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Letzter Tag (Loop)

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04.10.2006
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Letzter Tag (Loop)

Schritte, Stolpern, ein Stoß in den Rücken.
„Hm, sorry, Mann!“
Wimmer taumelte auf die Straße.
„Oh, Gott, der Bus, oh Gott, oh Goooott!“, schnappatmete es schräg hinter ihm.
Wie lange sie das wohl noch durchhält, dachte er, jedes Mal dasselbe.
Er fand seine Balance, richtete sich auf, wandte sich mit ausgebreiteten Armen dem heranbrausenden Bus zu, und zwinkerte dem Fahrer zu, dessen Mienenspiel hinter der großzügig dimensionierten Scheibe eine Melange aus Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit anrührte.
Dann erfasste ihn der einfahrende Koloss, überrollte, zermalmte ihn, es tat wie immer nicht weh. Adrenalin, vermutlich werde ich abhängig von dem Zeug, dachte Wimmer noch, bevor einer der Busreifen seinen Kopf unterpflügte, ekelhaftes Geräusch, dann Dunkelheit.
Kurz darauf … ging der Wecker.

Wimmer erhob sich, schlurfte ins Bad, duschte, kleidete sich an, kochte Kaffee, bereitete sich ein Müsli zu, las die Zeitung, bis das Müsli gezogen hatte und der Kaffee durchgelaufen war, dann schaltete er das Radio ein, aß das Müsli, stürzte zwei schnelle Tassen Kaffee hinunter, stellte Tasse und Schüssel in die Spüle, wo sie am Abend auf ihn warten würden, putzte sich noch rasch die Zähne, zog eine Jacke an, nahm seine Tasche und verließ das Haus.
Die Bushaltestelle lag keine zweihundert Meter entfernt von seiner Wohnung an der Ecke zur Hauptstraße. Wimmer gesellte sich zu den bereits wartenden Fahrgästen in spe an den Bordstein.
Der Bus kam sportlich um die Straßenecke geschossen, man hörte den Motor bereits auf größere Distanz. Der Fahrer hatte seinen Jugendtraum, Rennfahrer zu werden, offenkundig nicht begraben, sondern lebte ihn freudvoll im öffentlichen Personennahverkehr aus.
Wimmer vernahm eilig sich nahende Schritte, dann ein Stolpern, und erhielt er einen wuchtigen Stoß, der in aus der Balance brachte und auf die Straße taumeln ließ.
„Hm, sorry, Mann!“, lautete der rückblickend reichlich respektlose Kommentar hierzu.
„Oh, Gott, der Bus, oh Gott, oh Goooott!“, ergänzte eine weibliche Stimme in atemloser Hysterie.
Wimmer stand regungslos mitten auf der Fahrbahn und fixierte wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht eines näherkommenden Wagens schreckensstarr sein viel zu schnell näherkommendes Verhängnis. Wenig kreativ schoss es ihm durch den Kopf: „---!“
War es dann auch.
Kurz darauf … ging der Wecker.

Von diesem Tag an ging Wimmers Wecker tagtäglich kurz darauf. Und jeder Tag, an dem der Wecker ging, war derselbe gleiche Tag.
Bald schon las er die Zeitung nicht mehr, es stand ja immer dasselbe darin, und die Zahl der noch nicht gehörten Radiosender ging gleichfalls zur Neige (die Nachrichten dort waren durchweg stets dieselben gewesen, die launigen Anmoderationen bald schon abgestanden und auch die ohnedies einfallslose Musikauswahl der Stationen wurde durch wiederholtes Hören nicht besser), selbst das Müsli kam ihm vor, als wäre es bereits gegessen worden. Auf das Zähneputzen verzichtete er bald schon, das Geschirr blieb einfach auf dem Tisch stehen, auch die Tür abzuschließen hielt er nicht länger für erforderlich.
Mehr und mehr begann Wimmer das Ende als relativ zu begreifen, sein initialer letzter Gedanke beim Überrolltwerden wurde ihm bald schon peinlich. Offenbar – so stand für ihn fest – war man auf das Ende nicht adäquat eingerichtet. Wenn es kam (in seinem Fall sogar mit dem Bus) hatte man nichts Besseres als einen ramdösigen Gesichtsausdruck und einen unnützen Gedanken in petto.
Also nahm Wimmer die unerklärliche Daseinsschleife als eine Kette von Trainingseinheiten wahr, ein Zirkeltraining sozusagen. Er begann, seinen Abgang aus dem irdischen Jammertal zu nuancieren und nachzubessern. Jeden Tag pünktlich um sieben Uhr dreiundvierzig stolperte derselbe Jemand hinter ihm (er wusste inzwischen, dass es ein junger dreitagebärtiger Mann war, den er nicht kannte, aber liebevoll „Stößchen“ taufte) und rempelte ihn mit der stets gleichen maulfaulen Entschuldigung („Hm, sorry, Mann!“) auf die Straße, wo er wieder und wieder und wieder überrollt wurde. Wimmer fand, dass er souveräner wurde darin, besonders stolz war er, als er eines Morgens im Gesicht des Busfahrers inmitten des bekannten Emotionspotpuorris ein gequältes Lächeln erblickte. Triumphierend ballte er die Faust. Dann das Übliche, bumms, matsch, dunkel.
Kurz darauf … ging der Wecker.

