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Licht des Lebens
Licht des Lebens
„Mama, ich habe etwas gesehen“. Aufgeregt kam Sven zu seiner Mutter in die Küche gelaufen und erklärte weiter: „Ich habe den Gott gesehen, er zeigt uns seine Farben! Das haben wir im Kommunionunterricht gelernt. Der Gott hat gesagt, er ist das Licht der Welt, und damit wir das nicht vergessen, schickt er uns, wenn wir traurig sind, seine Farben!“
Etwas verständnislos ließ Carolin sich mit hängenden Schultern auf dem Hocker neben dem Küchentisch nieder, legte den Kartoffelschäler, froh über die unerwartete Pause, zur Seite und nahm sich Zeit für ihren Sohn. Sie bat ihren Achtjährigen, neben ihr Platz zu nehmen und zu erklären, was genau der Pfarrer mit ihnen in seiner Gruppenstunde besprochen hatte.
In den letzten Tagen, das merkte sie selber, erledigte sie die Hausarbeit sehr unkonzentriert, denn es ging ihr nicht besonders gut. Am Montag hatte sie erfahren, dass einer ihrer besten Freunde gestorben war. Sobald sie daran dachte, schossen ihr, ohne das sie es wollte, die Tränen in die Augen. Auch jetzt wieder. Doch sie versuchte, dies so gut es ging vor dem Kind zu verbergen. Offensichtlich gelang es ihr nicht ganz, denn ihr Sohn spürte die Traurigkeit der Mutter meistens ganz genau, sie merkte es an seiner direkt folgenden Reaktion.
„Mama, nicht weinen, Thomas ist doch jetzt im Himmel!“
Bereitwillig ließ Carolin sich von ihrem Kleinen in den Arm nehmen und fühlte seine warmen Hände streichelnd an ihren Schultern. Der Kloß im Hals schien nicht weggehen zu wollen. So war sie froh, als Sven weiter redete: „Mama, weißt du, wieso Thomas im Himmel ist? Weil der Gott uns die Farben geschenkt hat. Der Pfarrer hat gesagt, wenn jemand stirbt, ist das nicht immer nur schwarz. Das ist überhaupt keine Farbe, sondern besteht aus ganz vielen Verschiedenen. Wir haben uns das, mit allen Kindern zusammen, genau überlegt, Gott hat für alle Farben Eigenschaften ausgesucht. Weißt du zum Beispiel, was gelb ist? Gelb ist für die Sonne und für Wärme, kann aber auch für Neid eine Farbe sein. Und grün ist für Leben und Wachstum und Natur und auch Hoffnung. Und blau? Mama, was glaubst du, wofür blau ist?“
Carolin versuchte dem Redeschwall ihres Sohnes zu folgen, überlegte kurz und antwortete ihm dann: „Blau ist bestimmt die Farbe der Tiefe. Soweit ich weiß, auch die Farbe der Treue“
Zustimmend nickte Sven und fügte hinzu: „Stimmt, und für Wasser und Endlosigkeit steht blau. Der Pastor hat uns das alles genau erklärt, ich habe extra richtig gut aufgepasst. Rot ist die Liebe hat er gesagt, Mama, für mich bist du rot, ich hab dich lieb.“
Liebevoll strich Carolin ihrem Sohn die blonden Haare aus der Stirn und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen, diesmal vor Rührung. Sie wunderte sich insgeheim über den Kleinen, wie geschickt er mit dem Tod des Familienfreundes umging, er fand für alles eine Erklärung und hatte seine eigene Art, mit dem Thema Sterben umzugehen. Das war gut so, denn Sven hatte Thomas auch sehr lieb gehabt. Sie hatte große Angst gehabt, ob sie ihrem Sohn bei der Verarbeitung dieser Nachricht beistehen konnte, wo sie doch selber Trost brauchte, aber jetzt hatte sie das Gefühl, mit seiner Sichtweise lieferte er sich selbst eine gute Erklärung, warum Thomas nicht mehr da war.
