Mitglied
- Beitritt
- 04.07.2005
- Beiträge
- 4
Liddys Gang
Ich kann sie nicht hassen. Obwohl sie so gemein zu mir war, obwohl sie mich schließlich in diese Lage brachte, ich hasse sie nicht. Ich weiß nun, warum sie es getan hat. Und irgendwie verstehe ich sie auch. Obwohl sie eine Kriminelle ist. Obwohl sie soviel getan hat, was nicht als gut zu beurteilen ist. Nein, man kann wirklich nicht sagen, sie hätte jemals etwas Gutes getan.
Wenn ich jetzt hier liege und so gegen die weißen Wände starre, die mich völlig verrückt machen, frage ich mich, warum es so eine Ungerechtigkeit in der Welt gibt. Warum man Leuten wie ihr nicht hilft. Ich weiß nicht sehr viel über sie, aber ich weiß nun mehr, als vorher. An diese Zeit möchte ich mich eigentlich nicht erinnern, auch ihr zuliebe. Aber diese gähnende Langweile in diesem leeren Zimmer, immer nur gegen die Wände starren, es macht einen verrückt, man erinnert sich automatisch an alles.
Im Sommer zogen wir um. Mein Dad war versetzt worden und natürlich mussten ich und Alex, meine große Schwester, mitkommen. Wir hatten keinen Bock auf den Umzug, von Köln in irgendeine Kleinstadt. Wir wollten bei unseren Freunden bleiben! Aber Dad hatte kein Erbarmen mit uns. So saßen wir fast den ganzen Sommer in der Bude rum und renovierten das Haus, bis es eine Woche vor Ferienende endlich fertig war. Ich war total groggy und freute mich auf eine letzte Woche erholsamer Ferien.
Alex und ich machten uns gleich am nächsten Tag auf die Suche nach dem nächsten Freibad. Wir hatten keinen Plan von der Stadt, auch wenn sie nicht ganz so groß war. Ich war heilfroh, dass Alex bereits Autofahren konnte – meine Schwester ist schließlich schon achtzehn.
Nach einer ziemlich langen Ewigkeit erreichten wir dann doch den Stadtteil, in dem es ein Freibad gibt. Nur leider war das schon ziemlich voll. Wir fanden einen Platz zwischen zwei Bäumen, ohne noch so einen winzigen Sonnenstrahl. Ich war echt deprimiert, weil ich gehofft hatte, wenigstens noch etwas Bräune an meinen vom Arbeiten im Haus ganz bleichen Körper zu bekommen. Auch Alex war echt mies drauf.
Damit nicht alles verloren war, verbrachten wir viel Zeit im Wasser und reckten unsere Gesichter in den strahlendblauen Himmel. Wir hatten immer noch die Hoffnung, nicht ganz so blass in der neuen Schule zu erscheinen.
Der Tag verging nicht ganz so toll, wie ich es mir gewünscht hatte. Ich war so gefrustet, dass ich mir am Kiosk ein Magnum, eine Currywurst und eine Portion Pommes kaufte. Alex sah mir beim Essen zu, den Kopf auf die Hände gestützt und gequält lächelnd.
„Weißt du, Samantha, wenigstens bekommen wir keinen Sonnenbrand...“
Ich zuckte mit den Achseln. „Morgen sind wir einfach früher hier“, meinte ich aufmunternd zu ihr.
Alex zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Ich glaube nicht, dass das viel Sinn hat. Hier denken doch bestimmt alle so... Ich hasse diese Stadt!“
Sie betonte das hassen so sehr, dass ich sie fassungslos anstarrte. Man sollte vielleicht wissen, was für ein Engel Alex ist. Sie macht alles, was man ihr sagt, flucht nie und sie wird nie wütend. Als ich jünger war, habe ich ihre guten Eigenschaften für zahlreiche Streiche genutzt, heute ist sie halt so, ohne jeglichen Vorteil für mich.
Alex schüttelte den Kopf und dann begann sie ihre Klamotten einzupacken. Dabei war es noch gar nicht so spät. Dennoch packte auch ich meine Sachen ohne zu murren und folgte ihr zum Auto.
„Oh nein, meine Schlüssel!“, rief Alex, als wir das Auto noch nicht ganz erreicht hatten und kramte aufgeregt in ihrer Tasche. „Ich muss noch mal zurück und sie holen. Warte hier!“
Sie rannte los, ihre Flip Flops klatschten bei jedem Schritt auf den Boden. Ich lehnte mich seufzend gegen die Wagentür und sah mich um. Das Freibad lag von einigen Wiesen umgeben am Rande der Stadt. Ein paar hundert Meter weiter begann ein Wald mit hohen Bäumen. Ältere Leute parkten ihre Autos beim Freibad und gingen dort spazieren. Ich sah einem älteren Paar hinterher, dass laut tratschend an mir vorbei lief.
