Liberation
Ich stehe immer noch in dem sterilen Wartebereich meines Gates. Selbiges befindet sich übrigens in irgendeinem größeren Flughafen in Skandinavien. Gleich werde ich einen verspäteten Inlandsflug in eine andere – nach skandinavischen Maßstäben – große Stadt antreten. Wäre es eine deutsche Stadt, würde man sie wohl eher mittelprächtig nennen und vielleicht mal vage von ihr gehört haben.
Auf los geht’s los, das Gate öffnet und nach ein paar gewohnheitsmäßigen Abläufen sitze ich auch schon wieder im Flieger fast ohne mich an die letzten zehn Minuten des Einsteigens zu erinnern. Um so größer ist die Überraschung nun, dass jede Sitzreihe nur vier Plätze hat. Wahrscheinlich sind die Landebahnen in der Pampa einfach zu klein für ein anständiges Flugzeug.
Draußen toben schon die ersten Ausläufer eines fetzigen Winterstürmchens, welches demnächst hier mal vorbeischauen bzw. reinschneien wird. Grund genug unsere Tragflächen erstmal enteisen zu lassen von Flughafenarbeitern, die komischerweise alle der fünf-prozentigen ausländischen Minderheit dieses Landes angehören. Erst die eine Tragfläche. Dann das Leitwerk. Und dann die andere Tragfläche. Immer schön der Reihe nach und nicht vordrängeln. Das ganze Prozedere dauert und trägt nicht gerade dazu bei, uns vor Mitternacht in dieses beschissene Nest zu bringen.
Ich versuche mich zu erinnern, was ich eigentlich hier mache. Aufgrund der äußeren Umstände scheint mir das gerade regelrecht schleierhaft. Also, sammeln wir mal die puren Fakten: Ich bin auf einer Geschäftsreise – pardon – dämlichen Geschäftsreise und soll in dem zurückgebliebenen Provinzkaff das miserable Produkt meiner verkackten Firma einem ignorantem aber potentiellen Kunden vorstellen. Mich selbst bezeichne ich als einen gut bezahlten, engagierten, erfolgreichen und geschätzten Angestellten einer internationalen Firma. Ich arbeite normalerweise von zu Haus bzw. in Neusprech „in meinem Home-Office“ und treffe meine Kollegen nur bei Gelegenheiten wie dieser. Man oder auch die Leute könnten sagen, ich hätte es zu was gebracht. Nur ich sage das nicht, denn selbst nach dem Zusammentragen aller Einzelheiten weiß ich immer noch nicht, was zum Teufel ich hier eigentlich mache. Wie bin ich nur in dieses Flugzeug, dieses Land, diesen Job, dieses mein Leben gekommen? Mein Bauch findet das alles nur irgendwie merkwürdig oder auch quite strange und ihm kann ich echt mal vertrauen. Also nochmal: What the fuck am I doing here?
GENUG MIT DEM QUATSCH! Keine Ahnung, wie das alles passiert ist und wie ich da reingerutscht bin für die letzten verdammten zehn Jahre, aber NUN IST SCHLUß! AUS! SENSE! FINITO! USW! Sobald ich zurück bin, schreibe ich meine Kündigung und ficke die Firma in den Arsch. Ohne Vaseline und Vorspiel versteht sich.
Meine neu gewonnene Freiheit will ich feiern und werde bei der nächsten Gelegenheit einen Wodka bei der Stewardess ordern. Mittlerweile haben wir laut Käptn unsere Reisehöhe erreicht und er muss uns leider auch mitteilen, dass der Bordservice heute ausfällt, weil wir ein paar Turbulenzen erwarten. Die lassen auch nicht lange auf sich warten und schütteln uns und den nicht georderten Wodka ordentlich durch. Jedenfalls besser als durchgerührt, auch ohne Martini. Bei meiner aktuellen Euphorie allerdings ist das von einer zu vernachlässigen Wirkung. Im Gegenteil, das Schütteln scheint mit mir mitzuschwingen. Endlich habe ich den modrigen Schatten meiner letzten Jahre wahrgenommen und ihn mit einem Schulterzucken abgestreift. Bis zum Landeanflug schwelge ich in Plänen und Ideen für mein neues Leben. Ich habe meinen Frieden gemacht.
Apropos Landeanflug – auf Kommando müssen die Damen und Hunde vom Kabinenpersonal Platz machen und die Achterbahnfahrt zur Landepiste in dem fetzigen Schneesturm beginnt. Ich fühle das letzte Gleiten kurz vorm Aufsetzen und zusammen mit der wohligen Empfindung meiner Freiheit bereitet mir das warme Rückenschauer. Plötzlich erfasst uns eine Böe von der Seite. Der gute alte Käptn reagiert blitzschnell und versucht das Flugzeug zum Durchstarten zu bringen. Vor lauter Glücksgefühlen ejakuliere ich in meine weichgespülten Shorts. So muss sich der Tod anfühlen.