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Leuchtfeuer

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15.04.2002
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Leuchtfeuer

Vischnevsky feuerte müde einen Ausdruck in den Papierkorb und griff nach dem nächsten. In der anderen Hand hielt er eine Tasse Kräutertee. Das Gebräu füllte den Raum mit einer Duftmischung aus Weihnachtsmarkt und Urinal. Nur selten konnte man Tassen der Lüge bezichtigen, diese schon: »Harmlos« stand in hakeligen Serifen darauf. Wenn sich das Wort schon nicht auf den psychogenen Inhalt bezog, so traf es schon eher auf Vischnevsky zu. Der Astrophysiker schrieb seit zwölf Jahren an seiner Doktorarbeit und hatte in dieser Zeit einen ausgeprägten Tunnelblick entwickelt, der sich ausschließlich auf seine hoch spezialisierte Tätigkeit als Sternenforscher beschränkte.
Immer, wenn er genug kochend heißen Phrytis-Aufguss getrunken hatte, verließ er seine irdische Hülle und verwandelte sich in einen Schamanen.
»Ah, Hulo, mein Lieber«, intonierte er mit geschlossenen Augen, »was sehe ich von dieser Welt. Leute und schlechtes Wetter, oder?«
»Und schlechte Fernsehprogramme«, antwortete Hulo.
Vischnevsky lachte hohl. »Natürlich. Dabei spricht das Licht der Sterne doch ganze Bibliotheken.«
Hulo – ein Schrumpfkopf, der an einer Kette um Vischnevskys Hals hing – grinste magisch und entgegnete: »Deine Entdeckung ist an Größe gar nicht zu ermessen.«
»Was du nicht sagst, aber auch die Welt der Geister spricht mit vielen Zungen.«
»Sie reden auf dich ein, dummes Zeug. Du solltest dich wirklich auf die Sterne konzentrieren.«
»Vielleicht«, meinte der Astrophysiker vage.
»Du hättest auch nicht diese Hexe wieder einladen sollen. Sie verwirrt dich mit ihrem Körper und mit ihren Kräuterelexieren.« Herablassend klang die Stimme des kleinen Schrumpfkopfs.
Vischnevsky sah auf die Uhr. »Die hatte ich ja ganz vergessen«, murmelte er.
Das stimmte nicht, denn in der letzten Stunde hatte er den Raum abgedunkelt, Honigkerzen aufgestellt, eine Flasche Met geöffnet und sich selbst einparfümiert. Nur so konnte die körperliche Vereinigung mit Linia vollzogen werden – auch wenn Hulo sie missbilligte, hatte sie doch eine inspirierende Wirkung auf Vischnevsky. Er bekam eine leichte Erektion, erhob sich von seinem abgewetzten Drehstuhl und nahm eine CD von Oliver Shanti aus dem Regal. Als die Klänge, die nicht von dieser Welt waren, jede Lücke im Bücherregal, jede Fuge der Fußbodenfliesen und jede Faser von Vischnevskys Körper erfüllten, begann er zu schweben.
Die schrille Klingel zerstörte die Illusion der Schwerelosigkeit. Der Physiker eilte zur Tür und drückte seinen Daumen auf den Öffnen-Knopf, an dem er für kurze Zeit festklebte.
Kurz darauf stand Linia im Türrahmen, füllte die Wohnung mit ihrem Lächeln, das ihre ewig langen Haare nach oben und ihre blumenbunte Bluse nach unten begrenzten.
»Ich habe Rosmarin-Tee mitgebracht«, hielt sie eine kleine, bunte Blechdose hoch.
»Ich liebe Rosmarin-Tee«, sagte Vischnevsky und ging in die Küche, und Linia folgte ihm. Während er Wasser kochte, erzählte Linia von den heutigen Besuchern ihrer Alternativmedizin-Praxis. Wie immer, hörte Vischnevsky nicht hin. Was kümmerten ihn andere Leute.
