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Lichtbringer
1969, 11° 19' S 142° 15' E, Marianengraben, Witjastief I
Wasser flutete die Röhre und umspülte das große Exoskelett mit einer Dicke von mehr als zehn Zentimetern Stahl, in dem er saß. Ein Mech, der ihn vor Wasser und Druck schützte. Er packte die Griffe der Steuerung. Um ihn herum Schwärze. Dann spürte er Druck von hinten gegen Rücken und Schultern. Dämmriges rotes Licht durchbrach die Dunkelheit, ehe ihn der Luftstoß hinaus aus der Röhre schoss.
Weite Schwärze empfing ihn, als er in seinem Mech durch das Wasser trudelte. Mit dem linken Zeigefinger aktivierte er per Knopfdruck die Scheinwerfer. Die Strahlen waberten vor ihm durchs Wasser, als müsste sich das Licht langsam hindurchkämpfen. Im Licht wirkte die Umgebung nur wenig mutmachend. Er sah keine Fische, nur fallenden Meeresschnee. Dann Gestein. Langsam schwebte er darauf zu.
„Hier Marineleitung. Alles in Ordnung bei Ihnen?“
„Ja, alles in Ordnung“, sagte er.
„Grund wird erreicht in 10 …“
Der Boden kam näher. Langsam atmete er das Luftgemisch, das auch in der Tiefe garantierte, dass er nicht die Orientierung verlor oder ohnmächtig wurde. Er ließ den Blick über den näherkommenden Boden schweifen, wagte dann einen Blick nach oben, hinauf zu den elf Kilometern Wassermasse über ihm. Sein Puls beschleunigte sich. Er spürte, dass er der erste Mensch war, der je von sich behaupten konnte, hier gewesen zu sein.
„Landung in 3, 2 …“
„Ein kleiner Schritt für einen Menschen. Aber ein großer Sprung für die Menschheit.“
Neil Armstrong setzte als erster Mensch seinen Fuß auf den tiefsten Punkt des Meeres.
2045, 68° 31' S 90° 31' W, Antarktische Gewässer
Ifa Jallow saß an Deck der Umi, die sich wie ein geworfener Dartpfeil den Weg durch die Tiefsee bahnte. „Noch zehn Minuten bis zur Abbaustation PX 2.11“, sagte sie mit Blick auf die Displays. Neben der Wassertiefe wurde von einem GPS die Lage angezeigt, während Echolot und Sonar Scans der Umgebung lieferten. Am wichtigsten für Ifa war jedoch die Umgebungskarte, die der Computer aus den gebündelten Daten generierte. Ein Bild, auf das sie sich lieber verließ als auf die Scheinwerfer, die ihr Licht in die Finsternis warfen.
„Schaust du auch noch gerade aus?“, fragte Deniz, der hinter sie getreten war. Er roch nach Muskat.
„Hast du wieder das Essen verfeinert?“, entgegnete Ifa.
„Für irgendetwas muss man sein Geld ja ausgeben“, meinte er und ließ sich neben sie auf einen der drei Stühle im Cockpit fallen. „Schon etwas interessantes gesehen?“
Ifa schüttelte den Kopf. „Nichts. Ist ja auch arschkalt und es herrscht höllischer Druck.“
„Das wird ja ein besonders netter Ausflug“, sagte Deniz, während er sich durch das kurze, dunkle Haar fuhr.
Die Tür zum Cockpit ging erneut auf. Ifa und Deniz drehten sich zu Ava Daxton um, der Kommandooffizierin der Umi. Kurzhaarschnitt, strammer Gang. „Die Zentrale hat mitgeteilt, dass die Notrufsignale weiterhin unverändert eintreffen“, klärte sie die beiden auf.
„Also seit fünf Tagen Stillstand“, fasste Ifa zusammen.
„Nicht gut“, ergänzte Deniz.
„Macht euch auf das Schlimmste gefasst“, sagte Ava.
Ifa und Deniz liefen leicht gebeugt durch den schmalen und niedrigen Gang der Umi. Rechterhand lag die „Küche“, in der die Fertigrationen aufbereitet werden konnten. Deniz war der einzige an Bord, der wirklich kochen könnte, wenn er mehr Raum zur Verfügung hätte. Für Außeneinsätze dieser Art galt das nicht – was ihn aber nicht davon abhielt, wenigstens etwas Würze in die faden Mahlzeiten zu bringen.
Am Ende des Gangs lag linkerhand die Ausstiegskabine. In drei Spinden hingen die mattschwarzen Anzüge aus dickem Kunststoff, verstärkt mit Karbonfasern.
Ifa zog sich bis auf die Thermounterwäsche aus, ehe sie den mattschwarzen Anzug aus dickem Kunststoff verstärkt mit Karbonfasern aus ihrem Spind nahm. Sie schlüpfte in die eng wie in einen Neopren anliegende Kleidung, die aufgrund ihrer Druckresistenz kiloschwer war – die technischen Implementationen nicht zu vergessen. Die Flaschen mit dem notwendigen Luftgemisch hängte sie an den Seiten des Rucksacks ein. An den Füßen ging der Anzug in einen schuhartigen Schutz mi fester Sohle über, an den Ifa Schwimmflossen einklinken konnte. Zuletzt setzte sie sich einen großen Helm auf, der fest mit dem Anzug verbunden wurde. Er war groß genug, um auch im Wasser die Kommunikation zu erlauben. Der integrierte Computer startete, zeigte auf der Helmscheibe zahlreiche Interfaces zur Kommunikation, Messwerte und Optionen für die Steuerung des Anzugs an. Hightechausrüstung, um auch in 5.000 Metern Tiefe tauchen zu können.
Ifa griff nach dem Impulsgewehr.
„Meinst du, wir werden es diesmal wirklich brauchen?“, fragte Deniz, der neben ihr vor dem Waffenschrank stand.
„Keine seismischen Aktivitäten, aber plötzlicher Wassereinbruch“, antworte Ifa nur.
Deniz griff sich auch sein Impulsgewehr, dann begaben sich beide in die engen Abschussröhren und zogen die Klappen ihrer Röhren zu. Ifa drückte den Rücken an die metallene Rückwand und dennoch hatte sie nur wenige Zentimeter vor sich Platz. Der allmähliche Druckanstieg begann.
„Ich sehe die Station vor mir“, hörten sie Ava über den Funk. „Wenn ihr rausgeht, seid ihr ungefähr noch 300 Meter entfernt.“
„Kannst du Zerstörungen erkennen?“
„Nicht auf diese Entfernung. Kein Großereignis. Der Raucher scheint allerdings freizuliegen.“
Eine grüne Lampe flackerte auf. Druckausgleich abgeschlossen. Früher wäre Ifa innerhalb der wenigen Minuten ohnmächtig geworden – die rapide Veränderung machte jeden Rekruten fertig. Mittlerweile kannte sie den Prozess nur allzu gut. „Bereit für Austritt.“
„Austritt genehmigt. Setze euch ins Wasser in drei, zwei, eins – passt auf euch auf.“
Per Luftdruck wurden Deniz und Ifa hinaus in die Tiefsee geschleudert. 5000 Meter Wasser über ihnen, um sie herum das Gebirge des antarktischen Vorlands. Den Sprachbefehl für die Aktivierung der Schulterscheinwerfer gaben sie schon automatisch. Eine kleine Klappe öffnete sich und sie fuhren aus ihrer sicheren Halterung heraus. Nebeneinander schwammen sie auf die Abbaustation zu. Die Scheinwerfer strahlten hell, holten jedoch nur Bruchstücke der Umgebung aus der ewigen Nacht. Meeresschnee und andere Kleinstpartikel waberten wie Staub durchs Wasser.
„Schade, ich hatte gehofft, dass uns zumindest ein Gesichtsloser Fisch über den Weg schwimmt“, sagte Deniz.
Sie kamen näher. Allmählich schälte sich die Abbaustation aus der Finsternis. Der Hauptteil des Gebäudes sah aus wie eine große Scheibe, die mit mehreren dicken Stahlstreben am aufsteigenden Fels und am Boden verankert war. Eine Röhre führte vom Meeresgrund an die Seite der Scheibe, wo sie sich zu einem klobigen Kasten vereinten. Oben drang etwas schwarzer Rauch hervor.