„He, wenn haben wir denn da?“, fragte mich plötzlich jemand und ich fuhr herum.
Ein Mädchen, etwa so alt wie ich, stand vor mir. Sie grinste breit, aber es war kein freundliches Grinsen. Diese Art, wie sie mich herablassend angrinste – es war schrecklich! Ihr Gesicht sah dabei aus wie eine fürchterliche Grimasse. Am liebsten wäre ich weggerannt.
Hinter ihr tauchten drei weitere Mädchen auf. Auch sie grinsten. Sie alle trugen ganz kurz abgeschnittene Jeans und T-Shirts mit einem grässlichen Löwenkopf vorne drauf. „Wenn haben wir denn da, Liddy?“, fragte eines der Mädchen.
„Da steht eine reiche Göre vor unserem Wagen und guckt wie ein beseichter Pudel!“, lachte Liddy, das erste Mädchen.
„Euer Wagen?“, fragte ich empört. Ich konnte mich fast nicht mehr beherrschen. Reiche Göre? Was viel den Mädchen eigentlich ein?
Liddy lachte. „Tja, wir haben eine sogenannte Sammelleidenschaft für Autos, bei denen wir den Schlüssel gleich dabei kriegen.“
Ich fuhr herum und sah ins Auto. Tatsächlich steckte der Schlüssel noch im Zündschloss! Dann sah ich wieder die Mädchen an. „Tut mir Leid, aber das Auto gehört meiner Schwester...“
Ich konnte kaum zu Ende sprechen, da rammte mir das erste Mädchen, Liddy, ihre Faust in meinen Bauch. Ich sackte keuchend auf dem Boden zusammen. Liddy lachte und die anderen lachten mit. „Das wissen wir, Schlampe...“ Dann rannten sie davon.
Ich zitterte, als ich aufstand. Alex kam bereits aufgeregt zu mir. Aber sie hatte die Mädchen gar nicht mehr gesehen. „Was machst du denn auf dem Boden, Sam?“, fragte sie mich überrascht.
Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte Alex nicht noch mehr aufregen. „Der Schlüssel ist im...“
„... Auto, ich weiß“, seufzte Alex und deutete auf den kleinen Schlüssel im Schloss. . Sie stieg ein und lächelte. „Ich bin wirklich ein Schussel. Ein Glück, dass niemand das Auto geklaut hat.“
Ich nickte stumm und stieg ein. Fast wäre es so gekommen, Alex, dachte ich. Fast hätten diese Mädchen dein Auto geklaut. Dafür haben sie mir ihre Faust in den Bauch gerammt. Aber du hast dein Auto, dann ist doch alles super...
„Und das ist eure neue Mitschülerin Samantha.“
Frau Bergstein führte mich zu meinem Platz. Ausgerechnet neben dieser Liddy. Ich fühlte mich total mies, weil ich in die Klasse dieses Mädchens gekommen war. Die anderen Klassenkameraden nickten mir freundlich zu oder lächelten zumindest, Liddy sah gelangweilt zu mir auf, als ich mich neben ihr niederließ. Sie machte die Grimasse eines heulendes Kindes, als ich vorbeikam. Wahrscheinlich wollte sie damit den Vorfall vor dem Freibad andeuten. Sie sah mich als Memme an, weil ich mich nicht gewehrt hatte.
Der Unterricht war reine Quälerei. Auch wenn ich keine schlechte Schülerin war, mit Liddy an meiner Seite konnte ich mich echt nicht konzentrieren. Sie provozierte mich ständig. Und wenn es nur ein Schubser war, während ich schrieb. Sie nannte mich „Streber“ und beschimpfte mich immer dann, wenn die Lehrer es nicht mitbekamen. Und plötzlich hasste ich sie. Was heißt, eigentlich hasste ich sie schon vorher, seit dem Moment an, als sie mir mit voller Wucht in die Magengrube schlug. Aber damals wusste ich noch nichts über Liddy.
Die Schule war reinster Horror. Die anderen Mädchen meiner Klasse waren sehr freundlich zu mir, aber ich hatte das Gefühl, alles wäre nur gefaked. Wann immer ich zu ihnen kam, lächelten sie freundlich und redeten mit mir. Ging ich wieder, hörte ich sie tuscheln. Ich wusste, dass man das so machte. Man redete über die „Neuen“.