Schließlich saßen die beiden auf dem Sofa, hielten dampfende Tassen in der Hand, schlürften hier und da, ließen sich von der Musik treiben. Zwischen zwei Liedern stellte Linia ihre Tasse ab, zog Bluse und Rock aus. Vischnevsky griff zur Fernbedienung und drehte die Musik lauter, dann zog er sich ebenfalls aus und legte sich auf die Kräuterhexe, die sein tiefes Eindringen mit geschlossenen Augen genoss. Jetzt, dachte Vischnevsky, ist der Zeitpunkt gekommen, es ihr zu erzählen.
Nach einiger Zeit kehrten beide zu ihren Tassen zurück. Vischnevsky verringerte die Lautstärke von Oliver Shanti, so dass man sich normal unterhalten konnte.
»Es gibt so viele Welten da draußen«, begann er, dann nahm er einen Schluck. Linia sah ihn erwartungsvoll an, aber er hatte sich auf dieses Gespräch nicht vorbereitet und kannte seinen nächsten Satz selbst noch nicht. Also redete er einfach weiter und hörte sich dabei zu.
»Ich habe etwas entdeckt, Linia.«
Die Hexe machte ein Gesicht, als erwarte sie, dass er ihr nun seine unendliche Liebe gestehen wolle. Falls das der Fall war, wurde sie enttäuscht.
»Ich habe Spektren untersucht, Spektren von Sternen. Noch niemand hat das mit einer derartigen zeitlichen Auflösung getan wie ich. Deshalb haben die Jungs von der Südsternwarte das Projekt genehmigt. Sie wussten ja nicht, was ich gesucht habe.«
»Was hast du denn gesucht?«
Vischnevsky holte tief Luft. »Informationen. Modulierte Informationen. So, wie das Licht meiner Fernbedienung moduliert ist, damit der Empfänger sie versteht. So sind die Spektren bestimmter Sterne moduliert.«
»Und was heißt das?«
»Die Intensität des Lichtes schwankt bei einigen bestimmten Wellenlängen, und zwar mit einem System. Das sind Informationen. Ich kann sie noch nicht verstehen, aber es ist nicht zufällig. Es hat eine Struktur.«
»Von wem kommen denn diese Informationen?«
»Ich glaube, sie kommen von fremden Wesen, die so mächtig sind, dass sie die Sterne als Leuchtfeuer des Wissens verwenden. Wir müssen nur lesen, was sie in deren Licht geprägt haben. Das ist der Weg ins wahre Licht!«
Linia schenkte ihm das wunderbarste Lächeln, das er je gesehen hatte.
Vischnevsky fand seinen vorletzten Gedanken wieder und schüttelte langsam den Kopf. »Aber ich verstehe es nicht. Ich weiß nicht, was die Muster bedeuten.«
»Vielleicht«, schlug Linia vor, »solltest du sie jemandem zeigen, der sich mit dem Erkennen von Mustern auskennt. Du bist ein großer Fachmann für Sterne, und irgendwo gibt es vielleicht einen großen Fachmann für Mustererkennung.«
»Ich muss das selbst erledigen. Niemand soll mir diesen großen Durchbruch wegnehmen. Ich bin der Entdecker dieser Nachricht, wie auch immer sie lautet. Niemand sonst!« Damit stand er auf und begann, im Raum auf und ab zu tigern. »Wozu habe ich all die Jahre gearbeitet? Jetzt will ich die Früchte ernten. Ich will ein Buch schreiben. Ich will interviewt werden. Im Fernsehen und in den angesehnsten Fachzeitschriften. Ich will den verdammten Nobelpreis!« Damit donnerte seine Faust gegen eine Regalwand, so dass ein bronzener Kerzenhalter heraus fiel.
Linia war erschrocken. »Du hast so viel Energie!«
Erschöpft ließ Vischnevsky sich neben sie auf das Sofa fallen. Sein starrer Blick begann über dicken Augenrändern und endete an einer toten Spinne, die gegenüber an der Tapete hing.
