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Leviathan
Die Wellen waren hoch wie Omas Kirschbaum, der Wind hatte die Kraft einer Herde Elefanten und alles auf dem Schiff geriet durcheinander. Die Männer kullerten über die Planken wie Glasmurmeln und manch einem fiel etwas auf den Kopf. Der Kapitän hatte sich mit einem Tau fest ans Steuer gebunden und hielt das Schiff auf Kurs. Und als der Sturm zu Ende war, da sahen die Männer schon Land voraus.
»Und morgen kommt der Papa wieder nach Hause«, sagt Gretha.
»Ja, mein Schatz. Morgen ist der Papa wieder zu Hause.« Ich gebe meiner Tochter einen Gute-Nacht-Kuss, lösche das Licht, höre mein Herz schlagen und starre die Decke an.
Damals hatte ich Onkel Friedel besucht. Fuhr mit dem Auto vom Westen in den Osten. An einer Raststelle traf ich einen Tramper: schwarze Hose, schwarze Weste, schwarzer Hut, weißes Hemd. Ich fuhr vor, kurbelte das Fenster runter, fragte: »Potsdam?«, der Typ nickte, wir luden seinen Seemannssack in den Kofferraum und er fuhr mit bis Potsdam, mit bis zu mir nach Hause. Drei Jahre später kam unsere Tochter Gretha auf die Welt.
»Mama?«, sagt Gretha.
»Ja?«, sage ich.
»Wenn man lügt, kommt man dann ins Gefängnis?«
»Wie kommst du darauf?«
»Leo sagt, das stimmt alles gar nicht mit dem Papa.«
»Sagt der Leo das?«
»Aber es stimmt doch?«
»Natürlich. Keine Sorge, niemand wird dich in ein Gefängnis stecken. Und jetzt schlaf.«
Wir treffen uns beim Italiener an der Havel. Als Felix kommt, springt Gretha auf und fliegt ihm entgegen. Ihre Beine sind langsamer als die Freude, Felix hebt das Kind vom Boden auf, wirft es in die Luft und seine kleine Prinzessin vergisst darüber das Heulen. Seine Hose ist neu. Keine Jeans. Die hat er sich niemals selbst ausgesucht. Sarah wird sie ihm gekauft haben. Und braun ist er schon, dabei gab es gerade mal fünf bis acht Sonnenstrahlen in diesem Jahr. Heute fällt der neunte vom Himmel. Die Hose sieht albern an ihm aus. Nur, weil er jetzt in einer Studenten-WG wohnt, ist er noch lange keiner. Er ist keine zwanzig mehr. Hat er abgenommen? Wirkt irgendwie schmaler. Felix und Gretha kommen zum Tisch gelaufen, ich stehe auf, umarme ihn zur Begrüßung, sauge seinen Duft ein, spüre seinen Körper und muss mich zwingen, meine Hände nicht in seinen Locken zu vergraben, ihn wieder loszulassen.
Gretha will Schokoeis und Pistazieneis und Haselnusseis und Vanilleeis und Kokoseis und Walnusseis. Wir verhandeln auf Schoko und Kokos. Felix nimmt einen Schwedenbecher, ich denke an die Waage im Badezimmer und bestelle eine Tasse Kaffee. Schwarz. Ohne Zucker, ohne Milch.
»Schöne Hose«, sage ich.
»Weiß nicht«, sagt Felix. »Ist ungewohnt.«
Ich nicke verständnisvoll.
Gretha weicht ihm nicht von der Seite, bleibt auf Papas Schoß, auch als die Eisbecher kommen.
»Und?«, fragt er.
»Ja, gut«, sage ich.
»Wirklich?«
»Ja. Sicher.«
»Freut mich.«
Wir schweigen, bis Gretha ihre Finger in den Eierlikör vom Schwedenbecher tunkt.
»Lass das!«, sage ich.
»Lass sie doch«, sagt Felix.
Ich lass sie. »Und bei dir so?«
»Auch gut.«
Ich schau ihm ins Gesicht, aber kein Zug verrät, dass er nicht die Wahrheit sagt. Felix sieht zufrieden aus.