Anders wurde alles erst, als ich mitbekam, dass Liddy hinter der Lästerei steckte. Sie hatte üble Dinge über mich erzählt. Die anderen schienen ihr zu glauben, obwohl ich von einem Mädchen wusste, dass sie alle Liddy hassten, weil sie so hinterlistig und verlogen war. Aber als sie diese Sachen erzählte, hatten plötzlich alle ein offenes Ohr für sie und glaubten ihr jedes dreckige Wort.
Ich will mich nicht an die Sachen erinnern, die Liddy über mich gesagt hatte. Es waren zum Teil Äußerungen, die nichts mehr mit Spaß zu tun hatten. Und Äußerungen, die sehr persönlich waren. Ich konnte verstehen, dass die Mädchen mich mieden. Aber sie hätten sehen müssen, dass ich anders war, als Liddy mich darstellte. Ich hatte so einen Hass auf dieses Mädchen. Ich verachtete sie so. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Mädchen so böse sein konnte.
Liddy alleine war noch nicht mal das Problem. Es war ihre Gang. Die drei anderen Mädchen, Debbie, Kira und Jackie waren eine Klasse unter uns und sie waren schon so gemein wie Liddy. Sie waren ihre Sklaven, ohne es zu merken. Sie bewunderten Liddy und vor der Schule hockten sie alle einige Meter entfernt vom Schulgebäude im Park und tranken Alkohol.
Es war eigentlich ein toller Tag für mich gewesen. Ich war die Beste in der Englischarbeit gewesen und ich war stolz auf mich. Wer wäre das nicht gewesen? Vor allem, weil ich sonst immer schlechter war. Aber Liddy nahm es mir sehr übel.
An diesem Tag fing alles an.
Ich hatte das mit den Geschichten über mich endlich geklärt. Die Mädchen verhielten sich fast wieder normal. Aber Freundinnen hatte ich immer noch keine. Dabei hätte ich Beistand sicher gut benötigt. Denn ab diesem Tag begann Liddys Krieg. Ihr Krieg gegen mich.
Es passierte auf dem Heimweg. Ich ging den Weg durch den Park, weil er eine Abkürzung war. Leider hatte meine Schwester mehr Stunden als ich und konnte mich nicht mitnehmen. Außerdem hatte sie einer Freundin versprochen, diese nach Hause zu fahren. Meine Schwester hatte keine Probleme gehabt, Freunde zu finden.
Ich sah Liddys Gang von weitem. Sie saßen alle auf einer Bank, rauchten und Liddy hielt sogar eine Flasche Wodka in der Hand. Ich wollte wieder zurück gehen, aber sie hatten mich gesehen und kamen auf mich zu.
Ich stand wie angewurzelt am selben Fleck. „Na Memme, hast du jetzt Schiss?“
Ich hatte wirklich Angst, aber ich sagte kein Wort. Bitte, lasst mich gehen, flehte ich innerlich. Bitte, lasst mich in Ruhe.
„Sie hat Angst, A-n-g-s-t!“, sang Debbie.
„Diese Streberin!“, meinte Kira verächtlich.
Jackie machte einen Schritt auf mich zu und ich wich vor ihr zurück. Sie deutete lachend mit dem Finger auf mich. „Habt ihr das gesehen? Sammy-Baby macht sich gleich in die Hose!“
Diese Gemeinheiten machten mich fertig. Ich sah alle an und ich spürte, dass ich wirklich zu zittern begann. „Ich bin kein Feigling!“, hörte ich mich sagen.
Es nützte nichts. Es verstärkte den Mut der Mädchen nur noch mehr. „Sammy-Baby versucht sich zu wehren!“, lachte Liddy und boxte leicht mit den Fäusten in die Luft. Dann traf mich ihre Faust hart im Bauch und ich fiel auf den Boden. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Jetzt, wo ich am Boden lag, ging es erst richtig los. Liddy, Debbie, Kira und Jackie traten mich und schlugen auf mich ein. Dabei riefen sie „Streber“ und „Sammy-Baby“. Ich heulte. Mir tat alles weh und das Blut lief mir bereits aus der Nase.
Ich weiß nicht, wann es aufhörte, denn ich wachte irgendwann auf einer Parkbank auf. Neben mir stand ein schimpfender Junge und sah sich immer wieder um. Er hielt blutverschmierte Taschentücher in seiner Hand.
„Ohh“, stöhnte ich und hielt mir den Kopf. Er tat immer noch furchtbar weh.
„Oh, geht es dir wieder besser? Die haben dich ziemlich übel zugerichtet“, meinte der Junge und er beugte sich zu mir hinab.
