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Licht im Dunkel
Das musste die Abkürzung sein, von der der alte Tankwart gesprochen hatte. „Fahren Sie einfach die Bahngleisen entlang“, hatte er gesagt, „nach etwa zwei Kilometern biegen Sie links in den Feldweg ab und folgen ihm bis in den Wald. Die Hütte ist dann nicht mehr weit.“
Jan fuhr sein altes Fahrrad an den Rand des unebenen Feldweges und holte sich ohne abzusteigen ein kaltes Bier aus seinem Rucksack. Mit einem Zug trank er es aus, legte den Kopf in den Nacken und rülpste genüsslich in den klaren Nachthimmel. Dann schleuderte die leere Flasche in das Maisfeld, das den kleinen Schotterweg säumte, und setzte mit kräftigen Tritten in die Pedale seinen Weg fort.
Jan folgte dem Weg und genoss die Stille, die ihn nun umgab. Ausser dem beständigen Knirschen der Steine unter den Reifen konnte er keinen Laut ausmachen, es schien, als sei er das einzige lebende Wesen weit und breit. Trotz des wolkenlosen Himmels war kein Leuchten eines Sterns zu entdecken, lediglich der Mond hing in ein seltsames Orange getaucht schwer am Firmament.
Als er sich dem Waldrand näherte, überlegte sich Jan kurz, ob er Marc anrufen sollte um ihm mitzuteilen, dass er gleich bei der Hütte sei und überdies eine nicht unbeachtliche Menge Bier dabei habe. Er holte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, was ihn sofort aus dem Gleichgewicht und beinahe zu Fall brachte. Fluchend steckte er das Handy wieder ein und entschied sich, das Telefonieren vorerst bleiben zu lassen.
Der Weg führte nun mitten in den Wald. Die alten Bäume setzten sich kaum von der Finsternis der Nacht ab und verschwammen zu einer scheinbar undurchdringlichen Schwärze. Jan war von Natur aus kein ängstlicher Mensch, als er jetzt aber immer langsamer werdend auf diese kompakte Dunkelheit zurollte, beschlich ihn kaum merklich ein ungutes Gefühl und er wünschte sich, er wäre mit den Anderen gefahren, die jetzt wahrscheinlich schon trinkend und anzügliche Witze reissend in der Waldhütte sassen, die sie für dieses Wochenende gemietet hatten.
„Da muss ich wohl durch“, sagte er laut zu sich selbst und ihm entfuhr ein unsicheres, krächzendes Lachen. Im selben Augenblick wurde er vom Schwarz der Bäume vollständig verschluckt.
Nach einiger Zeit hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte den Schotterweg, der nun mehr und mehr von Wurzeln und Büschen überwuchert wurde, wieder schemenhaft wahrnehmen. Kurz darauf konnte er unweit der Stelle, an der er sich jetzt befand, ein flackerndes Licht erkennen und meinte auch bereits das knatternde Geräusch des Generators zu hören. Jan freute sich auf seine Freunde und die Feier und prüfte nochmals kurz, ob sein Gras noch in seiner Hosentasche steckte.
Er fuhr nun beständig auf das Licht zu und achtete dabei immer weniger auf den unebenen Boden. Sekundenbruchteile später landete er unsanft am Fusse einer riesigen Eiche, er hörte Glas klirren und spürte gleichzeitig einen stechenden Schmerz im Unterschenkel.
„Scheisse, Scheisse, Scheisse!“, schrie Jan während er sich aufrappelte und gab seinem am Boden liegenden Rucksack einen kräftigen Tritt. Die wenigen Bierflaschen, die noch heil darin lagen, zerschellten, worauf Jan stöhnte und weitere Verwünschungen ausstiess. „Fuck“, sagte er zu seinem von Bier völlig durchnässten Rucksack und gab ihm noch einen Tritt, so dass er in hohem Bogen in die Büsche flog.
Wütend hob Jan sein Fahrrad auf und liess Scherben und Rucksack hinter sich am Boden liegen. An ein Weiterfahren war nun nicht mehr zu denken: Der Schenkel schmerzte, und die Dunkelheit hatte vollständig Überhand genommen. Mürrisch schob Jan das Fahrrad neben sich her dem Licht entgegen.
Das Knattern des Generators wurde nun lauter. Jan glaubte, in der Ferne bereits die Stimmen seiner Freunde erkennen zu können. Er war dem Licht nun schon ziemlich nahe, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass damit irgendetwas nicht stimmte. Irgendetwas war falsch. Und während sein Gehirn noch damit beschäftigt war, dieses seltsame Leuchten einzuordnen, ging das Knattern des Generators in ein schnelles, wie von Hochspannungsleitungen erzeugtes Summen über, welches das flackernde Licht zu begleiten schien. Jan war sich nun sicher, dass dies unmöglich die Hütte sein konnte. Und trotzdem weigerte sich sein Verstand, diese Tatsache zu akzeptieren - zu seltsam und fremd erschienen ihm die Geräusche und das Lichtspiel.
