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Letzter Gruß an eine gute Seele
Die Seile knarzen leicht unter dem schweren Gewicht des Sarges. Stück für Stück sinkt er tiefer in das Loch hinein, verschwindet fast aus seinem Blickfeld. Ein paar Zentimeter noch, dann wird er ihn nicht mehr sehen können.
Es fröstelt ihn und er vergräbt seine Hände noch tiefer in den schwarzen Manteltaschen.
Zack, jetzt hängen die Seile durch, der Holzkasten mitsamt dem kalten Menschenkörper ist am Ort seiner Bestimmung angekommen.
Ein Zucken huscht über seinen Rücken. Er stellt seinen Mantelkragen auf. Seine Hände verschwinden dieses Mal nicht wieder in seiner Bekleidung, er lässt sie einfach herunterhängen. Sie sind schwer heute, es ist seltsam. Es fühlt sich an, als gehörten sie gar nicht zu ihm, als hätte er sie heute lediglich angesetzt bekommen. Weil sie heute den Griff der Schaufel fassen müssen, um ihr mit der Erde einen letzten Gruß zukommen zu lassen. Zum Falten der Hände beim Beten braucht er sie auch. Dabei treten seine Knöchel weiß hervor. Es macht eher den Eindruck als wolle er zuschlagen, anstatt Gott um Gnade anzuflehen.
Gott, der sie zu sich geholt hat. Einfach so. Ohne Ankündigung. Mitten aus ihrem so liebevollen Miteinander, mitten aus dem Leben.
Jetzt ist er an der Reihe. Der Pastor drückt ihm die Schaufel in die Hand.
„Mein herzliches Beileid“, murmelt der, wie nach ihm noch viele andere.
Er nickt nur und der Nebel um ihn herum kommt ihm vor, als sei er in seinem Hirn. Er ist gar nicht richtig anwesend. Sein Körper, der ist da. Aber er sieht alles von einem anderen, unsicheren Versteck aus. In diesem Versteck bleibt er und beobachtet.
Fühlt nichts. Beobachtet nur.
Beobachtet, wie ihm Hände entgegengestreckt werden. Wie er selber eine Hand ausstreckt und die Lippen sich leicht bewegen. Er sieht, dass der Nebel Tröpfchen auf seinen Wangen hinterlässt, die langsam in seine Haut dringen. Erkennt, dass der Wind sein Haar zerzaust, als die letzten Anwesenden ihm den Rücken zukehren und gehen.
Er vernimmt eine Stimme im Hintergrund. „Kommst du mit? Oder brauchst du noch ein wenig Zeit für dich?“ Pause. Dann: „Okay, ich verstehe. Wir warten vorne am Tor auf dich. Laß dir ruhig Zeit!“
Danach hört er nichts mehr.
Er schaut hinunter auf das Erdhäufchen auf dem dunkelbraunen, maserigen Holz. Darüber die bunten Kränze. Tss, denkt er. Hätte sie die Blumen zu Lebzeiten geschenkt bekommen, dann hätte sie sich wirklich darüber gefreut! Wofür machen wir das? Um unser Gewissen zu beruhigen?
Die Wahrheit ist doch, dass wir das alles nur für uns tun. Auch jetzt noch, nach ihrem Tod, durchfährt es ihn. Die bunten Blumen erleichtern uns den Anblick des dunklen Erdbodens, der Tiefe, der Ungewissheit. Auch die schwarze Kleidung hilft uns, unsere Trauer auszudrücken. Andere erkennen daran, dass sie uns schonen müssen. Sie sieht das nicht und hätte davon auch nichts.
Ach ja, die Trauer. Um wen trauern wir? Im Grunde genommen sind wir dabei nur mit uns selbst beschäftigt. Wir trauern um eine Arbeitskollegin und Freundin, um eine Mutter und Schwester, die uns an unserer Seite feht! Wir entdecken eine Lücke in unserem Leben und darum trauern wir. Wir trauern um uns, die wir unser Leben jetzt ohne sie verbringen müssen.
So wenig, das wir wirklich für sie tun! Aber was hätte sie auch davon? Schlechte Stimmung steckt an. Soll sie mit diesem letzten Eindruck von der Welt gehen?
Abrupt hebt er seinen Blick. Nein! So darf es nicht enden. Wenn ihre Seele noch etwas wahrnimmt, dann soll es positiv sein!
So wie damals, in jenem Herbst, als sie fast täglich mit ihm spazieren ging und sie den Schirmchen der Pusteblumen hinterhersahen, die mit Hilfe ihres Atems gen Himmel flogen.
Er schließt für einen Moment die Augen und holt diese Tage zurück. Er spürt das Gras, das seine Fußsohlen leicht kitzelte und den Wind, der ihm die störende Haarsträhne aus dem Gesicht blies. Die Sonne, die seine Schultern wärmte.
Betroffen sieht sich die Gruppe der Trauernden am Tor um, als er Schuhe und Mantel von sich schleudert und nur mit Strümpfen über den Weg in Richtung Waldrand rennt.
„Er ist doch nicht verrückt geworden?“, äußert sich jemand.
„Er hat es schwer gehabt, in den letzten Wochen“, wischt sich eine andere die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt sind sie es, die stehen und beobachten. Doch bald ist er hinter der ersten Baumgruppe verschwunden und keiner von ihnen regt sich.
Er läuft bis auf die Lichtung, pflückt eine Blume und pustet ihre Samen in den Wind. Sie verschwinden schnell in dem nebligen Dunst. Ihr Weg lässt sich nicht lange verfolgen.
Langsam entspannt sich sein Mund und öffnet sich dann zu einem Schrei, in dem sich Klage und Revolte mischen. Als ihm die Luft ausgeht, beginnt er wieder zu laufen. Er fühlt das Gras unter seinen Fußsohlen. Feucht ist es heute und kühl. Der Nebel hinterlässt weitere Tröpfchen in seinem Gesicht. Jetzt spürt er, dass dies sein eigenes Gesicht ist. Das ist gut, denkt er. Ich will es spüren, ich will alles spüren, was die Welt mir bietet. Er spürt und pustet all seine Eindrücke erneut mit den Schirmchen der Löwenzahnpflanze in die Luft.
Wieder beginnt er sich in Bewegung zu setzen.
Vor dem Tor verabschieden sich die Menschen, lösen sich grüppchenweise voneinander. Mit geröteten Augen steigen sie in ihre Autos, schließen die Türen und versuchen vergebens, sich die Zukunft vorzustellen. Ohne sie. Kaum vorstellbar.
Währenddessen läuft er weiter. Läuft und läuft.