„Jetzt sieht es so aus, wie es einmal überall auf der Erde ausgesehen haben muss“, sagte Deniz. „Nur war es in der irdischen Industrie wirklicher Rauch und keine Metallpartikel.“
„Sieh“, sagte Ifa nur. Das Licht ihres Scheinwerfers fiel auf das Eingangsschott der Station. Es war offen. Die Türen waren eingedrückt, an die Innenwände gefaltet.
„Vielleicht hat das Schott der Brücke gehalten. Wenn sie es rechtzeitig geschlossen haben“, hörte Ifa Deniz‘ Stimme leise über den Kommunikator. Sie sah hinüber zu ihrem Kollegen, der beim Anblick des zerstörten Schotts angehalten hatte.
„Halt dein Impulsgewehr bereit“, gab sie Anweisung.
„Das sieht nicht nach einer Explosion aus“, meldete sich Ava, die ihre Eindrücke über die Kopfkameras mitverfolgte.
„Aber geologische Aktivitäten gab es hier keine in den letzten Wochen“, warf Ifa ein.
„Und Riesenmaulhaie schwimmen nicht in so kalte Regionen“, schloss sich Deniz an. Er nahm das Impulsgewehr in die Hand, das bis gerade eben locker am Gurt mitgeschwommen war.
„Haltet einfach die Augen auf“, sagte Ava, ehe sie sich wieder stummschaltete.
„Ich aktiviere die Fledermaus. Wer weiß, was wir mit dem Licht aufscheuchen“, sagte Ifa.
Ein dunkler Metallschutz schob sich vor das Visier und schirmte sie von der Außenwelt ab. An mehreren Stellen des Taucheranzugs wurden nun für die meisten Wesen unhörbare Töne ausgegeben, deren von der Umgebung zurückgeworfenes Echo der Computer im Anzug in eine 3D-Darstellung interpretiert – dargestellt auf dem Helmdisplay in Konturen aus Grauschattierungen. Als würde Ifa durch das Metall sehen können. Der nicht mehr gebrauchte Schulterscheinwerfer klappte wieder in seine Verankerung. Die Mischung aus Echolot, Sonar und virtueller Realität hieß offiziell Echosonarrekonstruktion. Im Außeneinsatz hieß sie einfach Fledermaus, ein Begriff geprägt von der Generation, die diese Tiere noch gesehen hatte.
„Du verzichtest jetzt schon auf das Licht?“, fragte Deniz, gab dann aber auch den Aktivierungsbefehl.
Ifa und Deniz schwammen durch das zerstörte Schott. Die Abbaustation war gänzlich durchflutet, der plötzliche Einbruch der Wassermassen war überall zu sehen. Was an den Wänden hing, was an Gerätschaften herumstand: Alles war durcheinander geworfen und wie Papier zerknüllt worden. Es dauerte nicht lange, bis ihnen der erste Körper entgegenschwamm. Eine Frau im Taucheranzug, der Luftbehälter war ihr vom Rücken gerissen worden. Wassereinbruch durch die Risse. Erstickt oder Schlimmeres. Mit einem kräftigen Beinschlag brachte sich Ifa an ihr vorbei, Deniz folgte ihr.
Sie gelangten auf direktem Weg zur Kommandobrücke, die im Zentrum der scheibenförmigen Station lag. Das Zwischenschott war ebenfalls nach innen eingedrückt. Drei Körper in Taucheranzügen schwebten im Wasser. „Wussten sie, was auf sie zukam?“, fragte Deniz.
„Die Schotts hätten halten müssen.“ Ifa schwang sich ungeachtet der Toten zum Steuerpult der Station. „Was ist …?“ Die Konturen der Knöpfe und Displays waren kaum zu erkennen. „Deaktiviere Fledermaus“.
Im Licht der Schulterlampe sah Ifa, das an Teilen der Steuerungseinheit leicht schimmernde Partikel hingen. Wie Goldstaub.
„Deniz, sieh dir das mal an.“
Er deaktivierte ebenfalls seine Fledermaus und schwamm zu Ifa hinüber. Er runzelte die Stirn und zog aus einer Anzugtasche eine schmale Röhre – bereits gefüllt mit Wasser, um bei Abnahme des Deckels und des darin integrierten Schabers nicht zu zerspringen. Während Deniz die Probe nahm, meinte er: „So etwas habe ich noch nicht gesehen.“
Es klopfte gegen Ifas Hinterkopf.
Ruckartig fuhr sie herum und schlug mit dem Griff des Impulsgewehrs zu, so schnell es der Wasserwiderstand eben erlaubte. Es reichte um die Leiche, die an sie herangetrudelt war, herumzuschleudern. Sie zeigte ihr das Gesicht. Die Scheibe des Helms war zerbrochen, der Kopf war ein zusammengepresstes Schlachtfeld – mit einem Film aus goldenem Schimmer.
„Scheiße. Holen wir die Blackbox und verschwinden erst einmal.“
„Einverstanden“, sagte Deniz. Während Ifa die Blackbox unter dem Steuerpult hervorholte, schwamm er zur Bodenscheibe, die einen Blick in die untere Etage ermöglichte. „Das Lager steht ebenfalls voll mit Wasser. Aber da stehen noch viele Rohstoffbehälter, keine Piraten also …“
„Und wahrscheinlich auch keine Föderation. Warum …“
„Jallow, Kent“, drang Avas Stimme an ihr Ohr. „Verlasst die Station, sobald ihr die Blackbox habt. Das müsst ihr euch ansehen.“
Ifa hängte die Blackbox an den Rucksack und sie schwammen aus der Abbaustation PX 2.11 ins freie Wasser. Sie hielten sofort an.
Ein riesiges U-Boot ruhte wie eine umgestürzte Zitadelle in vielleicht dreihundert Metern Abstand zu ihnen knapp über dem Meeresgrund. An den kantigen Konturen führten leuchtende Linien entlang, die die Ausmaße des gewaltigen Schiffs erahnen ließen, wo ihre Schulterscheinwerfer versagen würden. Die Umi wirkte dagegen wie ein Zahnstocher.
„Wo kommt das denn her?“, fragte Ifa.
„Ich weiß es nicht. Es hat mit Schallwellen unser Sonar durcheinandergebracht. Ich bin froh, euch noch dran zu haben.“
„Scheiße, sollten wir hier nicht schnell verschwinden?!“, rief Deniz.
„Wisst ihr nicht, was ihr da seht? Das ist die Luzifer.“
Das gewaltige U-Boot hatte sich zwischen die Kluften des Meeresgrunds hindurchgeschoben wie ein Luftschiff zwischen Berge. Es musste mindestens drei Stockwerke hoch und über dreihundert Meter lang sein. An der Außenhülle führten sechs Kanten entlang, die mit einem goldenen Schimmern besetzt waren. Das Licht kam aus Röhren, die fest am Schiff verankert waren und lumineszierte in unregelmäßiger Stärke entlang der Länge des Schiffs. Nach vorne hin zog sich die Kanten in einer Windung zusammen, sodass das Schiff insgesamt spitz genug zulief, um Eisberge mit Leichtigkeit durchbrechen zu können.
Vom Cockpit der Umi aus ruhten die bewundernden Blicke von Ifa Jallow, Deniz Kent und Ava Daxton auf dem Ungetüm.
„Können wir sicher sein, dass es kein Nachbau ist?“, fragte Deniz.
„Die technischen Details der Produktion der Luzifer lagen und unterliegen noch immer einer Geheimhaltungsstufe, zu der selbst ich keinen Zugriff habe. Es erscheint mir unmöglich, dass die Föderation an dieses Wissen gekommen ist – zumindest ohne, dass wir es mitbekommen hätten“, widersprach Ava.
„Reagieren sie auf irgendetwas?“
„Nein, nichts. Die Motoren sind auch nicht gelaufen, die Luzifer ist einfach herangetrieben worden. In absoluter Stille.“
„Aber wenn der Antrieb nicht läuft, seit Jahren nicht gelaufen ist: Warum leuchten die Luciferine immer noch?“
„Die Bakterien, die auf der Luzifer eingesetzt wurden, waren die erste Generation dieses Designs. Äußerst überlebensfähig, ein fast schon aggressives Wachstum, wenn sie mit den richtigen Abgasen versorgt wurden. Wer weiß, ob die sich nicht eigenhändig einen Weg zu Vorräten gebahnt haben, die sie versorgen. Selbst die zweite Generation hat sich noch vor der Küste Dänemarks festgesetzt wie eine Seuche, als sie ins Freie gelangte“, erwiderte Deniz.