An einem dieser Morgen, er hatte die Zählung eingestellt, gelangte Wimmer beim zweiten Kaffee zu der Auffassung, dass ihn der Aufenthalt im Hamsterrad des Todes nicht weiterbrachte.
Seine Unzufriedenheit ging so weit, dass er sogar nichts dagegen gehabt hätte, einfach mal wieder im Büro zu erscheinen. Aber Gott hatte Schluckauf, und Wimmer kam aus diesem da capo nicht raus, es sei denn … hm. Sorry, Mann.
Als Wimmer die eiligen Schritte des Dreitagebärtigen hinter sich nahen hörte, nahm er innerlich Spannung an. Einundzwanzig, zweiundzwanzig ... Stolpern. Er trat beiseite.
„Hm, sorry, M-“, sagte Stößchen im Vorüberstraucheln. Sein Schwung, der sonst Wimmer über die Bordsteinkante getragen hatte, war ihm zum Verhängnis geworden, und er stand nun dort, wo sonst immer Wimmer gestanden hatte.
„Oh, Gott, der Bus, oh, Gott, oh Goooott!“ Für die Hysterikerin machte der Partnertausch keinen Unterschied.
Stößchen, mit der alternativlosen Option des Ablebens konfrontiert, blickte sich fast ratsuchend um, wie die Lage am besten zu schultern wäre.
Wimmer nickte ihm aufmunternd zu. Er würde es schon noch lernen.
Oder auch nicht, dachte Wimmer, nachdem der Bus drübergefahren war.
Er wartete kurz.
Wartete dann noch einmal.
Der Wecker ging nicht.
Aber Wimmer.
Arbeiten.

 
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Hallo, Friedel,

danke für das Willkommen und das Aufdecken des Geheimnisses, aber wir haben uns hier vor über zehn Jahren schon gemeinsam herumgetrieben, auch wenn du in der Zwischenzeit zweifellos aktiver und treuer geblieben bist ... immerhin: es ist schön zurück zu sein.

wer Tassen und Schüssel eine Seele zuspricht,

Ja, aber viel mehr als Wimmer fangen sie mit ihrem beseelten Dasein ja auch nicht an ... stehen halt in der Spüle und warten darauf, abgespült und weggeräumt zu werden.

Du hast Dir m. E. die falsche Rubrik ausgesucht, denn Humor ist zunächst einmal neben der Satire eine der schwierigsten Kategorien hierorts und keineswegs, wenn man trotzdem lacht

Nun, ich hatte ursprünglich noch "Seltsam" als Rubrik eigesetzt, fand die Geschichte dann aber nicht seltsam genug. Eine Satire ist es im eigentlichen Sinne auch nicht, aber weil sie als Narration auch nicht wirklich ernst zu nehmen ist (ich nehme sie schon ernst als das, was sie ist, aber sie versucht nicht, das echte Leben abzubilden), fand ich Humor passend. Über den man wie über Geschmack nicht streiten kann.

Selbstironie, die ich hier in der Erzählung vermiss

Ich bin ja gar nicht in der Geschichte, da kann ich schlecht selbstironisch sein. Und wenn du von Wimmer Selbstironie erwartest, der hat ja nicht einmal eine Selbstwahrnehmung. Oder was genau fehlt dir hier?