„Mama, rot kann aber auch böse sein, der Teufel ist böse.“
Aus ihren Gedanken gerissen, dachte Carolin nach und ihr fiel ein, dass rot noch die Farbe des Blutes war, aber auch Tatendrang und Kraft kennzeichnete. Nach weiterer Bedenkpause ließ sie Sven dann als Fazit wissen: „Ich denke alle Farben haben etwas Gutes und etwas Böses. Der liebe Gott hat uns sicher alle Farben geschenkt, damit wir die gesamten Eigenschaften, die wir als Menschen haben, unterkriegen. Für jeden hat er zu jeder Zeit eine Farbe vorgesehen, die zu ihm passt. Wenn man sich manchmal traurig fühlt, kommt einem alles schwarz vor, und wenn es einem gut geht, findet man sich vielleicht in der roten oder der gelben Farbe wieder.“
Carolin wunderte sich, dass sie erst durch den Gedankenanstoß ihres Sohnes auf die Idee gekommen war, Gott als Licht zu sehen. Dieses in Farben zu gliedern war ihr erst recht nicht eingefallen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto plausibler schien es ihr, dass schwarz wirklich nicht für immer bleiben konnte, denn auch in allen anderen Farben konnte sie Eigenschaften von sich entdecken.
Eigentlich hatte sie die letzten Tage sehr mit Gott gehadert und sich nicht erklären können, wie er es zulassen konnte, dass sie ihren liebsten Freund verlor. Nun aber versuchte sie, ihrem Kind aufmerksam zu folgen in seinen Gedankengängen, denn seine Sichtweise über Gott als Licht gefiel ihr.
„Mama, welche Farbe hat Gott?“ Im gleichen Atemzug fuhr Sven fort und beantwortete sich seine Frage selbst: „Ich glaube, er ist weiß, Engel sind weiß, und wenn etwas sauber ist, ist es weiß, und außerdem sind Tauben weiß, und Tauben sind für den Frieden, und der Gott soll den Menschen den Frieden bringen. Und das Licht ist weiß, bis es auf ein Dreieck stößt.“
Etwas überrascht drehte Carolin sich fragend zu ihrem Sohn: „Was meinst du damit, bis Licht auf ein Dreieck stößt?“
Nach einigen weiteren Ansätzen, die ihr Sohn startete, ihr seine Erklärung für das Dreieck nahe zu bringen, wusste die Frau, was er meinte und erklärte: „Das Licht wird gebrochen, wenn man es durch ein Prisma schickt. Es teilt sich dort in die Regenbogenfarben oder auch Spektralfarben.“
Sven nickte zustimmend. „Genau, und das macht der liebe Gott, er schickt uns einen Lichtstrahl, wenn wir ganz traurig sind, dann ist es nicht mehr dunkel und schwarz und wir sehen wieder alle Farben. Und das Licht kommt ja vom Himmel und deshalb ist Thomas im Himmel, weil er ja jetzt weiß ist und Frieden hat.“
Mit diesen Worten sprang der Kleine von seinem Sitz hoch, lief in Richtung Wohnzimmer, war nach einigen Sekunden zurück und forderte Carolin auf, mitzukommen, indem er ihr energisch am Ärmel zog.
Carolin fragte nicht, sondern folgte ihm.
Er öffnete die Tür nach draußen. Die Mutter trat hinter ihm auf den Balkon und blickte in die Richtung, in die ihr Sohn aufgeregt deutete.
Zusammen blickten sie in den Horizont, wo man immer noch die Farben des Regenbogens deutlich sehen konnte.
Die beiden blieben nahe aneinander so lange dort stehen, bis die Farben sich fast aufgelöst hatten. Carolin fühlte beim Betrachten dieses Naturschauspiels, wie eine angenehme Ruhe sie erreichte.
Ihren bisher beinahe unerträglich empfundenen Schmerz über den Verlust des Freundes empfand sie nun etwas gelindert.
In dem Bewusstsein, dass Gott als das Licht der Welt, ihn, durch alle Farben hindurch, in sein Reich geholt hatte, überkam sie mit einem Mal das Gefühl, Gottes Wille annehmen zu können. Ruhig und gefasst schaute sie dem letzten Farbschimmer des Regenbogens zu, bis er am Horizont verschwand.