leine straff um den angewinkelten Arm gewickelt hatte, mit ihrem seltsamen Hund.
Als sie an den kleinen See kamen, schwamm eine ganze Flotte von Enten und Blesshühnern in der Erwartung von altem Brot auf sie zu. Im Kielwasser zerstörten sie die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der stillen Seeoberfläche. Aber Lene hatte in ihrem Aufbruch nicht an die Vögel gedacht. Friedel zog an der Leine und wedelte mit dem Schwanz. Als zwei Schwäne auftauchten, fing er an zu bellen.
„Friedel, die wollen nicht mit dir spielen … komm, lass uns weitergehen.“
Am Ufer des Sees hatte sich bereits eine dünne Eisschicht gebildet, die in der Sonne glitzerte. Einige der Enten versuchten, die Böschung hinauf zu klettern. Sie waren völlig unbeeindruckt von dem Hund, der mittlerweile ein ziemliches Theater veranstaltete. Lene hatte Schwierigkeiten, ihn zurückzuhalten. Zwar war Friedel schon fast dreizehn Jahre, aber in dem Moment sah man ihm dieses Alter überhaupt nicht an, und mit seiner Behinderung kam er prima klar.

*

Sie erinnerte sich genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in einem kleinen Zwinger im Tierheim.
„Ich möchte einen älteren Hund, einen, der zu mir passt“, hatte sie der Leiterin des Tierheims erklärt, als diese ihr von einem ganzen Wurf junger Hunde erzählt hatte, die sie vor einigen Tagen erst in einem Karton vor der Tür gefunden hatte. Daraufhin waren sie in den hinteren Bereich der Abteilung gegangen, wo Dackel und Boxer und Pudel und Retriever und Mischlinge aller Arten und Größen in den Zwingern saßen und sie mit großen Augen musterten. Viele kamen zu den Türen und bellten, wedelten hoffnungsvoll mit dem Schwanz und schoben ihre Nasen durchs Gitter. Und in einem der Zwinger: Friedel. Er lag in einer Ecke und blickte kaum auf, als sie an seiner Tür vorbeigingen.
„Was ist mit ihm?“, hatte Lene gefragt.
„Das ist der Friedel“, hatte die Leiterin geantwortet. „Er ist bei uns, seit er etwa ein halbes Jahr alt ist. Gehört schon fast zum Inventar ... Er hat nur noch drei Beine. Ein Bein musste amputiert werden. Er wurde von seinen Vorbesitzern halb tot geprügelt … niemand will ein behindertes Tier.“
Aber als Lene Friedels Augen sah, sein müdes Schwanzwedeln am Boden, wusste sie, welchen Hund sie mitnehmen würde.
Und mit jedem Tag, den Friedel bei ihr war, blühte er mehr auf. Zunächst war er ängstlich und lethargisch, aber schon nach einigen Tagen begann er, seinen Charme und sein Temperament auszuspielen. Nur die Nachbarskatzen, die früher öfter zu Lene gekommen waren, waren anfangs misstrauisch. Doch der Hund war aus dem Tierheim so an Katzen und Kleintiere gewohnt, dass es ihm nicht eingefallen wäre, Jagd auf sie zu machen. Zudem hätte er vermutlich nicht die besten Chancen gehabt, die beiden geschmeidigen Kater zu fangen. Mittlerweile hatten sich Abraxas und Jeremias an ihn gewöhnt, und es kam oft vor, dass sie sich schnurrend an den Bauch des Hundes kuschelten um zu schlafen.
Nach dem Tod von Simon war Lene aus ihrer Trauer nicht mehr herausgekommen. Sie hatte sogar aufgehört zu malen, vor Erinnerungen und Kummer und Einsamkeit. Auch ihr tat die Anwesenheit des ruhigen, freundlichen Hundes gut.

*

Als sie um den See herumgingen, auf dem Wasserweg von Entengeschnatter begleitet, fiel die Anspannung langsam von ihr ab.
Die Zweige der Weiden hingen ins Wasser. Kleine Eisklumpen bildeten einen Kranz um die Stelle, wo sie eintauchten.

Zuhause nahm Lene einen Lappen, wischte den verspritzen Tee auf und klaubte die Scherben vom Boden. Sie zwang sich, nicht an Simon zu denken, als sie die blauen Tonsplitter in Händen hielt. Der Anruf, der zerschmetterte Wagen, das Begräbnis … nein. Nicht daran denken.

*

Es hatte lange gedauert, bis sie wieder anfangen konnte, zu malen. Zu sehr hatte dieses tote Gefühl in ihrer Seele gelegen, als dass sie Rötel oder Pinsel hätte anfassen können. Erst Monate später hatte sie wieder einen Auftrag für ein Portrait angenommen, und als sie zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder eine Skizze gefertigt hatte, war es eine richtige Befreiung gewesen. Als ob die ganze Trauer und Sehnsucht aus ihren Fingern ins Bild flössen.
Und langsam kam sie mit ihrem neuen Leben zurecht. Simon fehlte ihr immer noch in so vielem. Er war wie ein Schatten, der sie und das Haus, alle Dinge und Erinnerungen umgab. Aber die lähmende Ohnmacht hatte Lene abgestreift. Friedel hatte ihr viel geholfen, denn als sie die Verantwortung für ihn übernommen hatte, konnte sie nicht mehr den ganzen Tag nur herumsitzen.
Doch es gab etwas, das ihr Sorgen machte. Seit einigen Monaten spürte sie es. Zuerst war es kaum wahrnehmbar gewesen, beziehungsweise: sie hatte es ignorieren können. Das ging jetzt nicht mehr. Sie betrachtete mehrere Skizzen. Egal, ob Bleistift oder Kreide: die feinen Linien waren verwackelt und unsauber.
Kleinigkeiten fielen ihr schwer in letzter Zeit, sie verlor die Geduld. Wenn sie etwas schreiben wollte, erkannte sie ihre eigene Schrift fast nicht mehr, sie war klein und verwischt. Ein Reißverschluss konnte sie zur Weißglut treiben, wenn sie ihn kaum aufbekam. Die Tür aufsperren, Gemüse schneiden oder ganz einfach auf die Toilette gehen konnte zum Alptraum werden.
Zunächst hatte sie es auf einen nervösen oder tollpatschigen Tag geschoben oder auf den Kaffee am Morgen.
Langsam hatte sie begriffen, dass es nicht besser wurde, obwohl sie nur noch Tee trank.

*

Nach langwierigen Untersuchungen hatte der Arzt schließlich ein ernstes Gesicht gemacht.
„Frau Ammer … das Gutachten von der Klinik ist da. Es tut mir Leid, ihnen das mitteilen zu müssen … aber … sie haben Parkinson. Und wir haben es leider erst recht spät festgestellt …“
Den Verdacht hatte er schon Wochen zuvor geäußert, als sie ihm von ihrem unwillkürlichen Zittern und den Problemen beim Schreiben erzählt hatte. Auch die Gelenk- und Muskelschmerzen, die sie seit einiger Zeit spürte, hatte er darauf zurückgeführt. Oft fühlte sie sich ganz steif, konnte sich kaum zu den Spaziergängen mit Friedel aufraffen, obwohl sie frische Luft und die Bewegung immer geliebt hatte.

Lene betrachtet die beiden Selbstportraits, die in ihrem Wohnzimmer hingen. Eins davon war mit Rötel gezeichnet und hing schon ein Vierteljahrhundert an dieser Stelle. Ihr Gesicht wirkte drauf fast jugendlich, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Das andere war erst vor ein paar Jahren entstanden und zeigte ein ernstes Gesicht mit vielen Falten auf Stirn und Wangen ... Nie wieder würde sie so zeichnen.
Die meisten der letzten Entwürfe hatte sie irgendwann aus Zorn und Hilflosigkeit zerrissen. Und sie spürte auch, wie sie selbst sich zu verändern begann. Nicht nur das Zittern und die Schmerzen. Ihr Gesicht kam ihr mehr und mehr wie eine Maske vor, die sie abschirmte. Wenn sie lächeln wollte, passierte manchmal gar nichts mehr, das ganze Gesicht war steif und starr wie aus Wachs. Als sie das zum ersten Mal bewusst bemerkt hatte, hatte sie sich auf ihr Bett gelegt und geweint. Es machte ihr Angst. Angst, dass ihre Gefühle und ihre Person hinter einer Maske gefangen waren und dass sie nicht mehr über sich selbst bestimmen konnte.

Ihr Hausarzt hatte versucht, sie zu einem Klinikaufenthalt zu überreden, damit die Medikation richtig eingestellt werden konnte.
„Es gibt ausgezeichnete Kliniken, Frau Ammer … nur so kann sichergestellt werden, dass die Medikamente wirklich auf sie passen“
„Herr Lemberg, ich kann nicht. Friedel kann nicht allein zuhause bleiben.“
„Vielleicht würde ein Nachbar so lange auf den Hund aufpassen, es sind ja nur drei oder vier Wochen“
„Nein, das kommt nicht in Frage …“
Sie hatte sich hartnäckig und sehr zielstrebig gegen einen stationären Aufenthalt gesträubt. Wenn die alten Leute nur nicht immer so bockig wären … hatte Herr Lemberg, selbst schon weit über sechzig, gedacht. Aber die schmale, blasse Dame, die ihm gegenüber saß, hatte nicht nachgegeben.
„Wenn ich Friedel zu andern Leuten geben würde, das wäre ja wie Verrat! Er ist doch das einzige, was ich noch habe.“
Lemberg hatte in Gedanken geseufzt und sich auf viele anstrengende Wochen und Monate mit dieser Patientin gefasst gemacht. Er hatte noch nie einen Parkinsonpatienten auf L-Dopa eingestellt und war alles andere als ein Spezialist. Aber erstens hätte er das nie zugegeben, und zweitens hätte Lene wohl kaum mit achtundsiebzig Jahren noch den Hausarzt gewechselt, den sie seit über vierzig Jahren besuchte.
Aber Doktor Lemberg gab sich Mühe. Er suchte die Adressen von einem geeigneten Ergotherapeuten und einem Masseur. Außerdem gab er sich Mühe, Lene über den Verlauf ihrer Erkrankung aufzuklären. Sie hörte ihm zu, mit starrem Gesicht.
„Vielleicht …“ Er zögerte. „Vielleicht wäre es auch ratsam, wenn sie sich nach einem guten Pflegeheim umsehen würden … Sie sind allein in ihrer Wohnung, wenn etwas passiert … und wenn sich ihr Zustand verschlechtert …“
Er war immer unsicherer geworden, als Lene nur dagesessen und ihn angesehen hatte. Schließlich hatte er abgebrochen. Er konnte ihre Gedanken förmlich spüren. Friedel. Nie würde sie einverstanden sein.

