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"Liebe"
Vielleicht sollte sie sich einmal vorstellen, wie es wäre nicht mehr dazu sein.
Vielleicht wäre vieles leichter.
Hannah geht ein Stück auf dem Waldpfad mit dem herrlich grünen Moos unter ihren nackten Füßen und versucht genau eine Linie zu gehen.
177 Schritte sind es zur großen Lichtung. Das hatten Belle und sie gezählt; aber nur wenn sie genau an der großen Linde starteten und in der Mitte der Lichtung zum Stehen kamen. Oft schlossen sie die Augen, den ganzen Weg lang und kicherten bei jedem ungewöhnlichen Gefühl unter ihren Füßen. Wenn sie genau 177 Schritte gezählt hatten machten sie die Augen auf und waren immer fast genau an der exakten Stelle. Dort von wo man hinter den grünen Baumkronen die Sonne untergehen sehen konnte und den schillernd, widergespiegelten Schein auf dem Wasser.
Sie liebten es am frühen Abend zum See hinaus zu laufen.
Es war schön, zu schön.
Sie hatten einander geliebt, so wie man nur eine beste Freundin und eine seelenverwandte Schwester lieben konnte.
Sie öffnet die Augen.
Orangeroter Schein, hell wie ein funkelder Diamant und das Wasser, so ruhig, ... so ruhig als wäre nie etwas passiert.
Sie atmet tief ein und bricht schließlich schluchzend ab.
Es erwischt sie wie ein Schlag, ein unerwarteter schmerzlicher Schlag.
"Ich hasse Dich!..." Sie weint wie sie noch nie zuvor geweint hatte.
Leise ist ihr schluchzen, leise ist ihre Klage.
"Ich hasse mich..." Ihr Körper will sie nicht mehr tragen und sie fällt einfach hin. "Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid..."
"Hannah was wirst du anziehen?"
"Was?!"
Ihre Mutter nimmt sie leicht in den Arm. "Ich weiß, dass es schwer für dich ist."
"Lass mich los. Ich brauch' das nicht! Geh!" Hannah wehrt ihre Mutter ab, die sich ruckartig von ihr löst.
"Du bist nicht der Mittelpunkt dieser Erde, Hannah! Deine Freundin ist tot. Wer jetzt wirklich Hilfe braucht, sind Belles Eltern! Es ist das mindeste das wir Anteil nehmen an ihrer Beerdigung! Was willst du damit erreichen Hannah!? Reiß dich zusammen!" Ihre Mutter schreit. Das tut sie nicht oft. Sie hatte schließlich nie einen Grund dafür. Doch nun ist sie überfordert, das merkt sogar Hannah.
Monoton erwidert sie: "Ich ziehe die schwarze Bluse mit dem dunkelblauen Rock an.
Komm' nie wieder in mein Zimmer." Sie sperrt sie aus und lässt den Schlüssel stecken.
Eine Weile bleibt ihre Mutter vor dem Zimmer stehen, dann hört sie leise Schritte die sich langsam entfernen.
Sie ist nicht bereit. Sie ist nicht bereit 'Tschüss' zu sagen. Sie will es auch nie sein. Hannah begreift noch immer nicht, dass es keine Belle mehr in ihrem Leben gibt. Jemanden den man mit Worten - wie man so schön sagt - nie beschreiben könnte. Sie beide hatten fest daran geglaubt gemeinsam zu sterben, so wie ihnen immer alles gleichzeitig passierte: Die ersten Tage, der erste Kuss, die erste unvergessliche Nacht, die schlimmen und die schönsten Momente. Nie musste man erzählen, sich erklären, denn der andere war immer dabei wusste immer Bescheid was man denkt, was man fühlt.
Als Hannah damals mit 8 ihre erste schlimme Grippe hatte, hatte Belle nicht von ihrer Seite weichen wollen. Gegen jeden Rat von Arzt und Eltern hielt sie sich Tag und Nacht dicht neben Hannah gekuschelt in ihrem Bett auf. Sie laß ihr vor, brachte sie zum Lachen und nahm sogar von ihr gelesene Geschichten mit einem Rekorder auf, die sie sich anhörte, wenn Belle zur Schule ging.
"Sie wusste, dass ich Geschichten liebte und ihre Stimme war die schönste mit der man sie überliefert bekommen konnte."
Oft konnten sie ihre Liebe für einander nicht ausdrücken, dann haben sie nur als Zeichen in solchen Situationen, der anderen Hand genommen und sie sich aufs Herz gedrückt, dann wussten sie beide was sie einander sagen wollten.
Das alles ist nun vorbei.
"Und das soll es für immer sein?!"
Nein.
Sie weiß, selbst wenn sie wollte, könne sie nicht ohne sie leben.
Aber Belle konnte ja auch ohne sie sterben...
