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Lichter im Staub
Risse zogen sich durch Toms Blickfeld. Er konnte nicht sagen, ob es der aufgebrochene Lehmboden am Rande des Highways war, die gesprungene Windschutzscheibe oder die geplatzten Äderchen im Inneren seiner Augen.
Er hatte Durst. Seine Zunge klebte am Gaumen wie eine Echse an der Trockenmauer.
Die Hände waschen, das Gesicht bespritzen, den Kopf unter fließendes Wasser halten.
Ein eisgekühltes Bier trinken ...
Falls jemals wieder ein Kaff aus diesem Nichts auftauchte, würde Tom dort eine Rast einlegen und seinen Wasservorrat auffrischen. Den letzten Truck Stop hatte er Hals über Kopf verlassen, nachdem ein Streifenwagen auf den Parkplatz eingebogen war. Niemanden ging es etwas an, was Tom zwischen der Ladung verstaut hatte – weder die Jungs in der Spedition, noch seinen Boss, und schon gar keinen verpickelten Provinzcop.
Die Sonne hing über dem Ende der Straße wie ein glühendes Stoppschild.
Seit hunderten Meilen nichts als Sand, Staub, Sand und Staub, plattgefahrene Armadillos, windschiefe Bäume – Nester in den dürren Zweigen wie Knoten in filzigem Haar. Und immer wieder Kakteen, Kakteen, Kakteen – obskure Gewächse, die den Wegesrand säumten wie Marterpfähle.
Tom strich sich die Haare aus der Stirn, sammelte Speichel im Mund, fuhr mit der Zunge über die Zähne; versuchte den Schleim zu entfernen, der sich darauf gebildet hatte. Gebannt starrte er auf die Schweißperlen an seinem Handgelenk, die im Rhythmus der Bodenwellen vibrierten wie die aufsteigenden Perlen in einem frisch gezapften Bud … So würde es sein, wenn er diese Wüstentour hinter sich hatte – genau so würde es danach für immer sein: Tom auf der Veranda, Tom im Schaukelstuhl, Tom mit einem Bier in der Hand und Tom mit einer Frau neben sich, die ihm die nächste Flasche aus dem Kühlschrank holte.
Ein Schwarm Krähen flatterte auf und landete wieder – ölig glänzende Kreaturen, die über den Boden stolzierten wie zerstrittene Trauergäste.
Allmählich häuften sich die Zeichen der Zivilisation.
Ein verbeulter Wegweiser. Umzäuntes Brachland. Eine Werbetafel.
Ein rostzerfressener Chevy, dessen Kühlergrill in den Himmel grinste wie der Schädel eines verwesten Kojoten.
Und schließlich, weit vorne im Staub, die flirrenden Umrisse einer Ortschaft.
Als ob die Sonne versucht, diese Häuser mit ihrer heißen, flachen Hand in den Boden zu pressen, dachte Tom.
Tom drosselte das Tempo. Der Truck rollte entlang der Main Street, vorbei an gedrungenen Lehmbauten mit schiefen Arkaden und vergitterten Türen. Keine Bar, kein Motel, kein Leben. Nur ein mageres Huhn und ein schmalbrüstiger Typ, der mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick über die Straße schlurfte.
Was, zur Hölle, dachte Tom, aber dann entdeckte er auf der Veranda des Hauses direkt vor sich eine Silhouette im Abendlicht. Wallendes Haar und üppige Proportionen, die rechte Hand zum Winken leicht erhoben.
Für einen Moment fragte er sich, warum sie ihm bekannt vorkam.
Sie erinnerte ihn an diese Frau im gelben Kleid, die er im Straßengewimmel von Fogarty Bay gesehen hatte – mit ausladenden Hüften und verpixeltem Gesicht. Wie so oft, wenn er keinen Auftrag hatte und alleine in seinem Drecksloch saß, war er mit Google-Street-View durch die Straßen kleiner Küstenstädte gefahren. Orten mit Kinos, Shops und Bars, mit klimatisierten Häusern – Pools hinten im Garten und schattigen Veranden zur Straße hin. Ein behaglicher Schaukelstuhl, ein klackender Ventilator, eine hingebungsvolle Frau – war das zu viel verlangt? Nein, genau das stand auch Tom zu, und genau das würde eines Tages auch sein Leben sein!