*

Als sie sich das Gesagte zuhause noch einmal verdeutlichte, fühlte sie sich elend. Alt und verbraucht bin ich, dachte sie. Bald werde ich nicht mehr normal gehen können, vielleicht auch nicht mehr richtig sprechen. Ich werde nie wieder malen. Nur noch Friedel kümmert sich um mich.

Als Simon noch gelebt hatte war alles anders gewesen. Nie hatte sie sich alt gefühlt. Sie waren manchmal zum Tanzen gegangen und oft zum Wandern an die frische Luft. Und sie erinnerte sich an die Kaminabende im Winter, wenn Simon sein Cello hervorgeholt hatte und liebevoll über den Bauch des alten Instruments gestrichen hatte, bevor er daraus weiche, dunkle Melodien gezaubert hatte. Einsamkeit oder Hilflosigkeit hatte es in ihrer Liebe nicht gegeben.
Lene hatte es nicht über sich gebracht, das Cello wegzugeben. Es stand immer noch auf seinem Platz in der Ecke, als ob es auf die sanften Berührungen des Bogens warten würde.

*

Und jetzt gab es nur noch Friedel.

Ganz stimmte das nicht. Lenes Nachbarn, eine nette junge Familie mit einem kleinen Mädchen, erkundigten sich immer wieder nach ihrem Befinden, und boten ihr auch an, Einkäufe für sie zu erledigen. Aber Lene wollte immer weniger mit den Kratzers zu tun haben, und mied den Kontakt. Sie mochte die Familie sehr gerne, aber sie hatte Angst, dass das Ehepaar ihren Tremor bemerken könnte, oder sie für verrückt halten würde, wenn sie sahen, wie schwer sie sich zum Beispiel damit tat, ihre Wohnungstüre aufzusperren. Es war ein einziger Kampf, die einen Muskeln taten das richtige, aber die anderen spannten sich ebenfalls an und machten es schier unmöglich, dass sie das Schlüsselloch traf. In vielen dieser Momente überkam sie heilloser Zorn.
Überhaupt ging Lene immer seltener nach draußen, nur noch, wenn es unvermeidlich war. Spazieren mit Friedel. Einkaufen. Mehr nicht.
Sie hatte auf Anraten von Doktor Lemberg einen Behindertenausweis beantragt, und die Pflegeversicherung hatte ihr angeboten, einen Zivi vorbeizuschicken.
Lene hatte sich von all dem überfordert gefühlt. Ein Behindertenausweis … dieses Wort traf sie wie eine einstürzende Decke. Parkinson ist nicht heilbar. Im Gegenteil, er ist progressiv. Es würde immer schlimmer werden. Sie war behindert, sie gehörte zu den Menschen, die Anrecht auf Vergünstigungen und Sonderrechte hatte. Positiv formulierte Diskriminierung, dachte sie.

*

Als sie Marco das erste Mal sah, war sie überrascht. Es war eine wochenlange Diskussion gewesen, bis sie endlich eingewilligt hatte, dass ein Zivi jeden Tag zu ihr kommen sollte und das Nötigste erledigte.
Er war ein hübscher junger Mann mit kastanienbraunen Augen und sanften Händen. Lene war ängstlich gewesen, wie ein gesunder junger Mensch mit einem alten dreibeinigen Hund und ihrer Behinderung umgehen würde. Sie fürchtete, dass er womöglich lachen oder sie für irre erklären würde, wenn er das Zittern in ihren Händen, ihr totes Gesicht oder ihre verlangsamten Bewegungen bemerkte. Aber sie hatte sich getäuscht. Auf Anhieb verstand er sich mit Friedel, nahm ihn an manchen Tagen zu langen Spatziergängen mit und erledigte die nötigsten Sachen in der Stadt. Außerdem half er ihr, die Medikamente vorzubereiten. Mehrmals täglich musste sie ihre Tabletten schlucken. Und er schien sich nichts daraus zu machen, dass Lene oft für die einfachsten Sachen ewige Minuten brauchte, oder wenn an manchen Tagen die Schmerzen und der Tremor so stark waren, dass sie kaum aufstehen konnte. Bald konnte sie sich ein Leben ohne Marco nicht mehr vorstellen. Doch seine Zeit als Zivi war begrenzt. Lene wollte nicht daran denken, wie es sein würde, wenn Marco sein ersehntes Studium in Berlin aufnehmen würde und sie wieder alleine sein würde.

Die Medikamenteneinstellung war schlecht. Der Parkinson zeigte sich von Monat zu Monat deutlicher. Nach einem halben Jahr konnte Lene kaum noch ohne Hilfe gehen. Sie machte kleine Schritte, wie ein Kind, das gerade erst laufen lernt, immer bereit, sich mit einer Hand an einem Möbelstück festzuklammern. Die Stürze häuften sich dennoch. Doktor Lemberg war über das außergewöhnlich rasche Fortschreiten der Erkrankung erschüttert und machte sich Vorwürfe. Bei jedem Besuch redete er von den Chancen, die Lene hätte, wenn sie in eine Klinik gehen würde. Aber sie schüttelte nur den Kopf.
Immer noch ging sie tapfer ihre Runden mit Friedel, auch wenn es oft sehr schwierig war und sie Schmerzen hatte, und Angst vor Stürzen.

*

An einem klaren Tag im Oktober schlang sie sich, wie so oft, die Leine um den Arm. Friedel blickte sie an und wedelte ungeduldig mit dem Schwanz.
„Langsam, Friedel … langsam.“
Lene sah ihren Hund an, der sich vor Freude kaum halten konnte und kraulte seine Ohren. Sein Fell schimmerte, obwohl schon viele graue Haare dabei waren, und die braunen Augen blitzten.
Sie wollten in den Park, wo alte, mächtige Kastanien gerade ihre Blätter gelb und rot färbten. Holzbänke standen in einigen Abständen und auf den schmalen Kieswegen würden nicht mehr viele Menschen unterwegs sein. Die Dämmerung war schon hereingebrochen. Die untergehende Sonne hinterließ den Himmel in Pastelltönen.
Um in den Park zu gelangen, mussten sie die Hauptstraße des Ortes überqueren. Doch als die Ampel auf grün schaltete, war Lene nicht fähig einen Schritt zu tun. Die Muskeln gehorchten ihr nicht, sie stand steif vor der grünen Ampel. Das Bein fühlte sich an, als hätte es jemand mit Blei ausgegossen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Ein Schritt, das linke Bein anspannen, Knie beugen… nach vorne …
Friedel jedoch war in Erwartung des Parks, freute sich auf die Gerüche der Hundedamen und der Hasen. Mit einem kräftigen Ruck riss er sich von Lenes Arm los, und lief, die Leine hinter sich herschleifend, über die Kreuzung. In diesem Moment bog ein Auto um die Kurve.
„Friedel!“
Lene schrie im Fallen auf. Der Ruck an ihrem Arm war so stark gewesen, dass sie auf der Straße aufschlug.
Danach nahm sie ein heilloses Durcheinander wahr. Menschen schrieen, Autos, Hektik, fremde Leute … Eine junge Frau kniete sich zu ihr. „Sollen wir einen Notarzt rufen? Wie geht es, kann ich ihnen beim Aufstehen helfen? Sind sie verletzt?“
Lene hörte die Worte kaum, die von allen Seiten an sie gerichtet wurden. Mühsam versuchte sie sich aufzuraffen, von der Frau und einem älteren Herren gestützt. Sie bemerkte das Blut, das ihr das Bein hinunter lief, nicht.
„Mir ist nichts passiert, kein Arzt“, hörte sie sich. Ihre Hände waren vom Fall auf den Asphalt aufgeschürft.
Sie blickte sich um, das Gesicht grau vor Angst und die Augen auf der Suche nach Friedel.
„Hat … hat jemand meinen Hund gesehen?“, fragte sie schließlich mit brüchiger Stimme. „Friedel … mein Hund … er … er ist braun und ihm fehlt das linke Vorderbein …“
Ihre Augen hatten das Auto gefunden, das mitten auf der Kreuzung stand. Derselbe Wagen, der in dem Moment losgefahren war, als ihre Beine versagt hatten.
„Hat ihn jemand gesehen? Er ist über die Straße gelaufen …“
Sie blickte genauer auf den dunklen Sportwagen. Ein Mann mit Hut und heller Jacke hatte sich bei einem der Vorderreifen gebückt und schien irgendetwas unter dem Auto zu suchen.
Nur ein dunkler Fleck war auf dem Asphalt, als ob jemand zufällig einen Klecks dunkle Farbe dort hingetupft hätte. Lenes Gesicht war starr, als sie begriff.