„Geht schon“, murmelte ich und setzte mich auf. „Wo sind sie?“
„Weg“, bemerkte der Junge. „Und du solltest jetzt auch besser gehen. Meide diesen Weg besser in nächster Zeit. Bye...“
Dann ging er. Ich sah ihm mit brummendem Schädel und schmerzenden Knochen hinterher.
Ich verstehe Liddy nicht. Damals hätte sie mich schon fast ins Krankenhaus gebracht, so übel haben sie mich zugerichtet. Als ich heimkam, war niemand zu Hause. Ich wusch mich, vor allem mein blutverschmiertes Gesicht, und zog mich um. Aber ein blaues Auge blieb.
Als meine Eltern heimkamen, sahen sie mich überrascht an. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragten sie.
Ich wollte es ihnen sagen, aber ich konnte nicht. Ich meine, ich hasste Liddy und ich hätte sie gerne angeschwärzt, aber ich hatte Angst. Was wäre schon passiert? Vielleicht hätte mir niemand geglaubt und alles wäre nur noch schlimmer geworden. Ich wollte Liddy lieber so gut wie möglich meiden. Ich hatte ja nicht mit der Hinterhältigkeit dieses Mädchens gerechnet.
Ich hatte immer noch ein blaues Auge und ich versteckte es mit einer Sonnebrille. Aber im Unterricht musste ich das Teil absetzen. Dann sahen mich meine Mitschüler ziemlich doof an und alle, sogar die Lehrer, hielten mich für eine Schlägerin. Ich versuchte dabei cool zu bleiben, was mir auch einigermaßen gelang. Aber nach der Schule war ich immer so fertig, dass mir die Tränen kamen.
Ich fuhr nur noch mit meiner Schwester nach Hause, auch wenn es noch so lange dauerte. Ich lief nur dann, wenn es wirklich nicht anders ging. Aber zwei Wochen später, dass ist jetzt nicht lange her, da passierte es. Das Ereignis, dass mich hierher brachte, ins Krankenhaus.
Es war Sonntagmorgen. Zwei Straßen weiter war der Bäcker, der immer frische Brötchen hatte. Meine Mutter hatte gemeint, ich sollte uns welche fürs Frühstück holen.
„Ich habe gar keinen Hunger auf Brötchen“, maulte ich, weil ich nicht gehen wollte.
„Stell dich nicht so an, wir haben Hunger!“, meinte mein Vater ärgerlich.
„Kann Alex keine Brötchen holen? Die kann doch mit dem Auto fahren...“
„Sam!“, sagte meine Mutter vorwurfsvoll. „Alex schläft noch und außerdem braucht man zwei Straßen nicht mit dem Auto fahren.“
Ich wurde mehr oder weniger mit etwas Geld auf die Straße geschoben. Ziemlich ängstlich ging ich los. Ich sah links und rechts und hoffte, Liddy und ihre Gang nirgends zu treffen. Aber der Bäcker war in der berüchtigten Gegend, der Ecke, wo Liddy sich mit ihrer Gang oft aufhielt.
Sie waren auch an diesem Sonntagmorgen da; is sah sie, als ich um die Ecke bog. Und sie sahen mich auch. Sie grinsten, als hätten sie auf mich gewartet. Ich ging mutig an ihnen vorbei. Sie taten mir nichts, aber ich spürte ihre Blicke im Nacken.
Ich betrat die Bäckerei und hatte noch ne Menge Leute vor mir. Ich stand ziemlich lange an. Unser Bäcker ist der einzigste, der Sonntags frische Brötchen verkauft. Zumindest hier in der Gegend.
Einige Leute starrten nervös auf ihre Uhren und starrten dann wieder hinaus. Sie waren wahrscheinlich mit dem Auto da, in der Hoffnung, nur kurz in den Laden springen zu müssen.
Nach einer halben Ewigkeit kam ich dran. Zehn Brötchen wurden eilig in eine Tüte gepackt, damit die elf Kunden hinter mir auch noch drankamen. Ich bezahlte und ging.
Als ich auf die Straße trat, konnte ich Liddys Gang nicht mehr sehen. Etwas beruhigter ging ich nach Hause. Ich war sogar so erleichtert, dass ich fröhlich pfiff. Ich konnte ja nicht ahnen, was noch passieren würde.
Nach einigen Metern bekam ich ein ungutes Gefühl. Plötzlich fragte ich mich, wo Liddy mit ihrer Gang steckte. Und ich hatte das Gefühl verfolgt zu werden. Aber als ich mich umdrehte sah ich niemanden, außer die parkenden Autos.
Ich stand an der Ampel, nur noch wenige Meter von Zuhause entfernt. Rot. Ich sah mich um. Es waren nur wenige Autos unterwegs, so früh am Morgen.