Er war um Häuserecken gebogen, hatte die Richtung gewechselt, sich dicht herangezoomt an geöffnete Fenster und die Tore nobler Anwesen; hatte die Tafeln studiert vor Cassidy's Tavern (Oakshire Amber Ale $7.50) und Sharks Seafood Bar (Shrimp Sandwich $8.25), und direkt neben Fargo's Oyster House hatte die Frau im gelben Kleid gestanden und so ausgesehen, als wartete sie dort auf niemand anderen als auf Tom.
„Na, junger Mann, alles in Ordnung bei Ihnen?“, rief ihm die Lady von der Veranda zu, neben der er den Truck inzwischen zum Stehen gebracht hatte.
„Oh, hallo ...!“, sagte Tom, schaltete den Motor ab und strich sich mit beiden Händen die Haare nach hinten. „Ja, danke, alles klar.“
„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte die Frau. „Ist nämlich ausgesprochen selten, dass hier mal einer Pause macht. Willkommen im Paradies!“ Ihr Lachen erinnerte Tom an den Klang sanft gezupfter Gitarrensaiten.
„Oh, ja – es ist wirklich sehr … nett hier“, sagte er mit einem breitem und, wie er hoffte, einnehmenden Grinsen. Junger Mann – eine freundliche Untertreibung, die er kommentarlos stehenließ. Die Wärme, die ihn durchströmte, hatte nichts zu tun mit der lähmenden Hitze über dem Land.
„Ich frag' mich, ob ich wohl 'ne Chance habe, hier was zu trinken zu kriegen? Und 'n paar Flaschen Wasser für unterwegs?“
Die Frau lächelte betrübt, blickte hinter sich ins Innere des Hauses und dann hinüber auf die andere Straßenseite. „Schwierig“, sagte sie leise. „Mit Wasser sieht's hier ganz übel aus. Aber der alte Misbeck drüben in seinem Laden, der verkauft manchmal welches.“ Sie verzog den Mund und deutete mit dem Kopf in Richtung eines Gebäudes, das als einziges ein Spitzdach hatte.
„Aber, kommen Sie, was soll's – ein kleines Glas Wasser hätt' ich schon für Sie. Und 'nen Sundowner zum Nachspülen, wenn Sie mögen. Schnaps haben wir hier ja genug!“ Dunkle Locken, Gitarrenlachen, tiefes Dekolleté. Tom sprang aus der Fahrerkabine, eilte die Stufen zur Veranda hinauf, versank in einem knarrenden Schaukelstuhl, ließ kühles Wasser seine Kehle hinunterrinnen und bekam das leere Glas umgehend mit Kaktusschnaps nachgefüllt.
„Kannst mich Sal nennen, junger Mann. Cheers!“
„Cheers! Freut mich, Sal, ich bin Tom.“
Er streckte die Beine aus, schaukelte vor und zurück und lauschte dem melodischen Schwingen der Wörter, die aus Sals Mund perlten. Der Schnaps war gut und Sal schenkte großzügig nach.
Bald war die Sonne nur noch eine verstaubte Fratze am Himmel, die langsam zu Boden trudelte.