„Schön. Aber woher der Schall, der Sonar und Echolot stört?“
„Könnte eine technische Fehlfunktion sein oder ein Notfallprotokoll.“ Ava hielt einen Moment inne. „Wir müssen da rein.“ Ifa und Deniz drehten sich zu ihr, doch bevor sie etwas sagen konnten, zeigte Ava auf die Luzifer. „Wenn dieses Schiff auf seiner letzten Reise irgendetwas entdeckt hat, dürfen wir es nicht einfach herumliegen lassen! Wir müssen an Bord des Schiffs, um zu erfahren, was die Mannschaft erlebt hat. Ob vielleicht jemand überlebt hat.“
„Nach zehn Jahren im Eis? Wohl kaum“, sagte Ifa.
„Aber Ava hat Recht. Wir sollten uns das ansehen“, stimmte Deniz der Offizierin der Umi zu.
„In der Zwischenzeit werte ich die Blackbox von PX 2.11 aus“, sagte Ava dann in ihrem üblichen Ton – als wäre die Diskussion bereits beendet.
„Mir gefällt das nicht“, sagte Ifa über die private Kommunikation zu Deniz. Sie waren wieder in ihre Tauchanzüge gestiegen und hatten die Umi verlassen.
„Gibt aber sicher auch einen Grund, warum du das erst jetzt so bestimmt sagst.“
Ifa drehte sich zur Seite, versuchte einen Blick auf Deniz‘ Gesicht zu erhaschen. Er schwamm an ihr vorbei. „Was meinst du?“
„Du hättest auch an Bord der Umi bleiben können und bist jetzt hier. Die Luzifer und Kapitän Asp … wir können Helden werden, wenn wir sie der Union zurückbringen. Zumindest das Schiff.“ Ifa konnte seine Aufregung hören. Das übertraf noch seine Faszination für Meerestiere. Sie spürte ein Kribbeln in den Armen, wie sie es früher immer beim Aussteigen gehabt hatte. Als sie es noch nicht gewohnt war, die Kälte erst nach einer Stunde allmählich zu spüren und ihr Gehirn ihr bereits nach wenigen Sekunden einen Streich spielte. „Ich habe aber trotzdem ein schlechtes Gefühl.“
„Rufe den Plan der Luzifer auf, Frontier Klasse I. Lokalisiere Eingang“, wies Ifa die Sprachsteuerung ihres Helmcomputers an. Zugriff verweigert.
„Hätte ich mir denken können … rufe den Plan der Voyager auf, Frontier Klasse I. Lokalisiere Eingang.“
„Hoffen wir mal, dass sich ab dem Prototypen nicht mehr allzu viel am Aufbau geändert hat“, meinte Deniz, ehe er dasselbe Kommando gab. Die Umgebungssensoren tasteten die Luzifer ab und lokalisierten die Taucherrohre an der Unterseite. Seite an Seite schwammen Ifa und Deniz unter das Schiff. Sie kamen dabei nah an die unterste Kante, in die eine der Röhren voller Luciferine produzierenden Bakterien eingelassen war. „Das Leuchten tausender Anglerfische“, sagte Deniz.
„Und etwas Genmanipulation“, ergänzte Ifa.
Sie tauchten an dem hellen, aber ungleichmäßigem Leuchten vorbei unter die Luzifer. Der Helmcomputer legte auf dem Display einen Fokus auf eine Reihe von Vertiefungen. Die geschlossenen Luken zum Schiff. Ifa und Deniz näherten sich.
„Luzifer, erbitten Öffnung der Luken für Wiedereinstieg“, fragte Ifa über einen offenen Kanal an. Nichts geschah. „War einen Versuch wert“, meinte sie. Beide glitten nun nahe an die Luken und zogen aus den Ärmeln Kabel heraus, die sie mit Adaptern an der Außenhülle verbanden. Die Verbindung wurde zugeschraubt, das Wasser hinausgedrückt. Erst jetzt öffneten sich die inneren Klappen zu den elektronischen Verbindungen, sodass der Kontakt aufgenommen werden konnte. „Hoffen wir, dass das Schiff unsere Codes annimmt“, meinte Deniz. Zwanzig Sekunden lief das Abtasten – dann schoben sich die Luken auseinander. Ifa und Deniz nickten sich zu, lösten die Kabel und verschwanden in ihren jeweiligen Eingängen.
Ifa fühlte sich innen wie ein Torpedo, es gab keine durchsichtigen Einblick in das Innere des Schiffs, alles war aus Metall. Ein kleines, hinter dickem Plastik geborgenes Panel und ein großer, roter Knopf. Sie drückte, die Luke schloss sich und das Wasser floss ab. Bis der Druck sich normalisierte dauerte es noch einmal eine Minute. „Hoffen wir nur, dass uns auf der anderen Seite nicht sofort Wasser erwartet. Das könnte unangenehm werden“, sagte Ifa. Da schob sich die metallene Schutzwand zur Seite – und präsentierte eine trockene Kabine.
„Erstaunlich. Nach all den Jahren immer noch unbeschädigt“, sagte Deniz, der neben Ifa aus seiner Röhre stieg. Die langen Schwimmflossen erzeugten bei jedem Schritt ein nass-saugendes Geräusch. Das Licht der Schulterscheinwerfer flackerte über Boden und Wände. Deniz drückte einen Schalter – ohne Ergebnis. „Wie du schon gesagt hast: War einen Versuch wert“, reagierte er auf Ifas hochgezogene Augenbrauen.
„Sehen wir uns mal an, was uns die Besatzung zurückgelassen hat.“
Sie klinkten die Schwimmflossen aus und hängten sie an den Rucksack, um besser laufen zu können. Seite an Seite verließen sie die Taucherkabine und traten durch eine ihnen zugeneigte, offen stehende Tür in einen langen Gang, der von seinen Maßen mehr wie eine Röhre wirkte. Ähnlich wie die Außenhülle der Luzifer war die Gangröhre annähernd sechseckig – entlang der oberen Kanten verliefen Röhren aus denen goldgelbes, schimmerndes Licht auf den Gang fiel.
„Die Luciferin-Bakterien-Kolonien hier drinnen leben auch noch“, sagte Deniz und schaltete das Licht seines Schulterscheinwerfers ab. Es war zwar nicht taghell in der Gangröhre, jedoch ausreichend, um sich umsehen zu können.
Rechterhand war in nur zwanzig Metern ein Schott zugezogen. Ifa und Deniz wandten sich nach links, schritten nur begleitet von dem Platschen ihrer Schwimmflossen durch die Röhre. Das Laufen in den Anzügen war beschwerlich, aber solange Teil ihrer Ausbildung, dass sie es als Routine ertrugen. Nach etwa vierzig Metern führte eine Röhre nach rechts oben weg, nach vorne war der Weg durch ein weiteres Schott versperrt. Ifa ging bis zum Tor und blickte zur Wand. Ein Informationsdisplay lag dunkel vor ihr und reagierte auf keine Berührungen. Deniz zog aus dem Brustteil seines Taucheranzugs ein langes Kabel mit verdicktem Ende hervor, das er wie ein Stethoskop an das Schott legte. Die Geräusche jenseits der Wand wurden ihm über seine Kopflautsprecher in den Helm gespielt. Zunächst war es nichts. Das Helmdisplay zeigte jedoch leichte Ausschläge an und als Deniz genauer hinhörte, nahm er ein ganz leises Rauschen war. „Da ist Wasser auf der anderen Seite“, stellte Deniz leise fest.
„Also doch ein Einbruch.“ Ifa rief den Plan der Voyager wieder auf. „Hier entlang geht es zur Brücke.“ Sie wies den freien Gang entlang. Deniz nickte, führte das Stethoskop wieder in seine Verankerung und folgte Ifa.
Er führte schräg nach oben in die mittlere der insgesamt neun Hauptverbindungen, die sich durch die Blaupause der Voyager und von Biolumineszenz erhellt waren – wie es Ifa und Deniz auch von der Luzifer annahmen. Kleinere Gänge und klaustrophobische Aufzüge komplettierten das Netzwerk. Ifa und Deniz sahen auf ihrem Weg die Hauptröhre entlang weitere heruntergelassene Schotts – bis der Weg vor ihnen selbst versperrt war. Sie wechselten auf eine höhere Etage und nach dreißig Metern war der Weg nach unten wieder frei – nur ein Teil der Hauptröhre war mit Schotts abgeriegelt.