Grün. Ich ging los. Es waren keine Autos auf der Straße und ich ging langsam und ohne Eile. Aber dann kam plötzlich dieses Auto um die Ecke. Ich sah Liddys grinsendes Gesicht am Steuer. Sie gab noch mal kurz Gas um dann scharf zu bremsen. Und sie riss mich mit.
Meine Mutter sagt, ich wäre lebensgefährlich verletzt worden. Sie ist glücklich, dass ich lebe. Sie sitzt neben mir auf dem Bett und redet mit mir. Ich höre ihr kaum zu. Ich denke daran, was Cathy mir vor kurzem erzählt hat. Ich schlafe im Krankenhaus so viel, dass ich nicht mehr weiß, ob es vorgestern, oder noch früher war. Oder vielleicht sogar gestern. Jedenfalls hat sie mein Bild von Liddy ziemlich verbessert. Ihre Geschichte ist der Grund, warum ich Liddy nicht mehr hassen kann.
Cathy kam also zu mir ins Krankenhaus. Cathy, dieses stille, abweisende Mädchen, dass niemand so wirklich kennt. Sie geht in meine Klasse und ist wirklich freundlich gewesen. Und ich mochte sie direkt, obwohl ich sie gar nicht kannte.
Sie wusste viel über Liddy. Sie hat mir nicht gesagt, woher sie das alles weiß. Auf jeden Fall weiß sie es. Und ich war überrascht zu hören, warum Liddy so ist, wie sie ist...
„Hör zu, Samantha, du möchtest es vielleicht nicht hören, aber Liddy wäre nicht der Mensch, der sie jetzt ist. Ihre Eltern sind Säufer und interessieren sich gar nicht für sie. Mit dem Kindergeld kaufen sie sich Alkohol. Und Zigaretten. In Liddys Zimmer wohnen Spinnen, Kakerlaken und... – Weißt du, wenn Liddy so aufgewachsen wäre wie du, dann wäre sie sicher genauso gut in der Schule, beliebt und würde sinnvolle Hobbys haben und nicht mit ihrer Gang abhängen. Sie ist neidisch auf dich!
Liddys Familie isst nichts, nichts außer Zeugs aus der Dose. Und ihre Eltern zanken sich ständig, wenn kein Alkohol daheim ist. Oder wenn Zigaretten fehlen. Liddy geht es echt dreckig. Und ihrem Bruder auch...“
Ich sah zu Cathy auf. Sie strich sich ihre Locken hinter die Ohren und griff zitternd nach ihrer Jacke.
„Warum hast du mir das gesagt?“, fragte ich sie verwirrt.
„Du sollst wissen, dass Liddy kein Monster ist. Versetz dich in ihre Lage und hasse sie nicht für ihre Taten...“
„Aber wenn ich hier raus bin, dann wird sie wieder anfangen, mich zu tyrannisieren, oder? Hat die Polizei sie erwischt?“
Cathy seufzte. „Nein, sie hat sich mit ihrer Gang aus dem Staub gemacht. Aber glaub mir, Samantha, sie wollte dich nicht umbringen. Sie hat ihre Lektion gelernt. In der Schule ist sie plötzlich viel ruhiger und sie hat mich sogar gefragt, ob ich ihr sagen könnte, wie es dir geht. Sie wollte es nicht so weit kommen lassen. Sie wollte dich nicht anfahren, sie wollte vorher bremsen und dich so erschrecken...“
Meine Mutter nimmt ihre Tasche und geht. Ich denke immer wieder nach. Ich erinnere mich an die schrecklichen Momente mit Liddy. Und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn sie vielleicht andere, liebevolle Eltern gehabt hätte. Dann wäre jetzt vieles anders. Für sie und für mich. Wenn sie so Eltern gehabt hätte wie ich, hätten wir vielleicht sogar Freundinnen werden können?
Die Tür geht auf. Verwundert sehe ich den Jungen an, der im Türrahmen steht. Es ist der Junge aus dem Park! Was macht der denn hier? Ich setze mich verunsichert auf.
„Hi, ich bin Leon. Es tut mir echt Leid, was meine Schwester gemacht hat. Aber vielleicht könnten wir zwei ja einen Neuanfang wagen?“
Ich sehe in seine Augen, sehe den ehrlichen Blick und ich weiß, dass er es ernst meint. Und ich bin bereit, Liddy zu verzeihen – und um mit Leon einen Neuanfang zu machen. Wer weiß, vielleicht sehe ich irgendwann doch noch Liddys wahres Gesicht – das Gesicht, das hinter der Fassade des brutalen Mädchens steckt.
- Ende -