Sal erzählte von den Nachbarn im Dorf, von den Kakteenfeldern, auf denen die meisten arbeiteten, und von der Hitze, die alles austrocknete. Von kaputten Autos, einem versiegten Brunnen und vom alten Misbeck – einem elenden Blutsauger, der den Leuten selbst „das Grüne aus den verrotzten Nasen ihrer verblödeten Brut“ nicht gönnte. Sie zerteilte ein Solei in zwei Hälften, lachte trotzig und sagte, so wäre es aber nun mal, und dass das Leben sowieso immer nur so sei, wie es eben sei – und Tom sagte, ja, wie es eben sei –, und er genoss das Schaukeln und den Schnaps und das halbe Ei und die Anwesenheit dieser mütterlichen Frau; den Blick auf ihren mütterlichen Busen und die Vorstellung, dass ..., aber dann stand plötzlich jemand vor Sals Veranda und flüsterte mit rauer Stimme: „He.“ Es war der schmalbrüstige Bursche von vorhin: ein Typ Mitte Zwanzig, mit schiefen Zähnen und unstetem Blick. „He, Sal, hast du vielleicht nochmal 'n bisschen Wasser für mich? Weißt ja, kriegste wieder, irgendwann, nur jetzt grad ... weißt ja ... “ Er hustete, blickte zu Boden und rieb sich die Schienbeine.
„Tut mir leid, Roy.“ Sal schloss die Augen und nippte an ihrem Glas. „Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt. Und davor auch. Und das Mal davor. Und irgendwann ist eben Schluss. Musst du halt sehen. Jedenfalls gibt's hier nichts mehr, Roy, sorry.“
„Hm“, machte der Typ und zog den Schirm seiner Kappe tief ins Gesicht. „Na dann ... Du mich auch, Sal!“ Er spuckte aus, und während er durch den Staub davonschlurfte, streckte er beide Mittelfinger in die Höhe.
Sal schüttelte den Kopf und machte einen Schmollmund. „Na ja, ist schon traurig mit dem armen Roy. Wo jetzt auch noch sein Pa tot ist ... Und wie der alte Misbeck mit dem umspringt, echt mal. Ein dreckiges Blutsaugerschwein ist das, der Alte, dem gehört der faltige Hals umgedreht. Aber, na ja, das Leben ist nun mal so ...“
„… wiesebeniss!“, sagte Tom, wippte nach vorne und versuchte dabei, sein Schnapsglas an die richtige Stelle im Gesicht zu führen. Sals Hand lag auf seinem Oberschenkel, und je mehr er zurück schaukelte, destso höher rutschte sie, und für einen kurzen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er es wäre, der dem Blutsaugerschwein den faltigen Hals ... Tom: King of the Road, ein gnadenloser Rächer, der eigens in dieses Dreckskaff geritten war, um den Tyrannen …, und zur Belohnung würde er hier für den Rest seines Lebens mit dieser schönen Frau auf der Veranda und nachts zwischen den kühlen Laken im Inneren des Hauses ...
Im Inneren des Hauses fing es im gleichen Moment an zu krachen und zu scheppern.
Sal seufzte. Nahm die Hand von Toms Bein, verdrehte die Augen und sagte, verdammter Mist, aber jetzt sei wohl ihr Mann aufgewacht – Herm, dieser „scheißbesoffene Idiot", und dass sie bald keine Möbel mehr hätten, wenn der so weiter machte, so eifersüchtig, wie der immer sei … Und dass es besser wäre, wenn Tom jetzt verschwinden würde.
Tom sprang auf. Schüttelte sich wie ein nasser Hund. Versuchte, die Trägheit, die Geilheit und den Suff aus seinen Gliedern zu vertreiben, und als der Lärm bereits auf der Veranda angelangt war, schwang er sich über die Brüstung hinunter auf die Straße. Holz zersplitterte. Glas zerbrach. Über ihm schleuderten sich Herm und Sal stinkende Flüche entgegen. Der Klang von Sals Stimme – vorher weich und melodisch – jetzt verzerrt zu schrillem Gekreische.
Tom stand auf, klopfte sich den Dreck von Knien und Handflächen und schaute sich um.
Der Himmel war schwarz, der Mond eine scharfe Sichel und kalt das Licht der Sterne.
Jetzt, wo der Schreck ihn ernüchtert hatte, fragte er sich, was zur Hölle mit ihm los gewesen war: Hatte er nicht gesehen, dass Sal in Wirklichkeit eine aufgedunsene, herzlose, versoffene Hure war, die in einem elenden Dreckskaff wohnte, das noch elender war als das Dreckskaff, aus dem er selbst gekrochen kam? Hatte er wirklich nur eine Sekunde lang geglaubt, hier sein persönliches Glück finden zu können?