„Das macht keinen Sinn“, sagte Ifa schließlich und zeigte demonstrativ auf ihr Helmdisplay als sich Deniz umdrehte. „Wo ist das Wasser eingebrochen, das es so viele verschiedene Reservoirs gebildet hat?“
Neben ihr kniete sich Deniz hin und begutachtete den Boden. Am Übergang zur Wand strich er mit dem Handschuh entlang. Grüne Fäden klebten zwischen seinen Fingern als er sie auseinanderzog. „Algen. Hier war mehr überflutet. Sie müssen es geschafft haben, die Notpumpen zu aktivieren.“
„Aber warum nur für diesen Bereich?“, fragte Ifa. „Oder warum für diesen nicht?“ Sie blickte auf das schweigsame, stählerne Schott vor ihr.
„Vielleicht hat es die Energie nicht gelohnt. Liegt dort nicht das Biolabor? War ja klar“, meinte Deniz und konnte einen säuerlichen Ton nicht verkneifen.
„Hey, ich kann auch nichts dafür, dass man euch Pflanzenschubser an Bord nicht so dringend braucht“, meinte Ifa und versuchte ein befreiendes Lachen. Es blieb stecken, als sie noch einmal auf das Schott vor sich sah.
Sie kamen dem Ende des Schiffes und damit der Brücke immer näher, als sie auf ein weiteres Schott stießen, das sie auf das nächste Stockwerk zwang. Oben angekommen kamen sie nur wenig weiter, bis ihnen eine weitere, massive Stahltür den Weg versperrte. Nur rechterhand war eine Röhre frei, die nach einigen Metern mit weißem Plastik ausgekleidet war. Wie ein Schlauch ging es geradeaus, während es sich vom Metall löste, das schließlich nur noch einen großen, etwa zwanzig Meter durchmessenden Raum gab, in dem ein großer, durchsichtiger Raum aus Plastik annähernd frei in der Luft hing. Neben dem Zugang gab es nur eine Verbindung mit dem Rest des Schiffs: eine metallene Kugelhalterung an der Decke des Plastikraumes.
„Eine gyroskopische Lageregelung“, sagte Ifa erstaunt. „Theoretisch sollte dieser Raum selbst beim Durchbrechen eines Eisbergs still liegen. Hey, Daxton, siehst du das?“
„Scheint mit der Blackbox abgelenkt zu sein“, meinte Deniz, da erklang doch Avas Stimme: „Ja, ich kann euch sehen. Ich habe erste Teile aus der Blackbox entschlüsseln können. Sie haben kurz vor Ende der Systemaufzeichnungen Funksignale erhalten! Sie sind extrem verrauscht, aber hört mal:
Hier – Kapi-- - -zifer. Wir sind --. -- - Eis - gesehen, -- verändern -. - - Zukunft --: die Hüter. - - Licht -, - - nie -träumen -.
Eine Sprachbotschaft der Luzifer! Jemand an Bord lebt!“
„Das ist unmöglich“, sagte Deniz. „Nach zehn Jahren …“
„Vielleicht ist es auch nur eine Aufzeichnung, die dauerhaft sendet. Ich werde die Kanäle offen halten. Aber dennoch: Es ist erstaunlich, dass sie immer noch ausreichend Energie erzeugen! Ich werde versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen und melde mich dann wieder bei euch.“
„Hast du denn auch etwas über die Unfallumstände?“, fragte Deniz missmutig.
Es dauerte einen Moment, dann antwortete Ava beiläufig: „Sieht nach einer Fehlfunktion aus. Die Schotts haben ein Öffnungssignal erhalten.“
„Scheiße, Ava, was heißt denn Fehlfunktion?“
„In der Chronik ist das Signal zur Öffnung vermerkt, aber der Ort der Eingabe lässt sich nicht nachvollziehen“, erklärte sie schnell. „Macht jetzt weiter, versucht herauszufinden, wo die Botschaft hergekommen ist. Wer sie verschickt hat.“
„Ist in Ordnung“, sagte Deniz und schaltete auf Privatkommunikation mit Ifa um. „Ihr sind die Leute auf der Abbaustation vollkommen egal.“
„Was sind die ‚Hüter‘?“, fragte Ifa.
„Wer weiß das schon, vielleicht meinten sie sich ja selbst.“
Deniz zuckte mit den Achseln, was durch den Anzug kaum zu sehen war, und stakste an Ifa vorbei durch den Plastikschlauch. Sie schloss schulterzuckend zu ihm auf. Am Ende des Schlauchs versperrte eine milchige Tür den Weg, doch Deniz konnte sie manuell zur Seite schieben. Ifa hörte ihn nach Luft schnappen, dann machte er einen Schritt vor und zur Seite. „Deniz, was …“
Vor ihr lag die Medizinstation der Luzifer. An den Wänden, hinter denen erst freie Luft und dann die Metallwände vage zu erkennen waren, standen technische Geräte, um Körperfunktionen zu überwachen oder zu unterstützen. Ifa sah unter anderem ein Beatmungsgerät, da wurde ihr Blick von den Liegen in der Mitte des Raumes eingefangen. Zwei Liegen waren aufgebaut und im Boden verankert. Zwischen ihnen war eine Trennwand aufgebaut, sodass Ifa nur sehen konnte, was auf derjenigen lag, die ihr am nächsten stand: ein Mensch – der Länge nach aufgeschnitten und seziert. Vor langer Zeit.
„Computer, Notfallhelmnöffnung“, raunte Deniz. „Code Xi3PQ…“ Den letzten Buchstaben musste er noch deutlich genug für die Spracherkennung ausgesprochen haben, während Ifa ihren Kollegen nicht mehr verstand. Das Visier klappte nach vorne auf, Deniz beugte sich vor und erbrach auf den Boden der Medizinstation.
Die Knochen wurden von pergamentartiger Haut zusammengehalten, die Organe im aufgeschnittenen Bauchraum waren weniger mehr als schwarze Klumpen. Inmitten der Reste glitzerten goldene Punkte wie Sterne an einem Nachthimmel.
„Ich hätte gedacht, du hältst so etwas aus“, meinte Ifa, während sie selbst versuchte, den schalen Geschmack herunterzuwürgen.
„Ich bin Biologe, kein Forensiker“, sagte Deniz und richtete sich schwer atmend wieder auf. Er wagte einen weiteren Blick auf die Leiche. „Sind das … Luciferin-Bakterienstämme?“ Er holte Luft, trat näher heran und beugte sich über die Leiche. Die goldenen Punkte klebten am verwesten Fleisch. Ihr schwaches Leuchten pulsierte leicht. „Tatsächlich!“, sagte er erstaunt, wobei sein Atem Wolken bildete. Erst jetzt blickte Ifa auf die Temperaturanzeige im Helmdisplay. Knapp über null, ein richtiger Kühlschrank. Nicht, dass es im Rest des Schiffs viel wärmer gewesen wäre, aber das erklärte den einigermaßen guten Verwesungszustand.
„Was machen die hier?“, fragte sie dann nur.
„Das ist eine gute Frage. Eigentlich ernähren sie sich nicht auf fleischlicher Basis.“
„Sonderlich gewachsen sind sie auch nicht“, meinte Ifa und blickte die Leiche entlang. Viele lumineszierende Punkte klebten an den menschlichen Resten, doch kein Vergleich zu dem dichten Leuchten in den Röhren.
„Hier können sie auch kein Biotop aufbauen, es ist zu kalt. Wenn man den Leichnam in eine geschlossene Röhre legen würde, wäre er wahrscheinlich schon abgebaut.“
„Was immer noch nicht erklärt, warum die Luciferine überhaupt an dem Menschen kleben.“
Deniz holte aus einer schmalen Tasche des Taucheranzugs ein schmales Röhrchen. Während er eine Probe nahm, trat Ifa an der Liege vorbei und sah hinter den Sichtschirm auf die zweite Liege.