*

Marco stellte stumm die Einkäufe in Lenes kleine Küche. Die alte Dame lag in ihrem Bett und hatte sich offenbar nicht gerührt, seit er aufgebrochen war. Drei Wochen noch, bis er seinen Dienst abgeleistet hatte und anfangen konnte, Biologie zu studieren. Seit dem Ausflug in den Park hatte Lene kaum noch mit ihm gesprochen und war die letzten Tage auch nicht aufgestanden. Er fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn er in Berlin war. Der Hundekorb war leer. Überall lagen noch Zeichen von Friedel, sein Fressnapf, der zerkaute Gummiball, seine Decke …
Es war ein mieses Gefühl, sie alleine zu lassen, nachdem er im letzten Jahr beinahe täglich viel Zeit mit ihr und Friedel verbracht hatte. Er hatte die sensible Dame bewundert, die trotz ihrer Krankheit und dem Tod ihres Mannes so lebenslustig erschienen war. Friedels Tod war das Schlimmste, was ihr noch hatte passieren können. Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen. Jetzt würde er auch noch fortgehen, und sie musste seine Freude und Begeisterung wegen des Umzugs gespürt haben. Für ihn war Lene fast zu einer Art Oma geworden im Lauf der Zeit, er hatte sich gerne mit ihr unterhalten. An seine eigenen Großeltern konnte er sich nicht erinnern. Lene war weder konservativ noch altmodisch, sondern hatte viel Interesse für sein Leben und seine Träume gezeigt. Sie hatten in dieser Zeit viel über künstlerische und kulturelle Themen gesprochen, und es war nie langweilig gewesen.
In Gedanken waren sie zusammen durch die Wolken geflogen und in alle Kontinente gereist, um Tiere zu erforschen und andere Kulturen kennen zu lernen. Sie waren in die Vergangenheit gereist und in die Zukunft.
Nun begrüßte sie ihn kaum noch.

*

Lene strich mit ihrer Hand über den schweren Tisch aus Kastanienholz. Sie schloss die Augen, als sie mit den Fingern die kleinen Kerben fühlte, die an manchen Stellen ins Holz geschnitten waren. Sie ging zu ihrem alten Kleiderschrank, der leer war und sauber ausgewischt. Die Muster auf den Türflügeln waren ihr so bekannt wie eins ihrer eigenen Bilder. Die Wände waren jetzt kahl. Dort, wo die beiden Portraits gehangen waren, waren die Mauern etwas heller. Helle Rechtecke ihrer Vergangenheit. Jetzt erst merkte Lene, dass die Zimmerecken schon recht grau geworden waren. Zweimal schon waren die Möbelpacker gekommen, um Sachen abzuholen. Es war ihr schwer gefallen, sich von so vielem zu trennen. Sie blickte in die Ecke neben dem Kamin. Dort hatte immer das Cello gestanden. Der Anblick der leeren Ecke ließ Tränen in ihr aufsteigen. Sie hatte es Marco geschenkt, an seinem Abschied vor drei Tagen. Er wusste, was es ihr bedeutet hatte, und auch wenn er nicht spielen konnte – Lene hätte das Instrument nicht mit den zahllosen anderen Gegenständen einfach in den Lastwagen laden lassen können. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Marco nicht spielen konnte, dachte sie. Anfangs wollte sie das Erbe von Simon mitnehmen, aber dann hatte sie sich anders entschieden.
Das Zimmer im Wohnheim war winzig, sie konnte fast nichts von ihren Sachen behalten. Lene hätte gerne ihren Tisch mitgenommen. Simon hatte ihn gezimmert, und ihr zum fünfjährigen Hochzeitsjubiläum geschenkt. Aber er war zu groß.

Als es an der Türe klingelte, versuchte sie sich schnell die Tränen aus den Augen zu wischen. Keiner der Möbelpacker sollte sie so sehen … Ihre Hände gehorchten ihr nicht, die Finger fuhren durch ihre Haare. Der Parkinson ließ sie Lippen und Nase unsanft streifen, bevor sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen konnte.

Die Wohnung blieb leer zurück, als Lene der Vermieterin den Schlüssel in die Hand drückte. Der Taxifahrer hatte es nicht eilig, und als sie durch die Stadt fuhren, begann der Wind die ersten Schneeflocken des Winters durch die Luft zu treiben.

*

Die Leiterin des Wohnheims kam aus einem kleinen Verwaltungsbüro und begrüßte sie fröhlich. „Wie schön, dass sie da sind, Frau Ammer. Sie werden sich sicher wohl fühlen bei uns.“
Lene konnte keine Antwort finden. Die Dame begleitete Lene zu ihrem neuen Zuhause im ersten Stock. Als Lene mit ihr im Lift stand, fragte sie sich, wie sie es schaffen sollte, täglich diesen kleinen grünen Knopf zu treffen.
Ein paar neue Möbel standen in dem Zimmer, das am Ende des Korridors lag. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Krankenhausbett, ein Schrank.
Lenes Sachen waren schon vor ein paar Tagen eingetroffen, und man hatte sie eingeordnet. Eins ihrer Bilder hing über dem kleinen Tisch in der Ecke. Es war das Portrait, das sie als junge Frau zeigte. Im ersten Moment fühlte sich Lene in ihrem Bild geborgen. Eine Ecke Heimat und Erinnerung in einer Welt, in der sie alles verloren hatte. Sie stand lange davor und blickte sich ins Gesicht.

Hinter sich hörte Lene ein Geräusch. Die Leiterin hatte die Türe nicht geschlossen, als sie gegangen war.
Eine grauweiße Katze saß im Türspalt. Sie blickte Lene mit moosgrünen, neugierigen Augen an. Gemächlich stand sie auf und ging auf die alte Frau zu.
Lene spürte eine zarte Berührung an ihren Beinen.

*

Als die Betreuerin später das Abendessen zu der neuen Heimbewohnerin brachte, klopfte sie leise.
Lene saß aufrecht auf ihrem neuen Bett mit dem starren, weißen Bezug. Sie streichelte mit zittrigen Bewegungen die Katze, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und vor sich hinschnurrte, als habe sie den Rest der Welt vergessen.

 

hallo Stefan und luckyblue!

schön, dass ihr euch noch einmal gemeldet habt. :)

Beispiel: "die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der stillen Seeoberfläche" So ein Detail ist sicher schön. Aber Landschaft dient in einer Geschichte immer nur der Spiegelung von Stimmungen, oder? Weiden bedeuten Trauer oder Tod (wie die Krähen und der Winter), die stille Seeoberfläche vielleicht eine Art Abgeklärtheit des Geistes, Schwäne stehen für Schönheit, Eis für Erstarrung. Auch wenn du - an luckyblue, in Bezug auf die Katzenfarbe - schreibst, du hättest keine Symbole gewollt. Mit all diesen Gegenständen löst du als Autorin Assoziationen aus. Das kann und sollte man nutzen. Dasselbe gilt vielleicht auch für Tisch, Boden und Teppich: Du könntest Lenes Wohnzimmer benutzen, um sie zu charakterisieren...
- da hast du wohl recht... manches ist auch symbolisch. Nur grad im Bezug auf die Farbe der Katze beispielsweise.... naja. Egal. Du hast einen wichtigen Punkt angesprochen, ich denke ich verstehe jetzt eher, was Du gemeint hast.
Themen rauszustreichen, bzw. Akzente zu sezten, wird schwer.

@luckyblue: Danke für die Beispiele und die Erläuterungen. Ich sehe, was Du meisnt, auch wenn ich teilweise einen anderen Standpunkt habe. Manches sollte ich wirklich noch einmal überdenken...

Du beschreibst einmal die tiefen Falten in Lenes Gesicht. Ich finde, das widerspricht sich mit der maskenhaften Physiognomie eines Parkinson-Patienten. Falten weisen auch immer auf eine aktive Mimik hin
- wenn Falten im Laufe vieler Jahre sich gebildet haben, vergehen sie nicht, obwohl der Mensch Parkinson hat. Nur kann er seine Mimik nicht mehr adäquat einsetzen.

Vielen Dank nochmals - ich hoffe, ich ahbe Zeit, die Geschichte umzuarbeiten. Im Moment komme ich nicht dazu. Aber ich werde versuchen, eure Anregungen miteinzubauen.

schöne Grüße
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

ich habe die Geschichte nun in einigen Teilen überarbeitet, gekürzt, ergänzt, umformuliert...

Lene, hinter der Maske

Das blaue Häferl zersplitterte in tausend Teile. Grüner Tee spritzte auf den Tisch, den Boden, den Teppich. Erschrocken blickte Lene auf die Scherben. Friedel hob die Schnauze, streckte sich und stand von seinem Platz am Kachelofen auf. Er trottete langsam auf die alte Dame zu.

„Lass uns spazieren gehen … ich muss an die frische Luft“, sagte sie leise und wandte sich von den Scherben ab. Das Häferl hat mir Simon vor über sechs Jahren gekauft, auf dem kleinen Töpfermarkt … Sie verlor sich in der Erinnerung. Zärtliches Lächeln in seinen Augen und seine immer zerzausten, weißen Haare im Herbstwind. Simons kräftige, warme Hand, die ihre umschlossen hatte.
Friedel stupste ihren Arm. Sie bemühte sich, die Knöpfe an ihrem Mantel zu schließen. Ihre Hände zitterten, dass es die reinste Geduldsprobe war.
Der Mischling ließ sich brav anleinen und die beiden gingen los. Im Schnee bockte Friedel wie eine junge Ziege und hoppelte schräg neben Lene her, obwohl er nur noch drei Beine hatte. Übermütig freute er sich über das Weiß. Sie genoss die kalte, klare Luft und das Knirschen unter ihren Stiefeln. Auf dem kleinen See schwamm ihr eine ganze Flotte von Enten und Blesshühnern in der Erwartung von altem Brot entgegen. Im Kielwasser zerstörten sie die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der Wasseroberfläche. Aber Lene hatte in ihrem Aufbruch nicht an die Vögel gedacht. Friedel zog an der Leine, wedelte mit dem Schwanz und versuchte die Schwäne zu verbellen, die auf ihn zu paddelten.
„Friedel, die wollen nicht mit dir spielen … komm, lass uns weitergehen.“
Am Ufer des Sees hatte sich bereits eine dünne Eisschicht gebildet, die in der Sonne glitzerte. Einige der Enten versuchten, die Böschung hinauf zu klettern. Sie waren völlig unbeeindruckt von dem Hund, der mittlerweile ein ziemliches Theater veranstaltete. Lene hatte Schwierigkeiten, ihn zurückzuhalten. Zwar war Friedel schon fast dreizehn Jahre, aber in dem Moment sah man ihm dieses Alter überhaupt nicht an, und mit seiner Behinderung kam er prima klar.


