Mitglied
- Beitritt
- 04.10.2006
- Beiträge
- 221
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 21
Letzter Tag (Loop)
Schritte, Stolpern, ein Stoß in den Rücken.
„Hm, sorry, Mann!“
Wimmer taumelte auf die Straße.
„Oh, Gott, der Bus, oh Gott, oh Goooott!“, schnappatmete es schräg hinter ihm.
Wie lange sie das wohl noch durchhält, dachte er, jedes Mal dasselbe.
Er fand seine Balance, richtete sich auf, wandte sich mit ausgebreiteten Armen dem heranbrausenden Bus zu, und zwinkerte dem Fahrer zu, dessen Mienenspiel hinter der großzügig dimensionierten Scheibe eine Melange aus Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit anrührte.
Dann erfasste ihn der einfahrende Koloss, überrollte, zermalmte ihn, es tat wie immer nicht weh. Adrenalin, vermutlich werde ich abhängig von dem Zeug, dachte Wimmer noch, bevor einer der Busreifen seinen Kopf unterpflügte, ekelhaftes Geräusch, dann Dunkelheit.
Kurz darauf … ging der Wecker.
Wimmer erhob sich, schlurfte ins Bad, duschte, kleidete sich an, kochte Kaffee, bereitete sich ein Müsli zu, las die Zeitung, bis das Müsli gezogen hatte und der Kaffee durchgelaufen war, dann schaltete er das Radio ein, aß das Müsli, stürzte zwei schnelle Tassen Kaffee hinunter, stellte Tasse und Schüssel in die Spüle, wo sie am Abend auf ihn warten würden, putzte sich noch rasch die Zähne, zog eine Jacke an, nahm seine Tasche und verließ das Haus.
Die Bushaltestelle lag keine zweihundert Meter entfernt von seiner Wohnung an der Ecke zur Hauptstraße. Wimmer gesellte sich zu den bereits wartenden Fahrgästen in spe an den Bordstein.
Der Bus kam sportlich um die Straßenecke geschossen, man hörte den Motor bereits auf größere Distanz. Der Fahrer hatte seinen Jugendtraum, Rennfahrer zu werden, offenkundig nicht begraben, sondern lebte ihn freudvoll im öffentlichen Personennahverkehr aus.
Wimmer vernahm eilig sich nahende Schritte, dann ein Stolpern, und erhielt er einen wuchtigen Stoß, der in aus der Balance brachte und auf die Straße taumeln ließ.
„Hm, sorry, Mann!“, lautete der rückblickend reichlich respektlose Kommentar hierzu.
„Oh, Gott, der Bus, oh Gott, oh Goooott!“, ergänzte eine weibliche Stimme in atemloser Hysterie.
Wimmer stand regungslos mitten auf der Fahrbahn und fixierte wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht eines näherkommenden Wagens schreckensstarr sein viel zu schnell näherkommendes Verhängnis. Wenig kreativ schoss es ihm durch den Kopf: „---!“
War es dann auch.
Kurz darauf … ging der Wecker.
Von diesem Tag an ging Wimmers Wecker tagtäglich kurz darauf. Und jeder Tag, an dem der Wecker ging, war derselbe gleiche Tag.
Bald schon las er die Zeitung nicht mehr, es stand ja immer dasselbe darin, und die Zahl der noch nicht gehörten Radiosender ging gleichfalls zur Neige (die Nachrichten dort waren durchweg stets dieselben gewesen, die launigen Anmoderationen bald schon abgestanden und auch die ohnedies einfallslose Musikauswahl der Stationen wurde durch wiederholtes Hören nicht besser), selbst das Müsli kam ihm vor, als wäre es bereits gegessen worden. Auf das Zähneputzen verzichtete er bald schon, das Geschirr blieb einfach auf dem Tisch stehen, auch die Tür abzuschließen hielt er nicht länger für erforderlich.
Mehr und mehr begann Wimmer das Ende als relativ zu begreifen, sein initialer letzter Gedanke beim Überrolltwerden wurde ihm bald schon peinlich. Offenbar – so stand für ihn fest – war man auf das Ende nicht adäquat eingerichtet. Wenn es kam (in seinem Fall sogar mit dem Bus) hatte man nichts Besseres als einen ramdösigen Gesichtsausdruck und einen unnützen Gedanken in petto.
Also nahm Wimmer die unerklärliche Daseinsschleife als eine Kette von Trainingseinheiten wahr, ein Zirkeltraining sozusagen. Er begann, seinen Abgang aus dem irdischen Jammertal zu nuancieren und nachzubessern. Jeden Tag pünktlich um sieben Uhr dreiundvierzig stolperte derselbe Jemand hinter ihm (er wusste inzwischen, dass es ein junger dreitagebärtiger Mann war, den er nicht kannte, aber liebevoll „Stößchen“ taufte) und rempelte ihn mit der stets gleichen maulfaulen Entschuldigung („Hm, sorry, Mann!“) auf die Straße, wo er wieder und wieder und wieder überrollt wurde. Wimmer fand, dass er souveräner wurde darin, besonders stolz war er, als er eines Morgens im Gesicht des Busfahrers inmitten des bekannten Emotionspotpuorris ein gequältes Lächeln erblickte. Triumphierend ballte er die Faust. Dann das Übliche, bumms, matsch, dunkel.
Kurz darauf … ging der Wecker.
An einem dieser Morgen, er hatte die Zählung eingestellt, gelangte Wimmer beim zweiten Kaffee zu der Auffassung, dass ihn der Aufenthalt im Hamsterrad des Todes nicht weiterbrachte.
Seine Unzufriedenheit ging so weit, dass er sogar nichts dagegen gehabt hätte, einfach mal wieder im Büro zu erscheinen. Aber Gott hatte Schluckauf, und Wimmer kam aus diesem da capo nicht raus, es sei denn … hm. Sorry, Mann.
Als Wimmer die eiligen Schritte des Dreitagebärtigen hinter sich nahen hörte, nahm er innerlich Spannung an. Einundzwanzig, zweiundzwanzig ... Stolpern. Er trat beiseite.
„Hm, sorry, M-“, sagte Stößchen im Vorüberstraucheln. Sein Schwung, der sonst Wimmer über die Bordsteinkante getragen hatte, war ihm zum Verhängnis geworden, und er stand nun dort, wo sonst immer Wimmer gestanden hatte.
„Oh, Gott, der Bus, oh, Gott, oh Goooott!“ Für die Hysterikerin machte der Partnertausch keinen Unterschied.
Stößchen, mit der alternativlosen Option des Ablebens konfrontiert, blickte sich fast ratsuchend um, wie die Lage am besten zu schultern wäre.
Wimmer nickte ihm aufmunternd zu. Er würde es schon noch lernen.
Oder auch nicht, dachte Wimmer, nachdem der Bus drübergefahren war.
Er wartete kurz.
Wartete dann noch einmal.
Der Wecker ging nicht.
Aber Wimmer.
Arbeiten.