Vor ihr lag ein annähernd zwei Meter großes Wesen. Der obere Teil sah aus wie ein dunkelgrauer Beutel, an dem sich zwei Schlitze wie lange Nüstern entlangzogen. Am unteren Ende des Beutels ragten Tentakel hervor, zwischen denen dunkle Haut gespannt war. Fast, als hätte das Wesen eine Art Mantel. Die Tentakelenden ragten über die Liege hinaus, der Mantel führte nicht ganz bis zum Ende. Von der Taille der Kreatur hingen lange, gelbliche Fäden an den Seiten herab.
Deniz trat zu Ifa, als er sie erstarrt sehen sah und stieß ein langes „Wow“ aus. „Einen Kopffüßer dieser Art habe ich noch nie gesehen! Sie haben ihn seziert!“
Während Ifa weiterhin gebannt auf das Wesen starrte, zeigte Deniz auf den Beistelltisch. „Sie haben einen Tentakel abgenommen und den Hautmantel aufgeschnitten … diese Fäden könnten Sinnesorgane sein, wenn dieses Tier wie uns bekannte Arten funktioniert. Das Fleisch des Tentakels zeigt Kälteschäden.“
„Deniz“, meinte Ifa. „Sieh dir das mal an.“ Der Biologe folgte ihrem Wink. Sie zeigte auf eine Stelle am Körper des Kopffüßers, an der eine Art Hautklappe saß. An ihren Rändern klebte golden schimmernder Staub.
„Das sind keine Bakterien“, sagte Deniz nach einer Weile. „Die Partikel ähneln aber denen von PX 2.11.“
„Dann waren eines von diesen Wesen da draußen?!“
„So etwas kann unmöglich die Schotts gesprengt haben. Wir sollten in die Akte sehen.“
Ifa holte den Stationscomputer, dessen Akku natürlich schon längst leer war. Aber seine Festplatte konnte sie per Kabel mit ihrem Anzugcomputer verbinden. Die ersten Anzeigen erschienen sofort: Störung, Datenträger beschädigt. Versuche Wiederherstellung.
„Suche letzte Eintragungen“, sagte Ifa eilig. Es dauerte, bis die Daten ausreichend hergestellt waren. Solange blieb ihr Blick an dem großen Kopffüßer hängen. Deniz riss sich zusammen und nahm eine Probe der Luciferin-Bakterien von der Leiche. Dann erschienen die letzten Akten auf dem Display. Es war nicht gerade für Büroarbeit ausgelegt, aber für einen ersten Überblick reichte es ihr.
„Die vorletzte Akte ist mit NICHT-MENSCHLICH markiert. Es ist wenig erhalten geblieben … seltsam. Leitender Bio-Offizier Fuller schreibt, sie haben dieses Ding im Eis gefunden. Oder vielmehr unfreiwillig herausgebrochen als sie mit der Luzifer unter dem antarktischen Eisschild vorgedrungen sind. Es gibt einen erhaltenen Nachtrag zur Autopsie.“ Ifa wurde still.
„Was?“
„Eingedrungen in die eisfreie Tiefsee unter dem Eisschild. Strukturen in den subglazialen Höhlenwelten der Antarktis gefunden. Abbildungen nach der Art des vorliegenden Subjekts im Stein unter Eis gefunden. Aufgrund der Art und Weise ihrer Darstellung fuhr Kapitän Asp mit ihrer Benennung fort: Er nennt sie ‚Hüter‘.“
„Strukturen … Abbildungen?“, echote Deniz leise und sah zu dem Kopffüßer.
Eine Alarmmeldung leuchtete rot in Ifas Helmdisplay auf. Die Sensoren nahmen einen Druckanstieg wahr. „Irgendwo kommt Wasser rein. Schnell.“ Deniz‘ Augen weiteten sich und er schloss sofort das Visier seines Tauchhelms. Ifa lief zur Tür der Medizinstation und zog sie zu. „Hier drin müssten wir den Ansturm der Wassermassen aushalten können. Dann suchen wir einen Weg raus.“
„Daxton, hören Sie uns?“, rief Deniz durch den Funk. Die Antwort blieb aus. Ifa sah zu Deniz, er erwiderte ihren Blick mit aufgerissenen Augen. Ein Kribbeln zog sich über ihre Haut. Als spürte sie die Kälte schon, die gerade mit der Gewalt von tausend Tonnen Wasser durch das Schiff gejagt wurde. Dann kam das Rauschen. Sie blickten zur Röhre, mit der die Medizinstation verbunden war. Es wurde noch einmal dunkler, als das Licht der Luciferin-Bakterien im Wasser brach. Dann rauschte es heran, traf die Tür und schlug die gesamte Station nach hinten. Die Tür hielt nur einen Moment – lange genug, damit sich das Wasser einen anderen Weg suchte, die Plastikverankerung vom Metall wegriss und die Medizinstation nur noch an der Kugelhalterung hing. Die Massen umspülten den Plastikwürfel, warfen ihn hin und her – Ifa griff nach der verankerten Liege um sich festzuhalten, Deniz wurde an eine Wand geschleudert. Einen Moment lang war es stockdunkel. Mit einem lauten Kreischen sprang Metall aus der Fassung, dann platzte der Würfel. Ifa meinte die Leiche vor sich aufstehen zu sehen, dann wurde sie von der Liege weggerissen und im Wasserstrudel nach oben getragen, an die Decke des Würfels gepresst, der wiederum gegen die Decke der metallenen Ausschalung krachte. Während das Wasser die technische Gerätschaften zerdrückte und das tosende Rauschen auf ihr Trommelfell presste, zog sie Arme und Beine so eng an den Körper, wie sie konnte und hoffte, dass ihr Anzug hielt.
Das Wasser strömte in die Kammer, bis es sie vollständig ausgefüllt hatte. Das Metall der Luzifer hielt. Die Medizinstation war hoffnungslos zerstört. Ifa hing am zerrissenen Plastik, doch sie konnte sich freikämpfen. „Deniz?“ Sie schaltete den Schulterscheinwerfer an.
„Hier“, antwortete er über die Kommunikation und ein Lichtstrahl machte auf ihn aufmerksam. Er trieb ebenfalls an der Decke, reichlich Metallschrott schwamm nahe bei ihm. Ifa glitt zu ihm hinüber und stieß die zerstörten technischen Geräte zur Seite. Mit einem Ächzen kam Deniz frei. An seiner Seite hing noch das Impulsgewehr. Reflexartig griff Ifa nach dem ihren. „Scheiße. Ich habe mein Gewehr verloren.“
„Ich hab es gefunden“, sagte Deniz lakonisch und zeigte hinter sie. Sie drehte sich um und sah das verbogene Gewehr durchs Wasser treiben. „Immerhin ist es nicht losgegangen.“ Ifa fischte es und nahm die Munition heraus. Dabei war sie darauf bedacht, nicht die Kavitatoren abzubrechen – kleine Aufsätze vorne an den Ampullenpatronen, die durch die hohe Geschwindigkeit beim Abschuss eine Art Windschatten für die größeren Geschosse erzeugten. Sie drückte Deniz die Munition in die Hand. „Wer weiß, was hier noch herumschwimmt.“
Sie klinkten die Schwimmflossen wieder an und schoben sich an den herumtreibenden Teilen der Medizinstation vorbei in die Röhre. Sie war, wie wahrscheinlicher der Rest des Schiffs, nun vollständig durchflutet. Von den Leichen sahen sie nichts mehr.
„Daxton, hören Sie uns? Hier Kent, erbitte dringend Antwort. Wassereinbruch in der Luzifer, keine Schäden. Kehren zurück zur Umi.“
Ifa blickte zu den Luciferin-Bakterienröhren hoch, deren Schutzabdeckung hochgeklappt war. „Irgendetwas erzeugt hier Energie.“ Deniz folgte ihrem Blick, sah dann in Richtung Brücke hinter sich, die weiterhin abgeriegelt war. „Machen wir, dass wir hier herauskommen.“
Sie glitten durch das trübe Wasser in der Hauptröhre zurück. Das Licht der Schulterscheinwerfer kämpfte sich seinen Weg durch die Dunkelheit, die mit einzelnen Schrotteilen und herangespültem Dreck und Meeresschnee angefüllt war. Schließlich fiel das Licht auf die Stelle, an der sie vor einer halben Stunde heraufgekommen waren. Sie lag noch etwa dreißig Meter vor ihnen, als Ifa noch einmal aufsah und weiter die Röhre entlangblickte. Zwischen metallenen Bruchstücken, die das Wasser auf seinem Weg durchs Schiff weggerissen haben musste und wie Staub in einer alten Wohnung herumschwebenden Meeresschnees, sah sie einen Schemen, etwa menschengroß, doch mehr als zweimal so breit.