*

Sie erinnerte sich genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in dem kleinen Zwinger des Tierheims.
„Ich möchte einen älteren Hund, einen, der zu mir passt“, hatte sie der Leiterin erklärt, als diese ihr von einem ganzen Wurf junger Hunde erzählt hatte, den sie vor einigen Tagen erst in einem Karton vor der Tür gefunden hatte. Daraufhin waren sie in den hinteren Bereich der Abteilung gegangen, wo Dackel und Boxer und Pudel und Retriever und Mischlinge aller Arten und Größen hinter den Gittern saßen und sie mit großen Augen musterten. Viele kamen zu den Türen und bellten, wedelten hoffnungsvoll mit dem Schwanz und schoben ihre Nasen durchs Gitter. Und in einem der Käfige lag Friedel in einer Ecke und blickte kaum auf, als sie an seiner Tür vorbeigingen.
„Was ist mit ihm?“, hatte Lene gefragt.
„Das ist der Friedel“, hatte die Leiterin geantwortet. „Er ist bei uns, seit er etwa ein halbes Jahr alt war. Gehört schon fast zum Inventar ... Er hat nur noch drei Beine. Eines musste amputiert werden. Er wurde von seinen Vorbesitzern halb totgeprügelt … niemand will ein behindertes Tier.“
Aber als Lene Friedels Augen sah, sein müdes Schwanzwedeln am Boden, wusste sie, welchen Hund sie mitnehmen würde.
Zunächst war Friedel ängstlich und teilnahmslos, aber schon nach einigen Tagen begann er, seinen Charme und sein Temperament auszuspielen. Nur die Nachbarskatzen, die früher öfter zu Lene gekommen waren, waren anfangs misstrauisch. Doch der Hund hatte sich im Tierheim so andere Tierarten gewöhnt, dass es ihm nicht eingefallen wäre, Jagd auf sie zu machen. Mittlerweile hatten auch Abraxas und Jeremias Vertrauen gefasst, und es kam oft vor, dass sie sich schnurrend an den Bauch des Hundes kuschelten, um zu schlafen.
Lene tat die Anwesenheit des ruhigen Hundes gut. Nach dem Tod von Simon war sie aus ihrer Trauer nicht mehr herausgekommen. Sie hatte sogar aufgehört zu malen, vor Erinnerungen und Kummer und Einsamkeit.

*

Als sie um den See herumgingen, fiel die Anspannung langsam von ihr ab.

Zuhause nahm Lene einen Lappen, wischte den verspritzen Tee auf und klaubte die Scherben vom Boden. Sie zwang sich, nicht an Simon zu denken, als sie die blauen Tonsplitter in Händen hielt. Der Anruf, der zerschmetterte Wagen, das Begräbnis … nein. Nicht daran denken. Die Tränen rannen still über Lenes Wangen, folgten den Fältchen wie einem ausgetrockneten Bachbett

*

Es hatte lange gedauert, bis sie wieder anfangen konnte, zu malen. Zu sehr war dieses tote Gefühl in ihrer Seele gelegen, als dass sie Rötel oder Pinsel hätte anfassen können. Erst Monate später hatte sie wieder einen Auftrag für ein Portrait angenommen, und als sie zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder eine Skizze gefertigt hatte, war es eine richtige Befreiung gewesen. Als wären die ganze Trauer und Sehnsucht aus ihren Fingern ins Bild geflossen.
Und langsam kam sie mit ihrem neuen Leben zurecht. Simon fehlte ihr immer noch. Er war wie ein Schatten, der sie und das Haus, alle Dinge und Erinnerungen umgab. Die lähmende Ohnmacht hatte Lene abgestreift, aber es gab etwas, das ihr Sorgen machte. Seit ein paar Monaten spürte sie es. Zuerst war es kaum wahrnehmbar gewesen, so wenig, dass sie es hatte ignorieren können. Das ging jetzt nicht mehr. Sie betrachtete mehrere Skizzen. Egal, ob Bleistift oder Kreide: Die feinen Linien waren verwackelt und unsauber.
Kleinigkeiten fielen ihr schwer in letzter Zeit, sie verlor die Geduld. Wenn sie etwas schreiben wollte, erkannte sie ihre eigene Schrift fast nicht mehr, sie war klein und verwischt. Die Tür aufsperren, Gemüse schneiden oder einen Reißverschluss aufmachen konnte zum Alptraum werden.
Zunächst hatte sie es auf einen nervösen oder tollpatschigen Tag geschoben oder auf den Kaffee am Morgen.
Langsam hatte sie begriffen, dass es nicht besser wurde, obwohl sie nur noch Kräutertee trank.

*

Nach langwierigen Untersuchungen hatte der Arzt sie schließlich mit ernstem Gesicht angesehen.
„Frau Ammer … das Gutachten von der Klinik ist da. Es tut mir Leid, Ihnen das mitteilen zu müssen … aber … sie leiden an Parkinson. Und wir haben es leider erst recht spät festgestellt …“
Den Verdacht hatte er schon Wochen zuvor geäußert, als sie ihm von ihrem unwillkürlichen Zittern und den Problemen beim Schreiben erzählt hatte. Auch die Gelenk- und Muskelschmerzen, die sie seit einiger Zeit spürte, hatte er darauf zurückgeführt.
Lene betrachtet die beiden Selbstportraits, die in ihrem Wohnzimmer hingen. Eins davon war mit Rötel gezeichnet und hing schon ein Vierteljahrhundert an dieser Stelle. Ihr Gesicht wirkte darauf fast jugendlich, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Das andere war erst vor ein paar Jahren entstanden und zeigte ein ernstes Gesicht mit vielen Falten auf Stirn und Wangen. Von Simon gab es kein einziges Bild. Oft hatte sie ihn gebeten, aber er hatte es immer abgelehnt, sich skizzieren zu lassen. „Ich bin doch bei dir, du musst mich nicht auf dem Papier festhalten“, hatte er einmal gesagt, und ihr einen Kuss auf die Nasenspitze gegeben. Und es stimmte eigentlich. Sein Gesicht, sein ganzes Wesen waren in ihrem Bewusstsein, als hätte sie ihn vor einer Stunde zuletzt gesehen und berührt.

... Nie wieder würde sie so zeichnen können.
Sie spürte auch, wie sie selbst sich zu verändern begann. Nicht nur das Zittern und die Schmerzen. Ihr Gesicht kam ihr mehr und mehr wie eine Maske vor, die sie abschirmte. Als sie das zum ersten Mal bewusst bemerkt hatte, hatte sie sich auf ihr Bett gelegt und geweint. Es machte ihr Angst. Angst, dass ihre Gefühle und ihre Person hinter einer Maske gefangen waren und dass sie nicht mehr über sich selbst bestimmen konnte.

Ihr Hausarzt hatte versucht, sie zu einem Klinikaufenthalt zu überreden, damit die Medikation richtig eingestellt werden konnte. Doch sie hatte sich hartnäckig und sehr zielstrebig gegen einen stationären Aufenthalt gesträubt. Wenn die alten Leute nur nicht immer so bockig wären …, hatte Herr Lemberg, selbst schon weit über sechzig, gedacht. Aber die schmale, blasse Dame, die ihm gegenüber saß, hatte nicht nachgegeben.
„Wenn ich Friedel zu andern Leuten geben würde, das wäre ja wie Verrat! Er ist doch der Einzige, den ich noch habe.“
Lemberg hatte geseufzt. Er hatte noch nie einen Patienten auf L-Dopamin eingestellt und war alles andere als ein Spezialist. Aber Lene hätte wohl kaum in ihrem Alter noch den Hausarzt gewechselt.
Doktor Lemberg gab sich Mühe. Er suchte die Adressen eines geeigneten Ergotherapeuten und eines Masseur. Außerdem klärte er Lene über den Verlauf ihrer Krankheit auf. Sie hörte ihm zu, mit starrem Gesicht.

*

Als sie sich das Gesagte zuhause noch einmal verdeutlichte, fühlte sie sich elend. Alt und verbraucht bin ich, dachte sie. Bald werde ich nicht mehr normal gehen können, vielleicht auch nicht mehr richtig sprechen. Ich werde nie wieder malen. Nur noch Friedel kümmert sich um mich.
Als Simon noch gelebt hatte, war alles anders gewesen. Nie hatte sie sich alt gefühlt. Sie waren manchmal zum Tanzen gegangen und oft zum Wandern in den nahe gelegen Wald und in die Berge. Sie erinnerte sich an die Kaminabende im Winter, wenn Simon sein Cello hervorgeholt hatte und liebevoll über den Bauch des alten Instruments gestrichen hatte, bevor er daraus weiche, dunkle Melodien gezaubert hatte. Einsamkeit oder Hilflosigkeit gab es in ihrer Liebe nicht.
Lene hatte es nicht über sich gebracht, das Instrument wegzugeben. Es stand immer noch auf seinem Platz in der Ecke, als ob es auf die sanften Berührungen des Bogens warten würde.

*
Und jetzt gab es nur noch Friedel.
Ganz stimmte das nicht. Lenes Nachbarn, eine nette junge Familie mit einem kleinen Mädchen, erkundigten sich immer wieder nach ihrem Befinden, und boten ihr auch an, Einkäufe für sie zu erledigen. Aber Lene wollte immer weniger mit den Alexanders zu tun haben und mied den Kontakt. Sie mochte die Familie sehr gerne, aber sie hatte Angst, dass das Ehepaar ihren Tremor bemerken könnte, wenn sie sahen, wie schwer sie sich schon damit tat, ihre Wohnungstüre aufzusperren. Sie wollte niemandem zur Last fallen.
Überhaupt ging Lene immer seltener nach draußen, nur noch, wenn es unvermeidlich war. Spazieren mit Friedel und einkaufen. Zu den Terminen beim Ergotherapeuten und zum Arzt. Mehr nicht.

