Mitglied
- Beitritt
- 13.02.2003
- Beiträge
- 18
Letzte Gelegenheit
Der Präsident hatte seine Ansprache beendet. Dave drückte den Ton des Fernsehers auf der Fernbedienung leiser. Sein Gesicht, kreidebleich wie ein frisch verputztes Mauerwerk.
„Hast Du das gehört, Martha? Ein Fehler im Frühwarnsystem. Ein verdammter Fehler im verdammten Frühwarnsystem.“
„Aber das werden die doch wieder hinkriegen, oder etwa nicht?“ fragte Martha mit zittriger Stimme.
„Ja, hast Du denn nicht zugehört? Diese saublöden Ingenieure haben versagt. Verflucht sei der Tag, an dem sie alles diesem Superrechner „Deep Blue II“ überließen. Damals wusste ich schon, dass sich das rächen würde.“
„Was soll das alles bedeuten, Dave?“
„Verflucht Frau. Eine Stunde, wenn überhaupt hat dieser Dreckskerl gesagt. Und das wir mit dem Schlimmsten rechnen müssten.“
„Aber die müssen doch auf einen solchen Notfall vorbereitet sein. Das kann doch nicht …“
„Diese saublöden Hunde haben’s versaut. Richtig versaut.“
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, diesen Rechner ausschalten zu können. Die haben dieses Ding doch schließlich programmiert.“
„Versaut. Diese saublöden Hunde.“
„Aber man muss doch irgendwie den Stecker ziehen können.“
„Verdammt Martha. Meinst Du, dieser Clown hält ne Rede, wenn sie der Meinung wären, das Ruder noch rumreißen zu können?“
„Dann ist alles vorbei? In einer Stunde?“
„Wenn überhaupt!“
Eine eisige Stille setzte ein, dessen Kälte Daves und Marthas Gesichtzüge gefrieren ließ. Im Hintergrund ertönte indes die Nationalhymne, die auf allen Kanälen anstelle des regulären Programms gespielt wurde.
„Dave, was sollen wir jetzt bloß tun?“
„Was weiß ich, verdammt. Glaubst Du, ich habe Erfahrungen mit Weltuntergängen?“
Plötzlich erhellte sich Marthas Miene, mit einem Ausdruck, der anzeigte, dass ihr gerade was Wichtiges eingefallen war.
„Die Kinder“, rief sie aus.
„Was soll mit ihnen sein?“
„Wir müssen sie benachrichtigen.“
„Sie wissen es bestimmt schon. Wenn eine Nachricht rumgeht wie ein Lauffeuer, dann wohl diese. - Diese verdammten saublöden Hunde!“
Geistesabwesend griff Martha zum Hörer, um kurz darauf ein noch verwirrteres Gesicht zu ziehen.
„Die Leitung ist tot.“
„Kann ich mir vorstellen. Wenn der Karren erstmal richtig in den Dreck gefahren ist. Und im Dreck werden wir auch elendig krepieren.“
„Dave, sag doch so was nicht. Du machst mir Angst.“
„Was soll ich nicht sagen?“ Du hast wohl immer noch nicht kapiert, was?
Immer noch nicht die Lage gecheckt, was? Typisch. Wie ich doch den Tag bereue, an dem ich dich traf. Jede hätte ich haben können. Jede. Und ich vergeude meine Zeit mit Dir. Und jetzt ist alles zu spät.“
„Fang doch jetzt nicht damit an. Gerade jetzt.“
„Wieso denn nicht? Jetzt ist doch alles egal. Wenn es gleich knallt und wir uns in unsere Atome auflösen, sollst Du ruhig wissen, was ich von Dir halte. Im Angesicht des Todes kann man sich doch ruhig die Wahrheit sagen, oder?“
„Wenn es so schrecklich mit mir war, warum bist Du dann nicht einfach gegangen? Warum nicht, heh?“
„Ja, das frage ich mich auch, aber jetzt ist sowieso alles zu spät, um irgendwas zu bereuen. Einige haben eben Glück und andere wie ich …“
Marthas Augen füllten sich langsam mit Tränen, durch deren Schleier hindurch sie Dave nur noch verschwommen wahrnahm.
„Dann hau doch ab. Hau ab und lass mich wenigstens in Frieden sterben. Du Arschloch, hau doch ab! Hau ab!“
Daves Gesicht errötete in Sekundenbruchteilen, und die Backpfeife die laut und schmerzhaft Marthas Gesicht traf, schallte in ihren Ohren nach.
„Wie hast Du mich genannt, du Weibsstück? Du vergisst wohl, wer es war, der dich aus deinem erbärmlichen Loch geholt hat. Wo wärst Du denn heute ohne mich. Sag! Wo?“
Martha blieb keine Luft für eine Antwort. Die Tränen und das Gefühl ihrer immer heißer werdenden Wange erstickten jedes Wort in ihr. Doch sie wusste, dass es noch nicht vorbei war.
Weinend flüchtete sie vor Dave, der sich wie immer mit einer Backpfeife noch längst nicht zufrieden geben wollte. Lautstark fluchend folgte er ihr in die Küche.