„Kent“, hauchte sie durchs Mikro. „Siehst du das?“
Deniz hielt neben ihr an und hob die linke Hand, Zeigefinger und Daumen zum „Ja“ verbunden. Dann packte er das Impulsgewehr. Der Schemen kam näher. Reflexartig schlug Ifa mit den Flossen und stieß sich zurück. Deniz hob das Gewehr, im Licht seiner Schulterlampe erkannte Ifa dann mehr. Es war ein Lebewesen. Die Haut war kupferrot, das obere Ende trieb voran, von zwei Flossen getrieben. Vorne zogen sich zwei Schlitze beinah einen halben Meter entlang, an den Seiten saßen in leichten Vertiefungen zwei hellblau leuchtende Kugeln – sie erinnerten Ifa an einen wolkenlosen Himmel, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Der untere Teil der Kreatur lief in Tentakeln aus – in Bewegung wirkte der Hautmantel zwischen ihnen noch viel mehr wie eine wogende Robe.
„Ein Kopffüßer wie derjenige, den sie seziert haben“, sagte Deniz mit zitternder Stimme. „Einer, den sie ‚Hüter‘ genannt haben!“
Das Wesen war mittlerweile auf fünfzehn Meter heran. Trotz seines Staunens hielt Deniz das Impulsgewehr oben. Zehn Meter. Die blauen Kugeln an der Seite des Tiers rotierten in ihren Vertiefungen. An der Taille zwischen Kopf und Tentakeln hingen mehrere gelbliche Fäden, die durchs Wasser glitten und die herumschwebenden Teile abzutasten schienen. Der Kopffüßer überwand mit dem nächsten Schlag seiner Flossen zwei weitere Meter.
„Rückzug“, sagte Deniz. „In der Kammer der Medizinstation können wir besser ausweichen.“ Ifa folgte dem Kommando flossenschlagend, er trieb ihr nach, Kopf und Gewehr nach vorne gerichtet.
Das Wesen schlug mit Flossen und Tentakeln zugleich, machte einen Satz von acht Metern. Die Tastfäden zuckten über Deniz hinweg, die Tentakel klappten hoch – er drückte ab. Aus dem Gewehr schoss eine Ampulle, die auf der Haut des Kopffüßers zerbrach, es gab Funken, dann einen gleißenden, roten Lichtblitz. Das Wesen zuckte zurück, das Scheinwerferlicht zeigte eine große Brandwunde am Kopf. Deniz schlug mit den Flossen. Am Körper des Kopffüßers klappten an mehreren Stellen Hautdeckel auf. Aus mehr als einem halben Dutzend Öffnungen schossen leuchtende Partikel in den Gang. Geblendet wandte Ifa die Augen ab. „Aktiviere Fledermaus.“
In einer Welt aus grauen Konturen sah sie, wie Deniz sich aus den Fäden des Wesens herauswand und davonstieß. Er hatte ebenfalls die Fledermaus aktiviert. „Wir müssen versuchen, an ihm vorbeizukommen!“, rief er ihr durch die Kommunikation zu. Der Kopffüßer hatte sich herumgedreht, machte aber keine Anstalten, wegen eines Treffers die Flucht anzutreten. Deniz schoss erneut, die Ampulle traf den Rücken des Wesens – und prallte ab. Sie schlug schräg oben in Röhre der Luciferin-Bakterien ein. Die chemische Reaktion riss ein großes Loch in Schutzabdeckung und Röhre. Bakterienstämme regneten in den Gang. Was eigentlich ein Funkenregen wäre, wirkte durch die Fledermaus wie Schneefall, der an dem Kopffüßer und Deniz hängen blieb. Das Wesen zuckte sichtbar zusammen, dann schoss es mit Schlägen der Flossen und des Tentakelmantels den Gang entlang. Binnen weniger Sekunden war es außer Sicht.
„Das scheint ihm nicht gefallen zu haben“, sagte Deniz und strich über die Bakterienklumpen auf seinem Anzug. Durch die Fledermaus war nicht viel vom Ergebnis zu sehen, aber eher verrieb er sie, als sie loszuwerden.
„Das war also einer dieser Hüter. Freundlich sind sie ja nicht“, sagte Ifa und schwamm an Deniz vorbei den Tunnel nach unten. Er folgte ihr rasch und lud währenddessen das Impulsgewehr nach. „In der Aufzeichnung war von Abbildungen die Rede … wann begann sich noch gleich das Eisschild um die Antarktis zu bilden, Deniz?“, fragte Ifa.
Sein Schlucken war selbst durch den Funk deutlich hörbar. „Auf jeden Fall lange vor dem Menschen.“
Im Mittelgang angekommen sahen sie, dass die Schotts hochgefahren wurden. Die Wege waren frei. „Weiter runter“, trieb Ifa an und schwamm mit Deniz ihre Route zurück. Auf der untersten Ebene angekommen glitten sie auf die Taucherkabinen zu, als die Fledermaus einen weiteren Kopffüßer ausmachte. Ein großer, vielbeiniger Schemen, der ihnen den Weg versperrte. Deniz hob das Impulsgewehr, als sich der Kopffüßer wie ein schlagendes Herz ruckartig zusammenzog und dann pumpte. Seine Umrisse verschwammen in einem Nebel aus Schallwellen, die den Gang ausfüllten – dann fuhr das Schott vor dem Wesen zusammen.
„Was ist da passiert?“, fragte Deniz ungläubig.
„Irgendwie hat diese Kreatur das Schott geschlossen. Es hat Signale ausgesendet … die es aktiviert haben müssen.“
„Kein Tier kann so etwas. Kein Mensch kann so etwas ohne die technischen Hilfsmittel. Das Wesen hätte einen perfekten Energieimpuls setzen müssen!“
„Deniz …“, begann Ifa. Er drehte sich zu ihr, auch wenn sie beide aktuell gesichtslose Wesen waren. „Ich glaube, diese Wesen sind intelligent.“
Einen Moment lang schwiegen beide. Ifa rauschten Fragen durch den Kopf, bis Deniz‘ Husten sie zurück in die Gegenwart holte. „Wir brauchen einen Plan“, sagte er, nachdem er sich beruhigt hatte. „Wir haben nur noch für ungefähr eine Stunde Luft und wie es aussieht, haben diese Wesen die Kontrolle darüber, wer hier rein- und rauskommt.“
„Wir brauchen Kontrolle über die Schotts. Oder Sprengstoff.“
„Empfehle ersteres. Die Brücke ist abgeriegelt.“
„Rufe Plan der Voyager auf“, sagte Ifa. Die Anzeige der Fledermaus wurde in die Ecke des Displays gedrängt und das Schiff der Frontier-Klasse tauchte vor ihr auf. „Suche nach technischen Wartungs- oder Kontrollräumen.“
In der Darstellung wurde ein Raum rot unterlegt, am hinteren Ende des Schiffes. Generatorraum/Notfallsteuerung. „An Deniz Kent spiegeln“, sagte Ifa und teilte so ihr Bild. „Das sieht nach einem Treffer aus.“
„Dann los.“
Mit schnellen, regelmäßigen Schlägen ihrer Fußflossen schwammen sie den Gang entlang. Ifa hatte die Karte der Voyager in der oberen Bildschirmecke und lotste sie den Weg entlang. Deniz hielt das Impulsgewehr in der Hand und behielt die Umgebung im Auge. Sie schwebten durch die grabesschwarze Dunkelheit von fünftausend Metern unter dem Wasser in einer riesigen metallenen Hülle.
Die Hälfte des Weges war geschafft, als Deniz erneut zu husten begann. Kaum mehr als ein halbherziges Keuchen wie bei tief sitzendem Schleim.
„Alles in Ordnung?“
„Ich weiß nicht, ich glaube, meine Luft ist nicht mehr so gut“, sagte Deniz.