Wie in Trance und ohne den Blick abzuwenden holte er sein Handy hervor und wählte Marcs Nummer. Er brauchte jetzt unbedingt jemanden bei sich, und sei es nur am Telefon, der ihm bestätigte, dass er nicht verrückt sei. „Wo bist Du, Mann?“, begrüsste ihn Marc aufgeregt nach nur einem Klingeln. „Was hier abgeht ist unglaublich, so was hast Du noch nie gesehen, Mann!“ Er liess Jan gar nicht erst zu Wort kommen: „Scheisse, hier leuchtet alles und irgendwas tönt verdammt komisch. Ich weiss nicht, ob…OH, MEIN GOTT! Hier ist…“ Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Dies war das letzte Mal, dass Jan und Marc miteinander gesprochen hatten.
Verwirrt und nach wie vor leicht entrückt ging Jan weiter auf das Leuchten zu, bis er auf eine Lichtung stiess. Und nun sah er es: Es war mitnichten der Schein aus den Fenstern der Waldhütte, es war etwas, was ihm völlig fremd war. Rund fünf Meter über dem feuchten, saftigen Grasboden in der Mitte der Lichtung schwebte eine Lichtkugel. Deren Zentrum war von grellem Weiss und zuckte und flackerte und schien wie ein Herz zu pumpen. Dieses Herz war umgeben von einer farbenprächtigen, schillernden, nebelartigen Substanz, die sich über eine Breite von einigen Metern erstreckte und sich fortwährend um das grelle, weisse, zuckende Herz bewegte. Das Summen war nun fast unerträglich laut geworden. Trotzdem blieb Jan atemlos stehen und betrachtete das Schauspiel fasziniert und bestürzt zugleich.
Langsam wagte er sich nach einiger Zeit aus der Dunkelheit der Bäume, betrat die Lichtung und ging auf das schwebende Ding zu. Sein Fahrrad hatte er achtlos im Gras liegen lassen. Mit jedem Schritt, den er näher kam, konnte er mehr Farben in dem leuchtenden Nebel, Dampf, oder was auch immer es war, ausmachen. Er konnte Farben erkennen, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte und für die er keinen Namen kannte. Das Ding war so berauschend schön, so leuchtend hell und von einer so unvorstellbaren Reinheit, dass Jan sich sicher war, einer göttlichen Existenz gegenüber zu stehen. Einer willenlosen Marionette gleich näherte sich Jan immer mehr und liess sich dann direkt unter dem pumpenden weissen Herz im Zentrum dieses Wesens auf die Knie fallen. Er blickte nach oben, magisch angezogen von der Faszination dieser unvorstellbaren Farbenpracht, von dem Summen und Zucken, von der Präsenz dieses gottgleichen Leuchtens. Unbändige Glückseligkeit stieg in Jan empor, eine nie gekannte Leichtigkeit nahm von ihm Besitz und er reckte lächelnd die Arme empor.
Das Licht über ihm blendete ihn so stark, dass er den pechschwarzen, etwa dreissig Zentimeter dicken Tentakel erst bemerkte, als er sich schon fest um seinen Arm geschlungen hatte und sich regelrecht durch sein gelbes Hemd frass, welches sich sofort blutrot färbte. Jan wollte entsetzt aufschreien, doch seine Kehle war nur noch zu einem erstickten Würgen fähig, als sich ein weiterer Greifarm um seinen Hals legte. Tausende kleiner, rasiermesserscharfer Zähne schlugen sich in sein Fleisch und rasender Schmerz breitete sich aus, während weitere Tentakel aus dem pulsierenden weissen Zentrum auf ihn zuschossen. Panisch versuchte Jan sich von den feuchten, schwarzen Fangarmen, die sich inzwischen zu Dutzenden vor ihm aufgebaut hatten und das weisse Herz und den farbigen Dampf mittlerweile fast vollständig bedeckten, zu befreien. Seines Atems beraubt und schon nahe an einer Ohnmacht, erkannte Jan durch den nunmehr grauen Schleier seiner Nethhaut, wie zwischen all den Armen so etwas wie ein Kopf hervorglitt. Ein schwarzes, totes Augenpaar starrte ihn für einige Sekunden regungslos aber neugierig an und ein riesiges, mit mehreren Zahnreihen und grossen Hauern besetztes Maul öffnete sich gierig lechzend. Dann wurde er in Stücke gerissen.