Lene hatte auf Anraten von Doktor Lemberg einen Behindertenausweis beantragt, und die Pflegeversicherung hatte ihr angeboten, einen Zivi vorbeizuschicken.
Sie hatte sich von all dem überfordert gefühlt. Ein Behindertenausweis … dieses Wort traf sie wie eine einstürzende Decke. Parkinson ist nicht heilbar. Im Gegenteil, er ist progressiv. Sie war behindert, sie gehörte zu den Menschen, die Anrecht auf Vergünstigungen und Sonderrechte bekamen. Positiv formulierte Diskriminierung, dachte sie.

*
Als sie Marco das erste Mal sah, war sie überrascht. Es war eine wochenlange Diskussion gewesen, bis sie endlich eingewilligt hatte, dass ein Zivildienstleistender jeden Tag zu ihr kommen und das Nötigste erledigen sollte.
Lene war ängstlich gewesen, wie ein gesunder junger Mensch mit einem alten dreibeinigen Hund und ihrer Behinderung umgehen würde. Sie fürchtete, dass er lachen könnte, wenn er das Zittern in ihren Händen bemerkte. Aber sie hatte sich getäuscht. Auf Anhieb verstand er sich mit Friedel, nahm ihn an manchen Tagen zu langen Spaziergängen mit und erledigte Besorgungen in der Stadt. Außerdem half er ihr, die Medikamente vorzubereiten. Mehrmals täglich musste sie ihre Tabletten schlucken. Er schien sich nichts daraus zu machen, dass Lene oft für die einfachsten Sachen ewige Minuten brauchte, oder dass an manchen Tagen die Schmerzen und der Tremor so stark waren, dass sie kaum aufstehen konnte. Bald konnte sie sich ein Leben ohne Marco nicht mehr vorstellen. Doch seine Zeit als Zivi war begrenzt. Lene wollte nicht daran denken, wie es sein würde, wenn Marco sein ersehntes Studium in Berlin aufnehmen würde und sie wieder alleine sein würde.
Voll Begeisterung hatte er ihr erzählt, wie sehr er sich darauf freue, in die Stadt zu ziehen, von seinen Eltern weg. Zwar hatte er ein gutes Verhältnis zu ihnen, aber er fand es an der Zeit, endlich sein eigenes Leben zu bestimmen, etwas Neues zu machen. Aufgeregt erzählte er, dass er bereits eine kleine Wohnung gefunden hatte, sogar mit Balkon. Lene wusste nicht viel von Berlin. Als sie jung gewesen und mit Simon zusammen durch das Land gezogen war, waren sie wegen der Grenzen nicht in den Osten gekommen. Und in den Jahren, als die Mauer gefallen war, waren sie kaum noch verreist. Aber sie erinnerte sich noch sehr gut an ihren eigenen Aufbruch von zuhause. 1951 war es gewesen, dass sie Simon zum ersten Mal ihrer Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn bei einer gemeinsamen Freundin kennen gelernt, und sich in den fröhlichen jungen Mann verliebt. Etwa ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung hatten sie geheiratet.
Marco stellte viele Fragen zu ihrer Vergangenheit, er wollte diese Zeit, die er sonst nur aus Geschichtsbüchern kannte, erfassen. Lene tat es gut, dass jemand sich für ihr Leben interessierte. Sie erzählte gerne und fühlte sich in diesen Momenten so lebendig wie sonst selten.

*

Die Medikamenteneinstellung war schlecht. Der Parkinson zeigte sich von Monat zu Monat deutlicher. Nach einem halben Jahr konnte Lene kaum noch ohne Hilfe gehen. Sie machte kleine Schritte, wie ein Kind, das gerade erst laufen lernt, immer bereit, sich mit einer Hand an einem Möbelstück festzuklammern. Die Stürze häuften sich dennoch. Doktor Lemberg war über das außergewöhnlich rasche Fortschreiten der Erkrankung erschüttert und machte sich Vorwürfe. Bei jedem Besuch redete er von den Chancen, die Lene hätte, wenn sie in eine Klinik gehen würde. Aber sie schüttelte nur den Kopf.
Immer noch ging sie ihre Runden mit Friedel, auch wenn es oft sehr schwierig war und sie Schmerzen hatte, und Angst zu fallen.

*

An einem klaren Tag im Oktober schlang sie sich, wie so oft, die Leine um den Arm. Friedel blickte sie an und wedelte ungeduldig mit dem Schwanz.
„Langsam, Friedel … langsam.“
Lene sah ihren Hund an, der sich vor Freude kaum halten konnte und kraulte seine Ohren. Sein Fell schimmerte, obwohl schon viele graue Haare dabei waren, und die braunen Augen blitzten.
Sie wollten in den Park, wo alte, mächtige Kastanien gerade ihre Blätter gelb und rot färbten. Holzbänke standen in einigen Abständen und auf den schmalen Kieswegen würden nicht mehr viele Menschen unterwegs sein. Die Dämmerung war schon hereingebrochen. Die untergehende Sonne hinterließ den Himmel in Pastelltönen.
Um in den Park zu gelangen, mussten sie die Hauptstraße des Ortes überqueren. Doch als die Ampel auf grün schaltete, war Lene nicht fähig einen Schritt zu tun. Die Muskeln gehorchten ihr nicht, sie stand steif vor dem Übergang. Das Bein fühlte sich an, als hätte es jemand mit Blei ausgegossen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Ein Schritt, das linke Bein anspannen, Knie beugen … nach vorne …
Friedel jedoch war in Erwartung des Parks, freute sich auf die Gerüche der Hundedamen und der Hasen. Mit einem kräftigen Ruck riss er sich von Lenes Arm los, und lief, die Leine hinter sich herschleifend, über die Kreuzung. In diesem Moment bog ein Auto um die Kurve.
„Friedel!“
Lene schrie im Fallen auf. Der Ruck an ihrem Arm war so stark gewesen, dass sie das Gleichgewicht verloren hatte und auf der Straße aufschlug. Danach nahm sie ein heilloses Durcheinander wahr. Menschen schrieen, Autos, Hektik, fremde Leute … Eine junge Frau kniete sich zu ihr. „Sollen wir einen Notarzt rufen? Wie geht es, kann ich ihnen beim Aufstehen helfen? Sind sie verletzt?“
Lene hörte die Worte kaum, die von allen Seiten an sie gerichtet wurden. Mühsam versuchte sie sich aufzuraffen, von der Frau und einem älteren Herrn gestützt. Sie bemerkte das Blut nicht, das ihr am Bein hinunter lief.
„Mir ist nichts passiert, kein Arzt“, hörte sie sich sagen. Ihre Hände waren vom Fall auf den Asphalt aufgeschürft.
Sie blickte sich um, das Gesicht grau vor Angst und die Augen auf der Suche nach Friedel.
„Hat … hat jemand meinen Hund gesehen?“, fragte sie schließlich mit brüchiger Stimme. „Friedel … mein Hund … er … er ist braun und ihm fehlt das linke Vorderbein …“
Ihre Augen hatten das Auto gefunden, das mitten auf der Kreuzung stand. Es war dasselbe Fahrzeug, das in dem Moment losgefahren war, als ihre Beine versagt hatten.
„Hat ihn jemand gesehen? Er ist über die Straße gelaufen …“
Sie blickte genauer auf den weinroten Sportwagen. Ein Mann mit Hut und heller Jacke hatte sich bei einem der Vorderreifen gebückt und schien irgendetwas unter dem Auto zu suchen.
Nur ein dunkler Fleck war auf dem Asphalt, als ob jemand zufällig einen Klecks Farbe dort hingetupft hätte. Lenes Gesicht war starr, als sie begriff.

*

Der Hundekorb war leer. Überall lagen noch Zeichen von Friedel, sein Fressnapf, der zerkaute Gummiball, seine Decke …
Marco stellte stumm die Einkäufe in Lenes kleine Küche. Die alte Dame lag in ihrem Bett und hatte sich offenbar nicht gerührt, seit er aufgebrochen war. Drei Wochen noch, bis er seinen Dienst abgeleistet hatte und mit dem Studium beginnen konnte. Seit dem Ausflug in den Park hatte Lene kaum noch mit ihm gesprochen und war die letzten Tage auch nicht aufgestanden. Er fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn er in Berlin wäre.
Es war ein mieses Gefühl, sie alleine zu lassen, nachdem er im letzten Jahr beinahe täglich viel Zeit mit ihr und Friedel verbracht hatte. Er hatte die sensible Dame bewundert, die trotz ihrer Krankheit und dem Tod ihres Mannes so lebenslustig erschienen war. Friedels Tod war das Schlimmste, was ihr noch hatte passieren können. Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen. Jetzt würde er auch noch fortgehen, und sie musste seine Freude und Begeisterung wegen des Umzugs gespürt haben. Für ihn war Lene fast zu einer Art Oma geworden im Lauf der Zeit, er hatte sich gerne mit ihr unterhalten. An seine eigenen Großeltern konnte er sich nicht erinnern.