»Kommst du finanziell klar? Braucht Gretha irgendwas?«
Himmelherr, sie braucht tausend Dinge. Aber ich weiß, was er als Zimmermann verdient. Er tut sein Möglichstes. »Geht schon.«
»Macht ihr Urlaub im Sommer?«
»Bei Onkel Friedel. Im Wohnwagen. Auf dem Zeltplatz.«
»Ja. War immer schön da.«
Natürlich ist es dort schön! Jedes Jahr war es unser Zuhause für zwei Sommerwochen. Felix hat die Zeit dort geliebt. Den Steg, das Boot, seine Angel, den Grill, den Hochstand im Wald, von dem aus wir die Wölfe erspähen wollten, aber nie einen sahen, auf dem er mir den Heiratsantrag machte, in einer Vollmondnacht, mir einen Ring aus dem Spielzeugautomaten an den Finger steckte.
Felix hat ihn abgenommen, seinen Ehering. Ich trage meinen noch. Gretha zieht ihren Papa weg von mir auf den Spielplatz. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, lege die Füße hoch und raffe den Rock ein Stück höher, lass den neunten Sonnenstrahl an meine Kokosbeine. So hat Felix sie genannt. Seine braunen Beine außen, meine Beine innen.
Nach zwanzig Minuten kommen sie zurück, Gretha muss auf die Toilette, danach will sie für Felix ein Bild malen. Sie malt ein rosa Schiff und einen blauen Mann darauf. »Das ist Papa.«
»Erzählst du ihr immer noch diesen Mist?«
»Erklär du es ihr. Hier und jetzt.«
»Ich habe mir gedacht, dass ich sie das nächste Mal mit nach Berlin nehmen könnte.«
»Nein.«
»Du kannst ihr nicht ewig diese Märchen erzählen.«
»Erklär du es ihr.«
Seine Prinzessin überreicht ihm stolz das Bild. Er war noch nie gut darin, ihr weh zu tun. Arztbesuche - ich. Den Fernseher abschalten - ich. Gretha die Schokolade verbieten - ich. Sie in die Kita bringen - ich. Er öffnet seinen Mund, ich halte den Atem an, er schließt ihn wieder, ich atme aus. Felix nimmt ihr das Bild ab, betrachtet es, zeigt auf einen Kringel und fragt Gretha: »Was ist das?«
»Die Welle!«
»Ah, natürlich. Ist es eine gute oder eine böse Welle?«
»Eine böse«, sagt Gretha.
»Bleibst du zum Abendessen?«, frage ich. »Gibt Rouladen.«
Für Rouladen stirbt Felix.
»Habe noch was vor heute Abend.«
»Verstehe. Gretha wird traurig sein.«
»Tut mir leid.«
In ihrem Kindersitz schläft Gretha ein. Sie bekommt nicht mit, wie Felix aussteigt, noch einmal die Hintertür öffnet, ihr übers Haar streicht. Zwei Finger küsst und sie ihr auf die Wange legt. Ich fahre nicht direkt nach Hause, soll Gretha ruhig noch ein bisschen schlafen. Sie hat es nicht gut aufgenommen, als Felix ihr erklärt hat, dass er jetzt gleich wieder weg muss, nicht mit ihr in die Badewanne geht. Ich werde die Rouladen für ihn einfrieren. Es ist lächerlich. Felix ist keine zwanzig mehr, kein Student, keiner, der gern in einer WG wohnt.
Ein Ungeheuer so groß, wie noch nie jemand ein Ungeheuer gesehen hatte. Alle Männer auf dem Schiff waren starr vor Schreck. Es riss sein Maul auf und verschluckte das ganze Schiff. Einfach so, als wäre es eine Erbse. Stockdunkel war es in dem Ungeheuer. Das Schiff schaukelte und drehte, es überschlug sich sogar, bis es im Bauch des Ungeheuers zur Ruhe kam. Die Matrosen hielten sich die Nase zu, denn es stank furchtbar im Ungeheuerbauch. Sie erzählten Geschichten, denn mehr konnten die Männer nicht tun, während das Ungeheuer durch den Ozean trieb, hier und da noch ein paar Schiffe schluckte, bis sein Bauch ganz voll war. Da musste das Ungeheuer schrecklich von pupsen und alle und alles flog zurück auf den Ozean. Die Schiffe fuhren zurück nach Hause und damit ist die Geschichte zu Ende.
»Wie heißt es?«, fragt Gretha.
»Das Ungeheuer?«
»Ja.«
Sarah. Es heißt Sarah, denke ich.