„Du warst schon Monate nicht mehr auf einer so langen Außenmission, das bildest du dir ein. Einfach weiteratmen, dann geht das seltsame Gefühl weg.“
Ifa nahm ein leichtes Nicken wahr und sie schwammen weiter. Ihr Weg wurde von keinen Schotts mehr versperrt. Abgehende Türen waren durch die Wassermassen zerschmettert und die Einrichtungen der dahinterliegenden Mannschaftsräume, Labore und eine Küche in handliche Metallsplitter zerlegt worden. Die großartige Ausstattung des ersten Schiffs der Frontier-Klasse war zerstört – der Prototyp einer Revolution der menschlichen Erschließung der Tiefsee nur noch eine Hülle.
Der Weg zum Generatorraum führte im letzten Drittel des Schiffs auf eine tiefere Unterebene. Ifa und Deniz glitten die Gangröhre hinab, die sich weiter verengte, sodass hier nur ein gebücktes Gehen möglich wäre. Es waren noch etwa dreißig Meter bis zum Ende des Gangs, als sich neben Ifa etwas so schnell bewegte, dass es nur als grauer Schemen durch ihr Bild flackerte. Sie spürte Druck auf ihrem rechten Bein und sah nach unten. Ein aalartiges Wesen von der Dicke einer Würgeschlange packte ihren Knöchel und zog sich langsam um das Bein nach oben. Sein Körper hing größtenteils noch eng an die Wand gepresst – das Tier musste mindestens fünf Meter lang sein.
„Deniz! Schieß!“, brüllte Ifa durch die Kommunikation. Der Biologe wirbelte herum, sah den Aal, der sich an ihr Bein klammerte. Er schoss mitten in das Knäuel an der Wand, eine Explosion verzerrte die Darstellung der Fledermaus. Die Kreatur zuckte zusammen, der Druck um Ifas Fußgelenk steigerte sich – ein Knacken. Eine wellenartige Bewegung ging durch den Körper des Aals, sie wurde davon geschleudert. Ihr Display erlosch.
Als nächstes spürte sie den Aufprall an der Wand. Dann hing sie in der Dunkelheit ihres Anzugs fest. Die Schutzklappe vor dem Visier war noch zu, doch die Fledermaus produzierte keine Bilder mehr. „Deniz, ich habe einen Energieausfall.“ Ihre Stimme hallte blechern im Anzug wider. Sie konnte nichts sehen. Vorsichtig griff sie hinter sich, spürte keinen Widerstand. Sie musste irgendwo mitten im Gang treiben, kopfüber, wer wusste das schon. Vielleicht war sie auch ohnmächtig geworden und sie war ganz woanders. Atmen. Ruhig bleiben. Es würde schon irgendetwas passieren. Sie schlug mit Armen und Beinen in alle Richtungen aus – traf eine Wand und stieß sich unfreiwillig ab, trieb planlos durch den Raum.
Mit einem Flackern meldete sich das Display zurück. Die Fledermaus nahm ihren Dienst wieder auf, Ifas Umgebungswahrnehmung kehrte zurück. Sie war zurückgetrieben, vor ihr glitt der Aal durch den Gang, auf der anderen Seite war Deniz, dessen Funk wieder bei ihr ankam: „…dammt, Ifa! Melde dich!“
„Deniz, hier Ifa.“
Er atmete auf. „Ich schieße noch einmal, dann machst du einen Schub, verstanden?“
Schon traf die nächste Ampulle den riesigen Aal und zerplatzte in einer chemischen Wolke. Das Tier zuckte zusammen. „Schub geben, Code Xi3“, gab Ifa Kommando. Während sie sich nach vorne neigte, gab der Anzug einen Teil des kostbaren Luftgemischs nach außen ab – sie wurde nach vorne katapultiert, schob sich an dem Aal vorbei, der mit Verbrennungen und Verätzungen übersät war.
Ifa schoss an Deniz vorbei den Gang entlang, dann ließ der Schub bereits nach. Fünf Minuten Atem dahin. „Fledermaus ausschalten.“ Die 3D-Darstellung erlosch und das Schutzvisier fuhr auf. Im Gegenzug klappte der Schulterscheinwerfer wieder aus. Ifa sah zurück zu Deniz, der noch eine weitere Ampulle in den in sich verschlungenen Aal abfeuerte, der nun endgültig die Flucht ergriff. Dann erst wandte er sich zu ihr und schwamm auf sie zu. Er atmete hörbar schwer durch den Kommunikator.
„Gute Arbeit, Deniz.“
„Was war da los?“, fragte er. „Plötzlich war dein Funk stumm. Ich dachte schon …“
„Der Aal muss mir einen elektrischen Impuls verpasst haben. Die Fledermaus war ausgefallen. Die gesamte Elektronik.“
Deniz zog zischend Luft ein. „Gut, dass die Anzüge einiges aushalten.“
„Die Frage ist, wie lange noch.“ Ifa blickte ihr rechtes Bein herunter. Der Aal hatte die Flosse weggerissen, Kerben zogen sich über die Oberfläche des Karbongeflechts. Von den Schmerzen im Knöchel zu schweigen.
Deniz beendete ebenfalls die Fledermaus und stieß sofort ein erstauntes „Sieh!“ aus. Ifa wandte sich um und blickte in den Generatorraum vor ihnen – er war hell erleuchtet.
Was auf Abstand mit der Fledermaus nicht genau zu erkennen war, entpuppte sich als großes Chaos. Der hintere Teil des Raumes wurde vom Zugang zum Generator und Schiffsmotor beherrscht, der mit zentimeterdicken Metallplatten geschützt war, die selbst den Wassereinbruch überstanden hatten. Aus diesem Konstrukt führten dicke Rohre an der Wand entlang zu den Behältern für die Luciferin-Bakterien und von hier aus durch das gesamte Schiff. Die versorgenden Abgase blieben jedoch aus, der Motor stand still. Die Behälter für die Luciferin-Bakterien waren aufgebrochen und wie eine Decke hatten sie sich über den halben Generatorraum gelegt. Unter ihnen angehäuft, zu großen Teilen zerfallen, verwest, untrennbar ineinander verschlungen lagen dutzende, menschliche Körper. Von den Bakterien durchsetzt, lieferten sie die Energie und damit das Licht in der Tiefe des Meeres. Die ehemalige Besatzung der Luzifer.
Deniz würgte, während Ifas Blick von einer Leiche eingefangen wurde. Ihr Brustkorb stand offen, die Bakterien blühten darin wie eine goldene Blume, die ihre Wurzeln durch den gesamten Körper geschlagen hatte. Der Schädel hing noch lose am Körper, schwankte leicht im Wasser, das durch ihre Ankunft in Wallung geraten war. Zwischen den Knochen lag das Licht der Luciferine.
Das Würgen ging in ein Husten über, dann hörte Ifa, wie er ausspuckte. Sie sah zu ihm, der sich in diesem Moment aus seiner gekrümmten Haltung aufrichtete und sie seinerseits ansah. An der Innenseite seiner Helmscheibe klebten Speichel und Blutstropfen. „Deniz?“
„Mir geht es nicht so gut, Ifa“, keuchte er, während er im Wasser hing wie eine unbespielte Marionette. Beim Sprechen sah sie ein Funkeln zwischen seinen Zähnen.
„Deniz, mach den Mund auf.“ Sie schwamm näher an ihn heran und hielt seinen Helm fest. Selbst durch das trübe Wasser sah sie, dass er blass war, folgte aber ihrer Anweisung. Aus der hinteren Ecke seines Mundraumes funkelte sie ein pulsierendes Licht an. Aus den Nasenlöchern ebenfalls.
„Luciferin-Bakterien haben sich in deinem Mund festgesetzt.“
Deniz weitete die Augen.
„Wir werden es schnell hier raus schaffen und dann wirst du einen schönen antibakteriellen Cocktail gurgeln, ja?“, setzte Ifa nach. Sein Helm saß wie in einem Schraubstock zwischen ihren Händen, aber sein Kopf nickte unter ihrem festen Blick. Erst dann ließ sie ihn los.
„Es muss vorhin passiert sein, als ich den Helm geöffnet habe … aber ich habe diese Bakterien studiert, den ganzen Weg ihres genetischen Designs. Sie waren nie dafür ausgelegt, so zu arbeiten. Anpassungsfähig, ja, aber so weit …“
„Dieses Wesen konnte mit seinem Körper eine komplexe elektrische Steuerung aktivieren.“
„Vielleicht haben sie die Bakterien weiterentwickelt … aber warum?“ Deniz blickte auf den Leichenberg, der noch immer vor ihnen lag.