Die Kräuterhexe ergriff seine Linke und legte sie auf ihren nackten Oberschenkel, und ihre Rechte darauf. »Meinst du nicht, du könntest jemanden fragen, den du gut kennst?«
Vischnevsky schnaubte. »Ich kenne niemanden. Ab und zu ruft mein Bruder an. Er nennt mich immer Würstchen.«
»Magst du vielleicht«, Linia zögerte, »mich fragen?«
Der Astrophysiker sah sie an. Kurz überlegte er, was Hulo dazu sagen würde – bisher der einzige, der Bescheid wusste. Er wusste so vieles. Erstaunlich,wenn man bedachte, dass er ein lange toter Schrumpfkopf war. Eine Tatsache, über die nachzudenken Vischnevsky stets unnötig fand.
»Andere«, fuhr Linia fort, »mögen mit Formeln und Tabellen an das Problem gehen. Ich würde die Muster durch meinen Mund sprechen lassen. So, wie Tote durch mich reden können. So, wie Gefühle durch einen Kuss Wirklichkeit werden.«
Vischnevsky schaute von seiner Hand auf ihrem Oberschenkel zu ihrem Schoß, ihren Brüsten und schließlich ihren Lippen, aber er sagte nichts.
»Weißt du noch«, redete die Hexe weiter, »wie einst eine Tote durch mich zu dir sprach? Deine Mutter?«
Der Physiker musste seinen Blick wieder von der Hexe abwenden, als er sich erinnerte. Nach einigen Sekunden hatte er sich selbst im Griff und verdrängte die unangenehmen Gedanken.
»Ich begebe mich in Trance«, schlug Linia vor, »und du zeigst mir die Muster.« Sie band ihre Haare zu einem Knoten, griff nach ihrer Handtasche und holte eine kleine Flasche hervor, die eine grüne Flüssigkeit enthielt. Die Hexe entfernte den Verschluss von der Flasche und leerte sie in einem Zug.
Vischnevsky zögerte. Er musste wenigstens Hulo nach seiner Meinung fragen. Der Schrumpfkopf war oft so viel vernünftiger als er selbst. Aber sein Blick klebte an Linias Gesicht. Ihre Pupillen verengten sich, so dass ihre graue Iris alle Eindrücke von außen abzuschirmen schien. Sie begann, tief zu summen, einen ewigen, nicht endenden Ton, der Vischnevsky fast das Bewusstsein raubte. Eilig griff er nach einigen Ausdrucken mit Kurven der Sternmodulation. Er breitete sie vor Linia aus und sah ihr gespannt zu.
Linias Summen wurde lauter, und ihre Augenlider flackerten. Vischnevsky kannte bereits diese Art von Trance. Schon oft hatte er zugesehen, wie sie auf diese Weise verschwundene Katzen suchte oder andere Menschen aus ihrem Mund reden ließ. Diesmal sprach ein ferner Stern durch sie. Monoton.
»Mein Licht durchdringt den Sternensee«, sagte sie, »und ich bringe euch die Botschaft der Vielfalt des Lebens. Die Inseln des Lebens existieren für alle.«
Sie begann zu singen, doch Vischnevsky hörte nicht mehr zu. Sein Blick fiel auf Holu. Er grinste ihn an, was er immer tat, aber diesmal war es ein besonders kaltes Grinsen.
»Hörst du nicht«, zischte er, »wie sie lügt? Es sind keine Emotionen, die aus ihr sprechen, es sind Irritationen, die den Altar der Wissenschaft aufweichen und vermodern lassen!«
»Ja ...«
»Es sollten deine Erkenntnisse sein, nicht ihre. Du solltest es mit deinen Mitteln herausfinden, nicht durch wirre, unbewiesene Pseudowissenschaft.«
»Ja ...«
»Du musst es beenden!«
»Ja ...«
Mit exakten Bewegungen erhob sich Vischnevsky, griff nach dem schweren Kerzenleuchter auf dem Boden und erschlug Linia.
Während er beobachtete, wie sein Teppich ihr Blut aufsog, kicherte Holu zufrieden.
Dann klingelte es. Vischnevsky ging zur Tür. Es waren die Aliens, die ihn abholen kamen.