Da fehlt immer wieder mal ein Komma zwischen wörtl. Rede und dem „Redebeisatz“ (s. Klammer)

Gnrbrlgnagut, ich gebe mich geschlagen. Wegen dieser Komma-Sache habe ich mich vor Ewigkeiten hier schon gezofft (ich glaube damals mit Häferl) ... du wirst feststellen, dass es konsequent immer dann fehlt, wenn die wörtliche Rede mit einem ! oder ? endet. Und so hab ich das gelernt. Wenn da am Ende ein Ausrufezeichen oder Fragezeichen steht, dann kommt da kein Komma hin, weil ja das Satzzeichen schon in der wörtlichen Rede steht. Beim Punkt steht er da nicht, darum kommt da ein Komma.

Wenn aber alle Welt und jetzt auch noch du mir damit kommen, und die Regeln obendrein so sind (habe ich gerade gegoogelt), dann Welt, oh, Welt, sollst du deinen Willen haben. Ich habe mir aber gerade mal ein Buch aus dem Regal geholt, Drucklegung 1986, und da steht das so drin wie ich das schreibe. Ich habe mir das also nicht alles eingebildet. Aber ich gelobe, dass ich künftig immer ein Komma fallen lassen werde.

„Gott“

Hier geht es gar nicht darum, dass das Doppel-T gesprochen wird, sondern dass das langgestreckte "o" so klingt wie in "Gott", und nicht wie in "Gote", also etwas weiter hinten im Rachen gebildet wird.

als ginge es nicht auch klammerlos: „… und schenkte ein Zwinkern dem Fahrer, dessen Mienenspiel hinter der großzügig dimensionierten Scheibe eine Melange aus Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit anrührte.
Oder noch besser einfach nur „„… und zwinkerte dem Fahrer zu, dessen Mienenspiel hinter ...“

Es geht immer "klammerlos", das ist nur eben manchmal langweilig. "Schenkte ein Zwinkern dem Fahrer" geht aber mal überhaupt gar nicht, und weil in der Tat "schenkte dem Fahrer ein Zwinkern, dessen Mienenspiel" auch knarzt, habe ich deine Anregung aufgenommen, Wimmer zwinkern zu lassen.

Eins von beiden kannstu streichen.

Als hätte ich das nicht absichtlich dahingeschrieben, bitte!? Außerdem: Dasselbe ist nicht das gleiche. Hier ist es aber beides. ;)

die Frage, was „M-“ (M minus?) bedeute ...

"M-" heißt nicht "Mminus", sondern stellt das Fragment des vor lauter Verwunderung nicht mehr vollständig ausgesprochenen Wortes "Mann" dar, das Stößchen bei den unzähligen vorherigen Gelegenheiten im Dreisatz "Hm. Sorry, Mann!" artikuliert hat. Was er sich dieses Mal spart, weil er den "Mann" ja diesmal nicht anrempelt.

Zum Abschluss noch die Frage nach dem oft ge-, m. E. gar missbrauchten „würde“, als reichte nicht das schlichte Futur I „er wird es schon lernen“

Einspruch. Normalerweise bin ich gleichfalls der Ansicht, Deutsch sollte eine weitgehend würdelose Sprache sein, aber hier gehört das so. Wäre die Geschichte im Präsens geschrieben, dächte Wimmer: "Er wird es schon noch lernen." Aber da wir hier ja im Präteritum unsere Kreise drehen, ist das "würde es schon noch lernen" schon passend.

Gruß,
bvw

 
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Ich bin ja gar nicht in der Geschichte, da kann ich schlecht selbstironisch sein.

Moin, lieber bvw,*

ich weiß, dass wir uns seit einem dutzend Jahren hierorts herumtreiben, weiß aber nicht, ob wir uns auch nur einmal begegnet sind.

Ist auch eigentlich egal. Jetzt sind wir‘s und wissen es beide. Aber zu dem aktuellen Werk:

Ja, es ist sicherlich ein Jammer(tal), in einer Spüle zu stehn und der Dinge zu harren, die da kommen werden (bestenfalls die kleine Sintflut des Spülvorgangs oder das größere Elend des Porzellanzerschlagens). Da hat nicht nur das Geschirr eine ziemlich fatalistische Einstellung, wenn es denn eine haben könnte.

