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Licht im schwarzen Nichts
So, genug für heute. Zufrieden mit dem Ergebnis der letzten Stunden, die er mit dem Abmischen eines neuen Songs verbracht hatte, verließ er das Tonstudio. Die verspannten Nackenmuskeln schmerzten. Während er sie mit beiden Händen massierte, erregte der Anrufbeantworter beim Vorübergehen sein Interesse. Die Nachricht, die darauf gespeichert war, traf ihn unvermittelt, nicht mit unseligen Vorahnungen oder vagen Eingebungen angekündigt. Eben nicht so, wie in den meisten überlieferten Fällen zwischen eng verbundenen Personen einer schockierenden Nachricht irgendeine Art von Anzeichen voraus ging. Schlimmer. Keulenschlag. Worte, die jeden Tag, oder mindestens jede Woche einmal irgendwo auf der Welt mit mehr oder weniger Anteilnahme dem Adressaten übermittelt werden. In diesem Fall lautete die Nachricht so: „Hallo, Markus. Ich bins, Jens. Ruf mich bitte zurück. Thomas hatte einen Unfall.“
Die Worte krochen langsam, wie Würmer durch nasse Erde. Von den Ohren über Hindernisse, die in Windeseile auf dem Weg zum Gehirn aufgebaut worden waren, in sein Bewußtsein, wo sie zubissen und schmerzten. Dieser Schmerz löste eine Reaktion aus. Seine Hände griffen entschlossen nach dem Telefon, um gleich darauf von der Angst vor dem, was er nicht hören wollte, gebremst zu werden. Reglos stand er da, kämpfte eine Schlacht mit sich selbst, bis die Hände gewannen. Während er mit klopfendem Herzen und trockenem Mund den Anruf bei Jens tätigte, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Thomas war heute morgen mit Jens und ein paar Freunden ins Lautertal aufgebrochen, um Kajak zu fahren. Dabei mußte ihm etwas zugestoßen sein.
Gut möglich. Kajak fahren war ein gefährlicher Sport, und ihm selbst war noch nie ganz wohl gewesen bei dem Gedanken, mit Behältnissen, die in ihrem Aussehen entfernt an Särge erinnerten, durch wilde, unberechenbare Stromschnellen getrieben zu werden. Er hatte es geahnt. Nein, eben nicht. Nichts hatte er vorhergesehen. Sport ist Mord.
Jens war in der Leitung und versuchte, ihm mit ernsten und dennoch beruhigenden Worten beizubringen, was passiert war. Bei Markus kamen nur Stichworte an. Kajak–Sturz-Wasser–Lebensgefahr–Bergung–Krankenhaus–Koma. Danke, Jens.
Er stand noch einige Sekunden da, das Telefon am Ohr, bis ihm einfiel, dass man am Ende eines Gesprächs den Hörer wieder auflegt.
Koma: tiefe Bewußtlosigkeit. Markus schlafwandelte durch die Wohnung. Im Spiegel des Badezimmers, das er zweimal beehrte, sah er das Gesicht eines jungen Mannes, der aussah, wie der jüngere Klon von Georg Clooney. Sein Gesicht. Achtlos ging er an ihm vorüber. Jacke anziehen, Tür schließen und absperren, Tiefgarage, in das Auto einsteigen. Geschafft! Das Bewußtsein durch eine Blockade gelähmt, begannen seine Körperteile mit der automatisierten Tätigkeit des Fahrens. Auf dem Weg in das Balthasar-Hospital gingen ihm die in solchen Situationen allgemein üblichen Standardgrübeleien durch den Kopf. Warum? Wieso? Hätte er doch nicht und wäre er doch nicht ... Dabei macht doch erst dieses Zusammenspiel der Unvorhersehbarkeiten ein geglücktes Unglück aus. Ja! Es ist sogar eine unabdingbare Voraussetzung dafür. Eine Millisekunde Unachtsamkeit, die Verkettung irgendwelcher Umstände – das wars.
So ziemlich jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens mindestens eine, wenn auch leichte bis mittelschwere, Hätte-/Wäre-Geschichte hinter sich gebracht. Fast immer versucht der menschliche Geist, eine Möglichkeit zu finden, geschehenes Unglück rückgängig zu machen. Immer muß er am Ende einsehen, dass dies unmöglich ist.