*

Lene strich mit ihrer Hand über den schweren Tisch aus Kastanienholz. Sie schloss die Augen, als sie mit den Fingern die kleinen Kerben fühlte, die an manchen Stellen ins Holz geschnitten waren. Sie ging zu ihrem alten Kleiderschrank, der leer war und sauber ausgewischt. Die Muster auf den Türflügeln waren ihr so bekannt wie eins ihrer eigenen Bilder. Die Wände waren jetzt kahl. Dort, wo die beiden Portraits gehangen hatten, war die Mauer etwas heller. Blasse Rechtecke ihrer Vergangenheit. Jetzt erst merkte Lene, dass die Zimmerecken recht grau geworden waren. Zweimal schon waren die Möbelpacker gekommen, um Sachen abzuholen. Es war ihr schwer gefallen, sich von so vielem zu trennen. Sie blickte in die Ecke neben dem Kamin. Dort hatte immer das Cello gestanden. Der Anblick des leeren Winkels ließ Tränen in ihr aufsteigen. Sie hatte es Marco geschenkt, an seinem Abschied vor drei Tagen. Er wusste, was es ihr bedeutet hatte, und auch wenn er nicht spielen konnte – Lene hätte das Instrument nicht mit den zahllosen anderen Gegenständen einfach in den Lastwagen laden lassen können. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Marco nicht spielen konnte, dachte sie. Anfangs wollte sie das Erbe von Simon mitnehmen, aber dann hatte sie sich anders entschieden.
Das Zimmer im Wohnheim war winzig, sie konnte fast nichts von ihren Sachen behalten. Lene hätte gerne ihren Tisch mitgenommen. Simon hatte ihn gezimmert, und ihr zum fünfjährigen Hochzeitsjubiläum geschenkt. Aber er war zu groß.
Als es an der Türe klingelte, versuchte sie, sich schnell die Tränen aus den Augen zu wischen. Keiner der Möbelpacker sollte sie so sehen … Ihre Hände gehorchten ihr nicht, die Finger fuhren durch ihre Haare. Der Parkinson ließ sie Lippen und Nase unsanft streifen, bevor sie sich die Tränen trocknen konnte.

*

Die Wohnung blieb leer zurück, als Lene der Vermieterin den Schlüssel in die Hand drückte. Der Taxifahrer hatte es nicht eilig, und als sie durch die Stadt fuhren, begann der Wind die ersten Schneeflocken des Winters durch die Luft zu treiben.

*

Die Leiterin des Wohnheims kam aus einem kleinen Verwaltungsbüro und begrüßte sie fröhlich. „Wie schön, dass sie da sind, Frau Ammer. Sie werden sich sicher wohl fühlen bei uns.“
Lene konnte keine Antwort finden. Die Dame begleitete Lene zu ihrem neuen Zuhause im ersten Stock. Als Lene mit ihr im Lift stand, fragte sie sich, wie sie es schaffen sollte, täglich diesen kleinen grünen Knopf zu treffen.
Ein paar neue Möbel standen in dem Zimmer, das am Ende des Korridors lag. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Krankenhausbett, ein Schrank.
Lenes Sachen waren schon vor ein paar Tagen eingetroffen, und man hatte sie eingeordnet. Eins ihrer Bilder hing über dem kleinen Tisch in der Ecke. Es war das Portrait, das sie als junge Frau zeigte. Im ersten Moment fühlte sich Lene in ihrem Bild geborgen. Eine Ecke Heimat und Erinnerung in einer Welt, in der sie alles verloren hatte. Sie stand lange davor und blickte sich ins Gesicht.

Hinter sich hörte Lene ein Geräusch. Die Leiterin hatte die Tür nicht geschlossen, als sie gegangen war.
Eine grauweiße Katze saß im Türspalt. Sie blickte Lene mit moosgrünen, neugierigen Augen an. Gemächlich stand sie auf und ging auf die alte Frau zu.
Lene spürte eine zarte Berührung an ihren Beinen.

*

Als die Betreuerin später das Abendessen zu der neuen Bewohnerin brachte, klopfte sie leise.
Lene saß aufrecht auf ihrem neuen Bett mit dem starren, weißen Bezug. Sie streichelte mit zittrigen Bewegungen die Katze, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und vor sich hinschnurrte, als habe sie den Rest der Welt vergessen.

 

Hallo Illu!

Vielen Dank fürs Lesen der Überarbeitung udn für die liebe Kritik!
Ich hab mich sehr gefreut, dass Du Dir den etwas längeren Text angetan hast, und vor allem, dass er Dir so gut gefallen hat. :)

:bounce: ich bin jetzt grad so richtig fröhlich... :shy:

liebe Grüße
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anne,

da hast du dir ein kritisches Thema ausgesucht, dich auch noch in die Welt eines Menschen eingedacht, der von deinem eigenen Lebensalter unendlich weit entfernt scheint, und das „Rüberbringen“ der deiner Story innewohnenden Botschaft auch noch in einen unterhaltenden Rahmen eingepasst.

Das ist eine solide Arbeit. Es liest sich flüssig, die Abschnitte greifen ineinander über und selbst der schwierige Galoppwechsel (das Einfügen der Erinnerungen) klappt.

Allein der Beginn ist wie eine Ouvertüre; zeigt er laut die folgende Dramatik an, ohne etwas zu verraten. Nun könnte sich Kritik am Umfang der Geschichte auftun. Leider ist es eine Erfahrung, dass längere Texte nicht in allen Fällen vom Leser geliebt werden. Bei „cooler Betrachtung“ ließen sich bestimmt Passagen streichen. Das würde aber zu Lasten der Atmosphäre gehen, die du mit ruhigen Worten zu schildern weißt. Du nimmst deine Leser mit.

Vielleicht mag manchem ein wenig zuviel heile Welt inmitten der Ausweglosigkeit vorkommen; der glückliche Umstand mit dem Zivi, die Beziehung zwischen Lene und dem Hund, und natürlich das Happy End. Dem steht gespitzte Dramatik (zum Beispiel bei der Erinnerung an Simons Unfall) entgegen. Aber, warum darf eine Geschichte nicht auch Hoffnung im Unglück verheißen? Ich glaube, gerade bei mit Gewissheit unheilbar Kranken können schon kleine Begebenheiten Freude vermitteln, Erlebnisse, an denen „WIR“ wahrscheinlich achtlos vorüber laufen würden. Wen interessiert schon eine Katze, die sich streicheln läßt?

Bleiben nur ein paar „klitzekleine“ Anregungen (als Beispiele):

Nur die Nachbarskatzen, die früher öfter zu Lene gekommen waren, waren anfangs misstrauisch.

Zweimal „waren“.

Sie erinnerte sich an die Kaminabende im Winter, wenn Simon sein Cello hervorgeholt hatte und liebevoll über den Bauch des alten Instruments gestrichen hatte, bevor er daraus weiche, dunkle Melodien gezaubert hatte.

Vielleicht lässt sich hier das eine oder andere „hatte“ in diesem Satz verändern.


Wenn die alten Leute nur nicht immer so bockig wären … hatte Herr Lemberg, selbst schon weit über sechzig, gedacht. Aber die schmale, blasse Dame, die ihm gegenüber saß, hatte nicht nachgegeben.
„Wenn ich Friedel zu andern Leuten geben würde, das wäre ja wie Verrat! Er ist doch das einzige, was ich noch habe.“

An dieser Stelle „verlierst“ du Lene und sprichst von „der schmalen blassen Dame“, so, als wäre es plötzlich eine Fremde. Das ist ein für den Leser zu überraschender Perspektivwechsel.

Der Doktor ist „über sechzig“, aber noch „unter siebzig“. Wenn er seit „über“ vierzig Jahren Hausarzt ist, hat er sehr früh angefangen. Würden „dreißig Jahre“ als Lenchens Hausarzt nicht besser sein?

In wörtlichen Rede sollten zur Vermeidung von Verwechselung „Ihr, Sie“ groß geschrieben werden, wenn jemand angesprochen wird.

Eine letzte Frage eines (wissbegierigen) Nordlichts. Was sind Rötel?

Bleibt die Feststellung, dass du eine schöne und runde Story geschrieben hast.

Liebe Grüße von Mü nach Mü
Hannes

 

Hallo Hannes!

Danke für Lesen und vor allem für Dein Feedback! Ich ahb mich wirklcih sehr drüber gefreut! :bounce:

Zu Deinen Vorschlägen: mit den Wiedreholungen von „hatte“ oder „waren“ hast Du recht, vor allem das „hatte“ springt mir jetzt richtig entgegen… ich werde überlegen, wie ich das rausnehmen kann.

Der Doktor ist „über sechzig“, aber noch „unter siebzig“. Wenn er seit „über“ vierzig Jahren Hausarzt ist, hat er sehr früh angefangen. Würden „dreißig Jahre“ als Lenchens Hausarzt nicht besser sein?
Du hast die Ursprungsversion gelesen, denke ich, oder? In der 2. Version (link) habe ich diese Stelle geändert. ;)

In wörtlichen Rede sollten zur Vermeidung von Verwechselung „Ihr, Sie“ groß geschrieben werden, wenn jemand angesprochen wird.
– ich dachte, man sollte es nach der neuen, nicht mal bei schriftlichem, sprich Briefen groß schreiben?

Eine letzte Frage eines (wissbegierigen) Nordlichts. Was sind Rötel?
– etwas zum malen – wie Kreiden, Kohle etc auch. :)

liebe Grüße zurück!
Anne

 

Hallo Maus,
das ist ja eine unglaublich intensive Geschichte, wunderschön erzählt! Ohne viel Aktion sehr spannend. Toll, wie du dich in Lenes Leid hineinversetzt! Eine meiner größten Ängste besteht darin, dass mein Mann stirbt. Zwischendurch konnte ich nicht mehr weiterlesen, musste erst einmal eine Pause machen! Stefan hatte schon Recht, dass du zu viele Themen anpackst, an dieser Stelle war ich froh darüber. Und das Ende ist wunderbar hoffnungsvoll!

Folgende Stellen fand ich besonders schön:
"Sein Gesicht, sein ganzes Wesen waren in ihrem Bewusstsein, als hätte sie ihn vor einer Stunde zuletzt gesehen und berührt."
viele liebe Grüße
tamara

 

Hallo Tamara!

Danke für das große Lob - :bounce: ich hab mich sehr gefreut! :)

lieber Gruß
Anne

 

Liebe Anne!