Aber dass man selbst in seiner Geschichte auftreten muss, um ironisch zu wirken, ist mir neu.
Das Geheimnis liegt wohl zum einen in der mehr als doppelten Bedeutung des Verbs „wirken“:
Der Autor (ob im heiligen Ernst oder unheiligen Scherz) verrichtet sein Werk (ein Wort, das wahrscheinlich mit dem Verb „wirken“ verwandt ist), ob er darinnen „persönlich“ auftritt oder nicht, Jacke wie Hose, und das Werk „wirkt“ aufs Publikum – ob wie vom Autor erhofft, wird sich zeigen, sofern Reaktionen und Rückmeldungen erfolgen (gegenüber Bestellerlisten bin ich misstrauisch, der letzte Bestseller, - vorsicht, keine Ironie! - den ich gelesen hab, ist Pikettys Kapitalismus des 21. Jh., keineswegs eine unterhaltsame Lektüre, selbst wenn ungezählte Zitate des "bürgerlichen Realismus" darinnen vorkommen).

„Ironie“ gilt als eine Form der „Verstellung“ (so auch die eigentliche Bedeutung vom griech. Ursprung her - liegt also nahe bei Täuschung, gar Lüge), wenn die „wirkliche“ (wieder klingt das Verb „wirken“ hindurch) Meinung des Autors nicht mit den im Werk geäußerten Aussage übereinstimmen muss. Der Autor distanziert sich quasi von seinem eigenen Werk (ohne dass er den Sokrates geben muss [dem ja nachgesagt wird, dass er wisse, dass er nix wüsste, was ja schon bedeutend mehr ist, als was die Ahnungslosen zu wissen vorgeben]). Sokrates wollte damit als „Lehrer“, ohne dass er ihn herauskehrte – wenn wir Platon trauen dürfen – den Ahnungslosen zur Selbstoffenbarung verleiten.Ähnlich ist es beim Theater, komm ich gleich drauf.

Schon dass wir uns trauen, unsere Meinung (oder auch deren Antipoden) darzustellen, ob offen, veschleiert oder als Antipoden, egal, grenzt an (ich sag mal "selbstaufopfernder") Ironie. Da muss keiner persönlich oder stellvertretend am Geschehen teilhaben.

„Ironie“ hat dann in der Folge viele Formen angenommen, dass ich jetzt – seit dem letzten Jahr auch in einer Theatertruppe mitarbeitend – auf die literarische, dramatische Form kurz eingehen will, allein schon wegen des spielerischen Effekts, wenn der Schauspieler / Autor so tun muss, als wüsste er nicht, was das Publikum schon weiß – also dem Publikum das Gefühl gibt, es wäre ihm, dem Theatermenschen, überlegen (das Kasperletheater ist da wieder anders, wenn das i. d. R. kleine, ganz junge Publikum „mitmacht“, von dem auch das Improvisationstheater lebt, das aber immer noch so tut, als wüsste es von ziemlich viel nix).

Hat nun, so mag der eine oder die andere meinen, scheinbar alles nix mit Deinem „Werk“ zu tun – und doch ist die Ironie, zumindest Humor schon vorhanden, dass Du um das Ende eher weißt, als der Leser. Den größten Humor muss allerdings unser Schöpfer haben. Dass er selbstironisch sein muss, leuchtet ein, wenn er gleich das Teufelswerk verrichtet und jemand in die Schuhe (oder Hufe) schiebt, den es im Monotheismus eigentlich gar nicht geben darf.

Die Negation seiner selbst.
Der wahre Teufelskerl!

Wie dem auch wird, wirf Deine alten Bücher (und sei's wegen der "veralteten" Kommaregeln) nicht weg. Ich brauch z. B. keine neue (möglicherweise weichspülende) Übersetzung Grimmelshausens und auch nicht Luthers ("Bibel in gerechter Sprache" ist ein Gräuel!) und Eschenbachs. Und Sütterlin lesen zu können ist auch kein Nachteil, vllt. sogar schon Luxus.

Wir lesen uns!

Friedel,
der jetzt erst was essen muss.

* Bis gerade - ca. Highnoon 26.05.2020 - stand da "bvb", an dem ich erkennen konnte, wie tief der heutige Tag und der Ballspielverein Borussia D. in meinem Schädel eingebrannt ist ...

 

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