Was gäbe er darum ...
Markus wußte nicht wie es ihm gelungen war, ohne einen Unfall zu bauen im Krankenhaus anzukommen. Außer sich vor Sorge eilte er durch den Eingang direkt zum Pförtner, um die Zimmernummer zu erfragen: Zimmer 317 im dritten Stock, Intensivstation. Die Worte, die dieser Information folgten, hörte er nicht mehr. Sein suchender Blick fiel auf einen Aufzug, dessen Türen sich öffneten, um Kranke und Besucher ein- und aussteigen zu lassen. Markus betrat den Aufzug, die Türen schlossen sich. Erster Stock, zweiter Stock, dritter Stock. Er verließ den Lift und drehte sich nach allen Seiten um. Jetzt, kurz vor seinem Ziel, fühlte er sich plötzlich unbehaglich. Die Attribute, die normalerweise seine Wirkung auf die Umwelt ausmachten, wie sicheres Auftreten, innere Stärke, Unerschrockenheit und - nicht zu vergessen - der enorme Anteil an Kampfgeist waren wie weggeblasen. Seine Schritte verlangsamten sich. Zimmer 317 war in Sichtweite, davor standen eine Krankenschwester und ein Besucherpaar. Das mußten die Eltern von Thomas sein.
Bei seinem Anblick setzten beide ihre freundlichen Masken auf. Der Vater: Feldwebel. Wäre er zumindest gern. Übte lange für diese Rolle. Falsch. "Er lebt diese Rolle", sagte Thomas. Die Mutter: Wölfin im Schafpelz. Bei näherer Betrachtung fiel auf, dass Thomas seiner Mutter recht ähnlich sah. Das blonde, störrische Haar, die hellen Augen, ja selbst die schlanke, zarte Statur mußte er von ihr geerbt haben. Was er nach eigenen Angaben glücklicherweise nicht von ihr in die Wiege gelegt bekommen hatte, war die Art und Weise, wie sie es schaffte, sich durch geschicktes Einsetzen von Leiden und Launen unliebsame Konfrontationen mit Gegebenheiten oder Tatsachen, mit denen sie nicht konform ging, vom Leib zu halten.
Zögernd nannte er seinen Namen, bereit, über den eigenen Schatten zu springen und sich wehrlos zu ergeben. Ein Blick in die Gesichter seiner beiden Gegenüber genügte, um zu wissen, dass sein Name das Synonym für alles Übel in der Welt und er selbst der personifizierte schlechte Einfluss zu sein schien. Sie zogen ihre Schilde hoch. Zwei gegen Einen. „Darf ich ihn sehen?“ „Unser Sohn braucht absolute Ruhe.“ Flehend: „Bitte, nur einen Moment. Mir liegt sehr viel daran.“ Dann erst recht nicht. Diese uneinnehmbare Festung vor Augen, bäumte sich der Wurm noch einmal auf. Betteln/schreien/winseln/toben. Ein Wort gab das andere und nachdem es ihm gelungen war, einen Blick in das Zimmer zu werfen, in dem der Halbtote aufgebahrt lag, drehte er völlig durch. Ihm wurde nahegelegt, zu gehen, seine Weigerung mit einem Besuchsverbot "belohnt".
Er fühlte sich leer, ausgebrannt und zutiefst verzweifelt. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Szenen im Krankenhaus. Dumm gelaufen.
Markus floh zu Miriam, seiner besten Freundin und deren Katze. Miriam erwies sich als große Hilfe. Sie hatte während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester ein Praktikum in eben jenem Hospital absolviert und kannte sich dementsprechend gut dort aus. Ihr Plan für ihn: Durch die stets unverschlossene Hintertür der Krankenhausküche hindurch und an der Nachtschwester vorbei zu schleichen, die ab zwanzig Uhr alle zwei Stunden ihre Runden drehte. Es verbliebe also genug Zeit, um ungestört bei dem Patienten auszuharren. Ein Krankenhaus ist schließlich kein Hoch-Sicherheits-Gefängnis. Gut so. Die Katze spendete ihm ebenfalls Trost, indem sie ihm Köpfchen gab und aus seinem Pulli jede Menge Fäden zupfte.