„Jetzt lauf nicht vor mir weg. Du weißt, Du machst es nur noch schlimmer.“
Martha hechtete um den Tisch herum. Angst erfüllte sie. Doch neben der Angst machte sich ein neues Gefühl bemerkbar. Was sie diesmal in ihrem Inneren empfand, war ein wütendes Aufbegehren. Wenn wirklich alles gleich vorbei sein sollte, was hätte sie dann schon zu verlieren?
Um den Tisch kreisend bemerkte Dave, dass Marthas Blick den Messerblock auf der Arbeitsplatte streifte.
„Na los. Greif schon zu. Greif zu, aber mach dich auf die größte Abreibung deines jämmerlichen Lebens gefasst. Du wirst dir noch wünschen, dass die Bomben endlich fallen mögen. Das verspreche ich dir.“
Dave dachte, dass seine Worte seine Frau zu Genüge einschüchtern würden, wie sie es in der Vergangenheit schon so oft getan hatten. Umso überraschter war er, als Martha mit einer flinken Bewegung, wie er sie nie von ihr erwartet hätte, das Fleischermesser mit dem schweren schwarzen Holzgriff aus dem Block zog.
Bemüht seine Überraschung zu überspielen, sagte er mit einer großzügigen Miene: „Leg das Messer wieder weg, Martha. Leg es weg und Du hast mein Wort, dass ich es kurz und schmerzlos mache.“
Doch während er sprach, blieb Martha nicht verborgen, was sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Es war Furcht. Jedoch spürte Martha, dass es nicht Furcht vor dem Messer in ihrer Hand war. Nein, nicht das Messer war es, vor dem Dave sich fürchtete. Vielmehr war es der unerwartete Widerstand seiner Frau, der Ausdruck von mutiger Unerschrockenheit in ihren Augen, der ihn zögern ließ.
Als Martha zum ersten Mal diese Art der Überlegenheit zwischen ihnen verspürte, ward ihr Herz sogleich von einer großen Traurigkeit erfasst, da doch schließlich bald jegliche Hoffnung für die Menschheit scheinbar dahin war und mit ihr auch die Möglichkeit dieses Gefühl zu bewahren.
Aber wenn wirklich alles dahin war, dann wollte sie jetzt wenigstens ihr Leben mit diesem neuen starken Gefühl beenden.
Dave entschloss sich zu handeln, bevor dieses neue Gefühl, das von seiner Frau Besitz ergriffen hatte, in ihr Überhand nehmen würde.
Sein Arm schnellte hervor, um Martha bei der Schulter zu fassen, doch sie wehrte den Versuch mit dem Messer ab, welches sich durch Daves Unterarm schnitt und eine klaffende Wunde hinterließ.
Geschockt presste er sofort seine Hand auf den Schnitt. Blut quoll zwischen den Fingern hervor und tropfte zu Boden. Als er begriff, dass sich die Blutung dadurch nicht stoppen lassen würde, unternahm Dave einen weiteren wütenden Versuch Martha zu erwischen.
Martha verwunderte es, mit welcher Leichtigkeit das Messer in Dave eindrang. Diesmal traf sie ihn in die Schulter.
„Verdammtes Miststück. Ich mach dich fertig. Sieh nur, was Du anrichtest. Ich blute wie ein abgestochenes Schwein.“
Mit einem letzten zornigen Aufbäumen stürzte Dave auf Martha zu, doch seine Frau war längst zu einem unbezwingbaren Gegner gewachsen.
Den Griff beidhändig gepackt, stieß Martha die Klinge in Daves Herz, welches sofort zu schlagen aufhörte.
Dave sackte vor ihr in sich zusammen und blieb unbeweglich vor ihren Füßen auf dem Linoleum liegen.
Daves Tod löste Marthas Anspannung. Erschöpft ließ sie sich auf einem Stuhl fallen und bisher zurückgehaltene Tränen strömten nun hinaus.
Martha weinte bitterlich, doch dann fing sie sich wieder. Wie lange hatte wohl ihre Auseinandersetzung gedauert? Wie viel Zeit blieb ihr noch? Eine halbe Stunde? Weniger?
Als Martha bemerkte, dass das Blut, das sich unter Dave ausbreitete, im Begriff war, ihre Schuhe zu erreichen, verließ sie angewidert den Platz und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Als sie das Zimmer betrat, lief der Fernseher immer noch und auch die Nationalhymne wurde noch gespielt.
Spielend gingen sie unter, dachte Martha und griff zur Fernbedienung, um den Spuk ein Ende zu bereiten.
In diesem Augenblick erschien ein sichtbar gelöster Präsident wieder auf der Mattscheibe.
„Liebe Bürger und Bürgerinnen. Ein Wunder ist geschehen. „Deep Blue II“ ist abgeschaltet. Die Gefahr ist gebannt. Die Menschheit wird weiter existieren. Wir werden leben und einen neuen Tag anbrechen sehen.
Ich kann meine Freude gar nicht in Worte fassen. Die Welt feiert die Stunde ihrer Rettung und ich lade sie und ihre lieben Angehörigen ein, mit uns dieses Wunder zu feiern. Lassen sie uns so laut feiern, auf das die Menschen niemals die Gunst, die ihnen erwiesen worden ist, vergessen mögen. Wir danken unserem Schöpfer, dass wir noch einmal eine letzte Gelegenheit geschenkt bekommen haben, aus unseren Fehlern zu lernen.
Lassen sie uns diese Chance zum Wohle der kommenden Generationen nutzen.“