 

Hi MegaB,
gut analysiert, so hab ich mir die Figuren und ihre kleinen Problemchen auch vorgestellt.
Ob am Ende die Polizei kommt oder nur die Nachbarn, bleibt offen, denn wir befinden uns im Grunde in der Wahrnehmungssituation des Vischnevsky und haben damit keine Möglichkeit, die objektive Wahrheit herauszufinden.
Freut mich, dass Dir der Text gefallen hat. Ich mag ihn nämlich auch; vor allem, weil ich es geschafft habe, eben nicht so ein Scheuklappen-Wissenschaftler zu werden.

 

Also, ich hab mich in der Hörbar fast am Boden gewälzt. Der Text gewinnt natürlich durch Uwes naturidentische Imitation der Schrumpfkopfstimme.

vor allem, weil ich es geschafft habe, eben nicht so ein Scheuklappen-Wissenschaftler zu werden.
Das denke ich auch gern von mir selbst, aber hat Dir das jemals jemand bestätigt? Ich meine außer dem unsichtbaren rosa Apatosaurus, der uns seit Kindertagen begleitet?

 

Das denke ich auch gern von mir selbst, aber hat Dir das jemals jemand bestätigt? Ich meine außer dem unsichtbaren rosa Apatosaurus, der uns seit Kindertagen begleitet?
Pruuust - hey, ich hätte fast meinen Tee auf dem Schreibtisch verteilt und das hätte mir echt üble Diskussionen mit meinem Tux eingebracht!
Aber im Ernst: Ich habe die Uni verlassen, weil ich genau die Gefahr gesehen habe, und habe zirka 10 verschiedene Hobbys und 100 Freunde, damit ich die Bodenhaftung nicht verliere.
Natürlich habe ich auch solche Bestätigung von außen schonmal bekommen, wobei ich zugebe, dass die Leute, die dergleichen zu mir gesagt haben, vielleicht oder vielleicht auch nicht nur in meiner Fantasie existieren ...
Jedenfalls ist Realitätsverlust ein gaaanz wichtiges Thema, das ich gerne aufgreife. Der Leser hat dann die Gelegenheit, sich selbst zu fragen, an welcher Stelle er denn den Unterschied zwischen subjektiver und tatsächlicher Wahrheit erkannt hat, und wie es um seine eigene Wahrnehmung eigentlich bestellt ist.

 

Uwe Post schrieb:
Jedenfalls ist Realitätsverlust ein gaaanz wichtiges Thema, das ich gerne aufgreife. Der Leser hat dann die Gelegenheit, sich selbst zu fragen, an welcher Stelle er denn den Unterschied zwischen subjektiver und tatsächlicher Wahrheit erkannt hat, und wie es um seine eigene Wahrnehmung eigentlich bestellt ist.
:susp: Und Du bist sicher, dass ich kein Klon von Dir bin?

Ontopic: Die Story hat genug SF-Gehalt, um als solche Durchzugehen: Die Spektren und aufgeprägte Nachrichten. Es gibt Stories von Clarke, deren ganzer SF-Gehalt in einem bellenden Versuchshund besteht. Da hat sich keiner beschwert. (Ich schreib das hier nur, damit das kein OT-Post wird.)

 

Hi Uwe,
Ich schreibe meine Kritiken meist ohne nachzusehen, von wem die Story ist.
Eigentlich wollte ich diese hier in Grund und Boden schimpfen (und hatte auch schon garstige Belehrungen im Hinterkopf), als ich dann doch mal in die Vorkritiken reinsah.
Die Story ist mAn nicht gelungen, weil die Intention des Autors nur dann zweifelsfrei klar wird, wenn man weiß, wer der Autor ist!
Kurz gesagt, der Text macht nicht klar genug, dass die Prots wirklich nicht “alle Tassen im Schrank” haben, denn liest man den Text als Fantasy/SF-Mischung funktioniert das auch.
Verstehe mich nicht falsch, ich bin der erste der losplärrt, wenn eine Story nach 08/15-Schema abläuft, aber da sich hier in einigen SF-Story Fantasie-Versatzstücke finden, war das gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Story auch wortwörtlich genommen werden kann, zumindest, wenn man den Autor nicht kennt.
Proxi

 

Hm, also ich finde es sehr deutlich, dass der Prot einen Realitätsverlust erleidet. Völlig unabhängig davon, dass ich für solche Themen bekannt bin. Ich meine: hey, da ist ein Physiker Marke Fachidiot, der mit seinem Schrumpfkopf spricht. Klar kann man es so verstehen, dass das real ist, aber da bist Du echt der erste (soweit ich weiß).

 

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