Mit der ohnehin schon üblichen Verspätung wünsche ich Dir hiermit alles Gute fürs neue Lebensjahr! :anstoss:
Wahrscheinlich hätte Dich die Kritik während des Feierns eh nicht interessiert… ;)

Die Geschichte ist sehr schön und gefühlvoll geschrieben. Ein trauriger und zugleich hoffnungsvoller Blick hinter Lenes Maske. Jeder Abschied, so traurig er ist, zieht einen Neubeginn nach sich, der das Leben der alten Dame noch ein Stück mehr bereichert; als der Hund gestorben ist, dachte ich, jetzt würde auch sie sterben, und siehe da, plötzlich kommt eine Katze, und, ehrlichgesagt dachte ich da schon, daß es wohl gut war, so, wie es gekommen ist. Sie war nicht mehr rüstig genug für den Hund und hergeben hätte sie ihn auch nicht können – ihr Herz hing an ihm und wer weiß, ob ihn noch jemand genommen hätte. Er wäre wieder im Tierheim gelandet…
Die Katze ist selbständiger, schenkt ihr Ruhe statt Auslauf zu fordern, was ihr für die letzte Zeit im Leben gut tun wird.
Schade fand ich, daß sich mit dem Zivildiener offenbar kein weiterer Kontakt ergibt. Aber vielleicht besucht er sie ja doch hin und wieder, zum Beispiel zu Weihnachten.

Seltsam fand ich das Übersiedeln ins Heim, also daß sie noch keine Nacht dort geschlafen hat, aber schon ihre Wohnung aufgibt. Oft behalten alte Leute ihre Wohnung noch eine Weile, damit sie, falls es ihnen nicht gefällt, wieder zurück können, oder einfach, weil sie sich nicht so leicht trennen können. Bei uns kann man in den Pensionistenheimen sogar probewohnen, bevor man sich entscheidet – Du sprichst ja auch von einem Wohnheim, nicht von einem Pflegeheim (ich nehme an, Du kennst den Unterschied).
Das würde ich also eventuell ändern, sodaß sie bereits ein paar Tage und Nächte dort verbracht hat, bevor sie ganz übersiedelt. – Falls Du aber ausdrücken willst, daß sie alles möglichst schnell hinter sich lassen will, dann würde ich das deutlich machen, da es doch eher ungewöhnlich wäre. Zum Beispiel könnte es ein Weiterdenken dessen sein, warum ihr Mann nicht gemalt werden wollte, weil die Erinnerungen im Kopf sind und nicht an irgendwelchen Gegenständen.

Ja, und dann hab ich da noch eine Liste für Dich:

»„Lass uns spazieren gehen … ich muss an die frische Luft.“, sagte sie leise«
– keinen Punkt nach »Luft«

»Simons kräftige, warme Hand, die ihre umschlossen hatte«
– nach »hatte« gehört er hin, der Punkt

»Die Hände zitterten, dass es die reinste Geduldsprobe war.«
– würde »Ihre Hände« schreiben

»Ungestüm und übermütig freute er sich über das Weiß.«
– da es beides eigentlich dasselbe sagt, würde ich entweder »Ungestüm« oder »übermütig« streichen

»„Er ist bei uns, seit er etwa ein halbes Jahr alt ist.«
– alt war.

»Er wurde von seinen Vorbesitzern halb tot geprügelt«
– zusammen: totgeprügelt

»dass sie sich schnurrend an den Bauch des Hundes kuschelten um zu schlafen.«
– kuschelten, um zu

»Es hatte lange gedauert, bis sie wieder anfangen konnte, zu malen. Zu sehr hatte dieses tote Gefühl in ihrer Seele gelegen, als dass sie Rötel oder Pinsel hätte anfassen können. Erst Monate später hatte sie wieder einen Auftrag für ein Portrait angenommen, und als sie zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder eine Skizze gefertigt hatte,«
– an einigen Stellen, wie hier, häufen sich die »hatte« schon sehr, vielleicht bringst Du ja ein paar davon noch weg.

»Als ob die ganze Trauer und Sehnsucht aus ihren Fingern ins Bild geflossen wären.«
– »Als ob« ließe sich vermeiden: Als wären alle Trauer und Sehnsucht aus ihren Fingern ins Bild geflossen.

»Aber die lähmende Ohnmacht hatte Lene abgestreift.
Doch es gab etwas, das ihr Sorgen machte.«
– würde vielleicht das »Aber« streichen, »Aber« und »Doch« hintereinander als Satzanfang macht sich nicht so gut. Stattdessen könntest Du aber nach »abgestreift« einen Beistrich machen: Die lähmende Ohnmacht hatte Lene abgestreift, doch es gab etwas, das ihr Sorgen machte.

»Egal, ob Bleistift oder Kreide: die feinen Linien waren verwackelt und unsauber.«
– da nach dem Doppelpunkt ein ganzer Satz steht, gehört »die« groß.

»dass es nicht besser wurde, obwohl sie nur noch Tee trank.«
– würde hier Kräuter- oder Früchtetee verwenden.

»Wenn die alten Leute nur nicht immer so bockig wären … hatte Herr Lemberg,«
– wären …, hatte

»Er ist doch das einzige, was ich noch habe.“«
Einzige – würde schreiben: Er ist doch der Einzige, den ich noch habe.

»Er suchte die Adressen von einem geeigneten Ergotherapeuten und einem Masseur.«
– die Adressen eines geeigneten Ergotherapeuten und eines Masseurs.

»Außerdem klärte er Lene über den Verlauf ihrer Erkrankung auf.«
– ihrer Krankheit

»Sie hörte ihm zu, mit starrem Gesicht«
– da man nicht mit dem Gesicht hört, würde ich das umformulieren

»Als Simon noch gelebt hatte war alles anders gewesen.«
– gelebt hatte, war

»Einsamkeit oder Hilflosigkeit hatte es in ihrer Liebe nicht gegeben.«
– um wieder mal an die »hatte«-Vermeidung zu erinnern: hier könntest Du ruhig auch schreiben: gab es in ihrer Liebe nie.

»Sie mochte die Familie sehr gerne, aber sie hatte Angst, dass das Ehepaar ihren Tremor bemerken könnte, wenn sie sahen, wie schwer sie sich zum Beispiel damit tat, ihre Wohnungstüre aufzusperren.«
– »zum Beispiel« gefällt mir in einer Geschichte weniger, wie wäre es mit der Formulierung »wie schwer sie sich allein schon mit dem Aufsperren der Wohnungstür tat«, oder »wie schwer ihr sogar das Aufsperren der Wohnungstür fiel«?

»Zu den Terminen beim Ergotherapeuten und beim Arzt.«
– Vergibt der Hausarzt Termine? Würde eher »zum Arzt« schreiben.

»sie gehörte zu den Menschen, die Anrecht auf Vergünstigungen und Sonderrechte hatte.«
– hatten (die Menschen, MZ); würde aber in dem Fall auch das »hatte« vermeiden: gehörte zu den Menschen, die Vergünstigungen und Sonderrechte bekamen.

»dass ein Zivildienstleistender jeden Tag zu ihr kommen sollte und das Nötigste erledigte.«
– würde schreiben: jeden Tag zu ihr kommen und das Nötigste erledigen sollte.

»und erledigte die nötigsten Sachen in der Stadt.«
– um nötigste nicht zu wiederholen, Vorschlag: erledigte Besorgungen für sie in der Stadt.

»Voll Begeisterung hatte er ihr erzählt,«
– wäre da eher für »Voller Begeisterung« oder »Begeistert«

»Sie hatte ihn bei einer gemeinsamen Freundin kennen gelernt,«
– zusammen: kennengelernt

»Ein Schritt, das linke Bein anspannen, Knie beugen… nach vorne …«
– Leerzeichen nach »beugen«

»Mühsam versuchte sie sich aufzuraffen, von der Frau und einem älteren Herren gestützt.«
– versuchte sie, sich … Herrn

»Sie bemerkte das Blut, das ihr am Bein hinunter lief, nicht.«
– das nachgestellte »nicht« klingt nicht so gut, würde das gleich hinter »Blut« schreiben.

»Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen.«
– hing es zu diesem Zeitpunkt nicht noch immer?

»Als es an der Türe klingelte, versuchte sie sich schnell die Tränen aus den Augen zu wischen.«
– versuchte sie, sich

»Als Lene mit ihr im Lift stand, fragte sich sie, wie sie es schaffen sollte, täglich diesen kleinen grünen Knopf zu treffen.«
– fragte sie sich
– scheint ein eher altmodisches Haus zu sein, wenn sie für die alten Leute noch keine großen Tasten im/beim Lift haben; vielleicht könntest Du ihre Angst ja an etwas anderem zeigen? Mir fällt dazu ein: Du könntest hier noch einmal den Zivildiener einbauen, indem er ihr bei der Umstellung hilft und ihr vielleicht ein Handy schenken möchte, damit sie ihn anrufen kann, falls sie ihn brauchen sollte. Aber sie kann nichts damit anfangen, wegen der kleinen Tasten… ;)
(Meine Oma hatte im Pflegeheim ein Telefon mit riesigen, ca. 4 x 4 cm großen Tasten…)

Alles Liebe,
Susi :)

 

Liebe Susi,

erstmal ganz herzlichen Dank für Deine guten Wünsche und für diese irre ausführliche Kritik! (und die lange Korrekturliste ;) )
Bin momentan etwas durch den Wind, ich schau mir das Morgen in aller Gründlichkeit an. Dein Engagement fordert ja geradezu eine Überarbeitung! Morgen eine ausführliche Antwort! :)

liebe Grüße
Anne

 

Liebe Susi!

So, jetzt kommt die ausführliche Antwort, die Deine Kritik auch verdient hat!