Miriams Plan war gut, hatte nur einen entscheidenden Nachteil: er funktionierte nicht. Der Hintereingang zur Küche war verschlossen. Eine Umrundung des Gebäudes brachte lediglich die frustrierende Erkenntnis, dass der einzige Weg ins Innere des Hauses über den Eingang führte. Da Liebe ungeheure Kräfte verleiht – sowohl physische als auch psychische – fügte er sich selbst mit einer Glasscherbe eine stark blutende Wunde zu. Ab sofort galt er als Notfall, wurde als Patient aufgenommen und versorgt.
Nun saß er da, am Bett von Thomas, dessen Existenz auf ein Minimum reduziert war und von einem maschinellen Lebenserhaltungssystem stabilisiert und überprüft wurde. Aus Berichten über Koma-Patienten wusste er, dass die Chancen für ein Zurückholen umso größer waren, je weniger Zeit vergangen war bis die eingeleiteten Maßnahmen greifen konnten. Welcher Art? Seine Maßnahmen bestanden zunächst einmal aus seiner Anwesenheit und der Nähe zu Thomas. Weiterhin aus einem mitgebrachten Rekorder nebst Kopfhörern und aus einer ebenfalls mitgebrachten Audiokassette, die bespielt war mit gemeinsam geschaffener Musik. Markus strich, Tränen in den Augen, seinem geliebten Partner zärtlich über das Gesicht, nahm dessen linke Hand in seine und hoffte, dass seine Anwesenheit nicht zu schnell entdeckt werden würde. Das leise Geräusch der Apparate beruhigte ihn ein wenig und so hing er traurig alten Erinnerungen nach.
Nie würde er das Open-Air-Konzert vergessen, bei dem er und Thomas sich das erste Mal begegnet waren. Zwei Seelen, die an jenem Tag nicht suchten, hatten sich gefunden. Markus, der Aufbrausende und als Gegenpol der sanfte Thomas, der das Kunststück fertig brachte, die Wogen in seinem Herzen zu glätten.
Sie beschlossen, einige neue musikalische Projekte gemeinsam zu starten. Auf den Vorschlag von Markus hin, zu ihm in die Wohnung zu ziehen hatte Thomas, der noch bei seinen Eltern lebte, seit Monaten versucht, sich seinen Eltern zu offenbaren. Doch jegliche Anläufe in diese Richtung waren bereits im Ansatz fehl geschlagen, weil sie seine Veranlagung schon immer geahnt hatten, jedoch nicht wahrhaben wollten, also wohnte er noch dort.
Markus komponierte, Thomas sang. Ein unschlagbares Team. Immer wieder gelang es Markus, Thomas mit extra für ihn geschriebenen Stücken zu überraschen. Nur die schönsten davon hatte er mitgebracht. Band läuft. Ihm wurde bewusst, wie nahe er daran war, diesen einzigartigen Menschen für immer zu verlieren. Verzweiflung stieg in ihm hoch, kurz darauf leiser Zorn. Wer gab Eltern das Recht, Qualität und Quantität der Liebe, die man ihrem immerhin bereits 23 Jahre alten Sohn entgegenbrachte, zu bewerten?
Während dieser unendlich langen Zeit schwamm Thomas durch ein unendlich tiefes, schwarzes Nichts, das ihn gefangen hielt. Ein kaltes Universum, in dem alle Sterne erloschen waren und in seiner Mitte orientierungslos eine einsame, verlorene Seele. Er ließ sich treiben.
In all dieser undurchdringlichen Schwärze glaubte er plötzlich, einen winzigen Lichtpunkt zu sehen, der ihn magisch anzog. Hoffnung besiegt Apathie. Sein ganzer Wille klammerte sich an dieses winzige Licht, das er wieder zu verlieren fürchtete und er kämpfte sich aus der zähen Schwärze mit ungeheuerlicher Anstrengung frei. Näher und näher bewegte er sich auf das Licht zu, welches sich als rotierende Lichtspirale erwies, in deren Zentrum eine Melodie erklang, erst leise, dann immer lauter werdend. Diese Melodie, das Lied, das Markus für ihn voller Liebe geschrieben hatte, riß ihn mit sich heraus aus dem schwarzen Nichts, hinüber auf die andere Seite, wo die körperliche Hülle mit Namen Thomas ihn wieder als Bewohner aufnahm und sich dabei nahezu unmerklich bewegte.