Das einzige, was er an diesem erbärmlichen Ort jemals zu tun gehabt hatte, war, etwas Wasser zu besorgen. Um dann verdammt nochmal weiterzufahren, den Job zu Ende zu bringen, seinen Anteil einzustreichen und in einer Stadt wie Fogarty Bay ein kleines Haus zu kaufen. Um mit einer zärtlichen Frau – wie der Frau im gelben Kleid – den Rest seines Lebens zu genießen.
Im Haus des alten Misbeck brannte noch Licht. Tom klingelte, wartete, klopfte, wartete.
Noch immer konnte er hören, wie sich Herm und Sal ein paar Häuser weiter ihre Flüche und ihre Möbel um die Ohren schlugen.
Vielleicht schwerhörig, der Alte, oder irgendwo hinten, dachte er, und als er um das Haus herumlief, kam ihm plötzlich eine Gestalt aus der Dunkelheit entgegen. Schon wieder dieser Bursche: Roy.
Puh!, dachte Tom. Was für ein Typ, was für ein armseliges Leben … Dieser Junge könnte beinahe sein Sohn sein. Vielleicht sollte er ihm eine Chance geben, vielleicht sollte er ihm einfach anbieten mitzufahren, dieses Kaff für immer zu verlassen.
„He, du!“, rief Tom. „He, … Roy!“
Aber Roy blieb nicht stehen. Er trottete weiter, bog um die Ecke und verschwand in der Finsternis.
Tom registrierte die eingestürzte Brunnenmauer, die im Hof des Alten herumlag wie das Skelett eines verdursteten Pferdes. Sal hatte ihm davon erzählt. Mörtelstücke knirschten unter seinen Schuhen, als er sich einem der rückwärtigen Fenster näherte. „Hallo!“, rief er, stellte sich auf Zehenspitzen und presste das Gesicht an die Scheibe; nichts zu erkennen, niemand zu sehen. „Hallo!“, rief er erneut und ging zum anderen Fenster. Das Knirschen des Mörtels unter seinen Füßen vermischte sich mit dem Knirschen zertretener Glassplitter. Was, zur Hölle ... Tom trat zwei Schritte zurück; die Scheibe des Fensters vor ihm war zerbrochen. Er stellte sich auf einen der losen Mauersteine, um von dort aus ins Haus zu sehen. Ein Block Fleisch hing neben der Tür, verstaubte Wasserkästen stapelten sich entlang der Wand, auf der Theke lag eine umgestürzte Schüssel mit Soleiern – einige waren heruntergerollt und zwischen Glasscherben und Mörtelstaub aufgeplatzt. Ein großer Stein lag daneben und sah so aus, als hätte er einst zu dem Brunnen gehört.
Als Tom erkannte, was neben dem Stein lag, entschied er sich zu verschwinden.
Er lief schneller.
Für einen kurzen Augenblick lähmte ihn die Vorstellung, dieser Irrsinnige, Herm, könnte ihm vor lauter Eifersucht die Reifen zerstochen haben.
Er kniff die Augen zusammen, blickte die Straße hinunter zu Sals Haus, wo er den Truck abgestellt hatte. Schwierig, in der staubigen Dunkelheit etwas zu erkennen, aber es schien Roy zu sein, den er dort sah.
Aber ...
Er vernahm den dumpfen Klang einer Fahrzeugtür, die ins Schloss fiel. Er griff in die Hosentaschen, klopfte sie ab: die vorderen, die hinteren, die vorderen nochmal. Und dann – ein Sound, der ihm so vertraut war wie das rhythmische Schlagen seines eigenen Herzens – hörte Tom das Dröhnen des startenden Dieselmotors. Sah die Rücklichter des Trucks aufleuchten. Hörte das Knirschen der Reifen auf dem Asphalt.
Sah die Lichter in der Nacht verschwinden – zwei tanzende Sterne auf dem Weg in einen andere Galaxie.