„Sie müssen uns hassen.“
„Oder wir sind für sie nicht mehr als Mäuse. Für diese Hüter. Hüter von was eigentlich?“
„Das ist jetzt egal.“ Ifa presste kurz fest die Augen zusammen, ehe sie an dem leuchtenden Leichenberg vorbeischwamm. An der Seite des Generatorraums befand sich der Zugang zu einem weiteren Gerät, das durch dicke Metallplatten geschützt wurde. Immer wieder einen kurzen Husten ausstoßend, folgte Deniz ihr.
„Das müsste das Notstromaggregat sein. Wenn wir viel Glück haben, sind die Akkus unbeschädigt und wir bekommen genug Energie, um alle Schotts zu öffnen. Dann sind wir hier raus, bevor uns diese Kreaturen in Lampen verwandeln können.“ An der Seite der Apparatur war ein massiver Hebel angebracht. Ifa umschloss ihn mit beiden Händen und zog kräftig, während sie mit den Beinen gegen die Metallplatten drückte. Sie konnte kaum etwas bewegen. Deniz kam hinzu, packte mit an und sie drückten so sehr gegen den Hebel, wie sie konnten. Im Wasser war es schwer, das gesamte Gewicht in etwas zu legen – doch die Steuerung spielte mit. Der Hebel löste sich aus seiner Starre und bewegte sich in einem Ruck nach unten. Ifa und Deniz trieben ein Stück weg, während der kleine Display der Apparatur mit einem roten Hintergrundleuchten ansprang.
Ifa stieß sich sofort vom Boden weg und packte den Haltegriff am Notstromaggregat. Neben dem Display lagen einige Knöpfe unter Weichplastik, das sie zugänglich hielt, aber vor Wasser schützte. Befehle von hier vergeben > Schottsteuerung > Alle Schotts > Schotts öffnen. Bestätigen. Ja.
Sie meinte zu spüren, wie der Generator unter ihrer Eingabe surrte, auch wenn das Einbildung war. Aber ihr Helmdisplay zeigte kleine Druckunterschiede an. „Der Weg muss frei sein.“
„Aber sie können ihn auch wieder schnell verschließen“, sagte Deniz. Er hustete erneut. „Irgendwo muss es eine Beschädigung an der Außenhülle geben, vielleicht ist die unsere beste Chance.“
Statusanfrage > Schadensmeldungen > Chronik. Die Anzeige lieferte nichts, was über gewöhnliche Schrammen zu Beginn der Reise vor zehn Jahren hinausging. „Es sind keine Schadensmeldungen eingetragen. Falls es irgendwo ein Leck gibt, konnten es die Systeme nicht mehr erfassen.“
„Diese Wesen müssen hier eingedrungen sein. Anders kann ich mir das nicht erklären“, sagte Deniz. „Ich könnte hier bleiben und die Schotts wieder öffnen, falls diese Wesen sie vor deiner Nase schließen.“ Deniz sprach halblaut, fast mehr zu sich, als zu Ifa. Beim Reden leuchteten die Bakterien zwischen seinen Zähnen auf. Dass er unruhig mit der Zunge im Mundraum herumfuhr, änderte daran nichts.
„Schwachsinn, deinen Heldentod musst du noch aufschieben. Wie viele Ampullen hast du noch?“
„Deine fünf“, sagte Deniz wieder etwas lauter.
„Schieß auf die Bakterienröhren, wenn du eine dieser Kreaturen siehst. Was uns befällt, scheint einem von ihnen vorhin auch nicht gefallen zu haben. Wir schlagen sie in die Flucht, schwimmen raus zur Umi und verschwinden von hier. Klar?“ Sie drückte Deniz‘ Schulter.
Er nickte ohne sie anzusehen und sie schwammen los.
Sie glitten zurück bis zum Gang, an den die Taucherkabine angrenzte. Es waren noch etwa fünfzig Meter bis zur Freiheit. Das Licht ihrer Schulterscheinwerfer ruckte den Gang entlang, erhellte schwebenden Meeresschnee und Metallteile. Am Rande der Pegel lagen die Schatten und die Dunkelheit innerhalb der Luzifer, die Bakterien waren hinter den Schutzklappen versteckt. In dieser Dunkelheit machte Ifa zwei große Schemen aus. „Fledermaus aktivieren.“
Deniz folgte ihrem Beispiel. In vierzig Metern erkannten sie zwei große Kopffüßer. Sie schwebten nahe beieinander, ihre Tastfäden glitten übereinander.
„Ich glaube, das könnte ihre Art zu kommunizieren sein!“, sagte Deniz.
„Egal, schieß! Schnell!“
Die Ampulle surrte durch das Wasser und traf die Bakterienröhre oberhalb der beiden Wesen. Über die Fledermaus sah Ifa eine kurze Blase im Wasser, dann regneten die Luciferin-Bakterien in den Gang. Im nächsten Moment zog sich eines der Wesen schnell zusammen, blähte sich auf – und stieß das andere meterweit nach hinten. Der Bakterienregen ging auf es nieder und bedeckte seinen ganzen Körper.
Ifa und Deniz gaben einen Schub und katapultierten sich durch den Regen auf die Taucherkabine zu. Sie schossen dicht an dem Kopffüßer vorbei, der mit seinen Tentakeln wild um sich her schlug, dann glitten sie durch die Öffnung in die Kammer. Die Röhren waren noch geschlossen. Ifa schlug mit ihrer verbliebenen Flosse, um sich schnell voranzubringen. Sie stießen beide gegen das Metall, suchten die großen, in einer anderen Visualisierung roten, Knöpfe für die Notöffnung. Da umspülte sie ein Partikelregen vom Eingang. Der zweite Kopffüßer hatte sich in den Raum geschoben und seinen Funkenregen versprüht.
Es glitt auf Ifa zu, die am nächsten war. Deniz schoss, traf aber nur den Rücken der Kreatur. Die Ampulle prallte ab, traf einen in der Ecke hängen Tauchanzug und schmolz das Plastik. Das Wesen war nur noch zwei Meter von Ifa entfernt und griff mit seinen Tentakeln nach ihr.
Deniz drehte sich auf den Rücken und stieß sich von der Metallwand ab. Mit dem Gewehr in der Hand glitt er über den Boden der Kammer – und unter dem Kopffüßer hindurch. Zwischen den Tentakeln, an denen er nun Widerhaken statt Saugnäpfen sah, ragte ein dreiteiliger Schnabel hervor. Deniz drückte ab, die Kreatur war nur wenige Zentimeter über ihm, der Schnabel etwa einen Meter. Die Ampulle schoss durchs Wasser, er glitt weiter.
Die chemische Reaktion riss drei Tentakel in Stücke, der Hautmantel zwischen ihnen wurde aufgerissen. Deniz erhaschte einen Blick auf den Schnabel, dessen Enden weggeätzt wurden. „Ifa, schwimm!“
Der Kopffüßer drehte sich ihm zu. Ifa drückte den roten Knopf, die Metallabdeckung schob sich auf. Wasser flutete in die Röhre und drückte sie mit sich. Innen drückte sie den nächsten Notfallknopf, um die Abdeckung wieder zu schließen und den Ausstieg einzuleiten. „Deniz! Status!“
Sie spürte eine seltsame Druckwelle, die ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Ihre Systeme fielen aus. Mit den Fäusten hämmerte sie, gedämmt durch das Wasser, auf die Metallwand und rief weiter. Die Luke öffnete sich indes wie befohlen und ein Luftstoß schoss sie nach außen.
Ifa trieb von der Luzifer weg. Starr blickte sie zu den weiteren Luken. Keine öffnete sich.
Mit der verbliebenen Flosse trieb sie sich schließlich langsam von dem Schiff weg. Das Leuchten der Luciferin-Stämme, getragen vom Tod der gesamten Besatzung, erhellte die Tiefsee. Nur langsam konnte Ifa den Kopf von der Luzifer abwenden und sah dorthin, wo sie die Umi verlassen hatten. Das Schiff war von einer Wolke aus Funkenregen umgeben. Mehr als ein Dutzend Kopffüßer schwebten um es herum. Das Schiff war verloren.
Ifa hörte auf mit der Flosse zu schlagen. In ihrem technisch ausgefallenen Anzug trieb sie weg und wandte ihre Augen wieder der Luzifer zu. Ein Ruck ging durch das Schiff. Es setzte sich in Bewegung.
Sie können sie steuern.