Dein Lob freut mich natürlich sehr,

„Jeder Abschied, so traurig er ist, zieht einen Neubeginn nach sich, der das Leben der alten Dame noch ein Stück mehr bereichert“ ja. Ich wollte sie nicht einfach so sterben lassen … auch wenn ich, bei jetztigem Durchlesen (nach doch langer Ruhezeit für diese Geschichte) diese Neubeginnen und Wechsel ein bisschen als Reihung empfunden habe …

„Schade fand ich, daß sich mit dem Zivildiener offenbar kein weiterer Kontakt ergibt. Aber vielleicht besucht er sie ja doch hin und wieder, zum Beispiel zu Weihnachten.“ ja, den hab ich ein bisschen abgewürgt, da hast Du recht! Allerdings sind die folgenden Szenen ja eine sehr sehr kurze Zeitspanne (3 Tage nachdem Marco gegangen ist, und der Umzug und Wohnheimeinzug an einem Tag) – also ist es nicht undenkbar, dass der Kontakt (wie Du schon meintest) etwa zu besonderen Tagen oder ab und an mal ein Telefonat weiterbesteht ...

„Seltsam fand ich das Übersiedeln ins Heim, also daß sie noch keine Nacht dort geschlafen hat, aber schon ihre Wohnung aufgibt. Oft behalten alte Leute ihre Wohnung noch eine Weile, damit sie, falls es ihnen nicht gefällt, wieder zurück können, oder einfach, weil sie sich nicht so leicht trennen können.“ Da hast Du sicher recht. Ich hatte eher daran gedacht, dass sie einfach in ihrer Wohnung so eigenständig nicht mehr zurecht kommt, dass es einfach nicht mehr geht, jetzt, wo Marco weg ist – und dass sie sich deshalb dafür entschieden hat, weil sie selbst eingesehen hat, dass es nicht mehr geht. Außerdem ganz alleine in der Wohnung, jetzt auch ohne Hund, wird sie da vielleicht auch garnciht mehr so unbedingt leben wollen … das war mein Ansatz.
Den Unterschied zwischen Wohn- und Pflegeheim kenne ich; immer öfter werden auch Mischformen angeboten. (hier in München sieht man oft Werbung für ein Heim, in dem man anscheinen stufenlos zwischen eigenständigem Wohnen im Heim, betreutem Wohnen, und Wohnen mit Pflege wechseln kann, je nach Gesundheitszustand). Bei Lene hatte ich die Form „ betreutes Wohnen“ im Kopf.

„Falls Du aber ausdrücken willst, daß sie alles möglichst schnell hinter sich lassen will, dann würde ich das deutlich machen, da es doch eher ungewöhnlich wäre. Zum Beispiel könnte es ein Weiterdenken dessen sein, warum ihr Mann nicht gemalt werden wollte, weil die Erinnerungen im Kopf sind und nicht an irgendwelchen Gegenständen.“ Du hast recht, einen Hinweis darauf kann ich noch einfügen, damit das verständlicher wird. :)

Ja, und dann die Liste hab ich abgearbeitet, und fast alles übernommen. Vor Dir ist kein Komma und kein Leerzeichen sicher. ;) Vielen Dank auch für die zahlreichen stilistischen Anmerkungen, die ich ebenfalls fast alle eingebaut habe!

Liebe Grüße
Anne

 

hallo anne,

ich kannte diese geschichte schon, sie ist prägnant, deshalb werde ich sie auch nicht vergessen. aber wo ist mein kritisches posting von damals????

an die einzelheiten der ersten version kann ich mich nicht erinnern, so kann ich auch keinen direkten vergleich machen.
so wie damals hat mir auch jetzt diese geschichte (es war ein langer marsch) gut gefallen. dein erzählstil ist hervorragend und kommt auch ohne effekte aus, um den leser an der leine zu halten.
der inhalt ist passend. gutes auge! mir gefällt das ende. wie der elefant begibt sie sich zu ihrem letzten ort, nachdem sich alles von ihr nach und nach verabschiedet hat - klassisches alterneffekt. hier wäre die dekadenz rund. aber du machst zum schluss noch ein kleines lichtlein an, indem du die katze sich bei ihr auf dem schoss wohlfühlen lässt.
grundsätzlich eine starke geschichte. ich habe nur noch ein paar kleinigkeiten:

Das blaue Häferl zersplitterte in tausend Teile
ach, deswegen ist häferl so rar hier in der letzten zeit *smile*!

Auf dem kleinen See schwamm ihr eine ganze Flotte von Enten und Blesshühnern in der Erwartung von altem Brot entgegen. Im Kielwasser zerstörten sie die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der Wasseroberfläche. Aber Lene hatte in ihrem Aufbruch nicht an die Vögel gedacht. Friedel zog an der Leine, wedelte mit dem Schwanz und versuchte die Schwäne zu verbellen, die auf ihn zu schwammen.

"schwamm" ist doppelt. synonym vielleicht "paddeln", "gleiten"

Sie erinnerte sich genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in dem kleinen Zwinger des Tierheims.
„Ich möchte einen älteren Hund, einen, der zu mir passt“, hatte sie der Leiterin erklärt, als diese ihr von einem ganzen Wurf junger Hunde erzählt hatte, den sie vor einigen Tagen erst in einem Karton vor der Tür gefunden hatte. Daraufhin waren sie in den hinteren Bereich der Abteilung gegangen, wo Dackel und Boxer und Pudel und Retriever und Mischlinge aller Arten und Größen in den Zwingern saßen

"Zwinger" ist doppelt. synonyme wären: "hinter Gitten", "hinter Maschendraht", "Kräfig"

Und in einem der Zwinger lag Friedel in einer Ecke und blickte kaum auf, als sie an seiner Tür vorbeigingen.

hier kommt schon wieder "Zwingern" - das könnrtest du auch ganz weg lassen "Und dort lag auch Friedel" - für den leser ist es absolut klar, dass er eingesperrt ist.

Er hat nur noch drei Beine. Ein Bein musste amputiert werden.
das "Bein" muss sich aber auch nicht doppelt. "Das fehlende musste amputiert werden" "Das eine musste amputiert werden"

Zunächst war Friedel ängstlich und lethargisch,

nicht jeder leser kennt das wort. und da du auf fremdwörter bislang verzichtet hast, darfst du auch gerne die übersetzung nehmen: "lustlos", teilnahmslos"

, aber schon nach einigen Tagen begann er, seinen Charme und sein Temperament auszuspielen. Nur die Nachbarskatzen, die früher öfter zu Lene gekommen waren, waren anfangs misstrauisch. Doch der Hund hatte sich im Tierheim so an Katzen gewöhnt,

"Katzen" sind doppelt. synonyme wären "Mäusefänger" (das hörst du wohl nicht so gerne, oder *smile*?, "Kratzbürsten" oder einfach "sie" oder allgemein erweitern auf "untscheidlichste Tierarten"

Du weisst ja, der ganze erinnerungsblock an friedel hat eigentlich ein zeitenproblem. diesen block mit "*" einzuklammern hilft nur wenig, besonders weil du im übernächsten block auf die korrekte zeit achtest.

Als sie um den See herumgingen, fiel die Anspannung langsam von ihr ab.

Zuhause nahm Lene einen Lappen, wischte den verspritzen Tee auf und klaubte die Scherben vom Boden. Sie zwang sich, nicht an Simon zu denken, als sie die blauen Tonsplitter in Händen hielt. Der Anruf, der zerschmetterte Wagen, das Begräbnis … nein. Nicht daran denken. Die Tränen rannen still über Lenes Wangen, folgten den Fältchen wie einem ausgetrockneten Bachbett

ich würde vorschlagen ein "wieder" vor "Zuhause"

Es tut mir Leid, ihnen das mitteilen zu müssen … aber … sie haben Parkinson.

"ihnen" gross
die alte frau hat kein parkinson, sie leidet daran!

Als sie sich das Gesagte zuhause noch einmal verdeutlichte, fühlte sie sich elend. Alt und verbraucht bin ich, dachte sie. Bald werde ich nicht mehr normal gehen können, vielleicht auch nicht mehr richtig sprechen. Ich werde nie wieder malen. Nur noch Friedel kümmert sich um mich.

"dachte sie" nicht kursiv

Sie hatte ihn bei einer gemeinsamen Freundin kennengelernt,

du schreibst nach neuer rechtschreibung, deshalb "kennengelernt" auseinander

Doch als die Ampel auf grün schaltete, war Lene nicht fähig einen Schritt zu tun. Die Muskeln gehorchten ihr nicht, sie stand steif vor der grünen Ampel.
hier grünt es zweimal- die "Ampel" ist auch doppelt. musst das denn noch mal erwähnt werden? "Die Muskeln gehorchten ihr nicht mehr, sie stand steif da" oder "steif vor dem Übergang."

„Mir ist nichts passiert, kein Arzt“, hörte sie sich.
besser hinter "sich" noch ein "sagen"

Ihre Hände waren vom Fall auf den Asphalt aufgeschürft.
wie war das mit der rendundanz? wovon die hände aufgeschlagen sind, haben wir leser schon oben gelesen!

die trotz ihrer Krankheit und dem Tod ihres Mannes so lebenslustig erschienen war.
*hm* von dieser lebenslust hast du aber nicht viel durchblicken lassen

Friedels Tod war das Schlimmste, was ihr noch hatte passieren können. Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen.
den zweiten satz könntest du auch in perfekt schreiben, das dürfte inhaltlich noch richtig sein, aber du könntest das 2. "hatte" wegnehmen.

Sie blickte in die Ecke neben dem Kamin. Dort hatte immer das Cello gestanden. Der Anblick der leeren Ecke ließ Tränen in ihr aufsteigen.

2 "Ecken" das erste "Ecke" könntest du vielleicht öterreichisch schreiben. "Winkel"

Die Leiterin hatte die Türe nicht geschlossen,

"Türe" >> "Tür" oder möchtest du jetzt peotisch werden?

bis dann

barde

 

so, lieber Barde,

nun hab ich auch fast alles geändert, was Dir noch aufgefallen ist. Vielen Dank für die vielen Hinweise und schöneren Formulierungen; Dir fallen auch alle Wortwiderholungen auf. ;)
Danke für das Lob, was den Inhalt und die Aufarbeitung betrifft. Es war mir sehr wichtig, alles glaubwürdig zu vermitteln und am Schluss ein kleines Licht zu setzen ...

liebe Grüße
Anne

 

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