Sie hasst sie dafür, dass sie ging.
Sie hasst sie dafür, dass sie einfach entschied Hannahs Leben zu retten und ihres dafür zu verlieren.
Sie hasst sie dafür, dass Belle ihr nicht die Wahl gelassen hatte.
Die Wahl selbst zu bestimmen, ob sie gehen würde oder Belle, dass sie ihr Keine gelassen hatte und Hannah jetzt lebt ohne sie und dass sie nicht daran gedacht hat, wie es ihr danach ginge. Sie muss mit den beschissenen Fragen umgehen: "Wenn ich nicht dagewesen wäre, wäre sie noch am Leben, warum hatte ich nicht sie gerettet, warum hab ich mich von ihr retten lassen!? Warum bin ich auf ihre Schultern gestiegen auf die sie mich zerrte, warum habe ich sie damit in die Tiefe gedrückt, so dass sie keine Chance mehr hatte an die Oberfläche zu gelangen?"
Hannah und Belle waren so oft zum See gelaufen, sprangen in Unterwäsche ins feuchte Nass und erfreuten sich einfach ihres Lebens und ihrer Zweisamkeit. Sie schwammen oft weit hinaus, immer dort wo sie die Strömung gerade stark genug spürten und die kleinen Strudel sie an ihren Körpern kitzelten. Sie beide liebten das Gefühl, für kurze Zeit unter Wasser gezogen zu werden und dann wieder wie aus dem Nichts, ganz wie ein Delphin, aus der Wasseroberfläche geschossen zukommen. Den See und seine Kraft auszutesten und zu bezwingen war ihr Nervenkitzel, ihr harmloses Hobby.
Es war ihr Element.
Doch an jenem Abend hatten sie wohl vor lauter Spaß und Freude an der Freiheit nicht bemerkt, dass sie zu weit abkamen, weit, weit über die Grenze wo das Gefahrengebiet anfing. In der fast schwarzen Tiefe ergriff es zuerst
Hannah. Sie wurde von mehren Strudeln in Sekunden völlig unerwartet verschluckt und hinuntergezogen. Belle, nicht sehend was passiert, suchte die Ferne nach ihrer besten Freundin ab und wusste dass dieses Mal keines ihrer gemeinsamen Spiele war. Sie tauchte unter.
Hannah wird sich ihr ganzes Leben aus diesem Alptraum nicht befreien können, weil sie sich selber immer nur bestrafen will, dafür, dass sie sie Schwache war. Sie erinnert sich wie als wäre es noch immer gegenwärtig:
Belles Blick, ihr Blick als sie beide mit der Luft rangen und begriffen, dass es ernst war. Sie schaute sie ruhig mit einem totsicheren Blick an und formte 'Liebe' mit diesem. Sie kniff die Augen zusammen und mobilisierte ihre letzte Kraft um Hannah auf sie zuziehen und sie gen Oberfläche zu drücken.
Es war schwer, der Kampf mit den Strömungen und der eigenen biologischen Uhr die plötzlich raste wie wild. In solchen Momenten, dachte sie immer, würde man völlig klar sein und nur das Ziel: Leben vor Augen haben, doch das hatte sie nicht, das hatte Belle für sie. Sie hatte viel Wasser geschluckt, es brannte alles in ihr, dieser Schmerz, der alles einnahm und zusammen zog und sich alles verdunkelte... und dann, Licht. Sie war wieder kurz vor der Oberfläche, sie würde Leben, alles würde wieder gut werden. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und durchbrach das schwarze Tief, zurück ins Leben. Hannah atmete, wie sie noch nicht geatmet hatte. Sie schnappte und japste nach Luft, nach Leben. Sie hatte es geschafft, es ist vorbei.
Sie weinte, schrie und hatte plötzlich eine enorme Kraft. Doch was war das, es freute sich keiner mit ihr. Stille.
Sie drehte sich, drehte sich wieder, 1000 Mal um die eigene Achse.
"BELLE" Ihre Augen aufgerissen, ihr Mund ungläubig, Tränen vermischten sich mit dem Wasser "...Nein..., bitte...".
Belle war nicht aufgetaucht, sie hatte es nicht geschafft. Hatte keine Chance.
Wie sie zurück kam weiß sie nicht, sie erinnert sich nur noch, dass sie wohl halb erfroren zusammen gekrümmt am Seeufer gefunden wurde, von wem weiß sie auch nicht.
Lange wollte sie nicht aufwachen, lange hatte sie nicht ihre Augen aufmachen wollen, nichts trinken und nichts essen wollen. Belle war in ihren Träumen allgegenwärtig. Sie wollte dahin, zu ihr. Da bleiben und nie wieder gehen.
Heute weiß sie, dass ihre beste Freundin ihr etwas zu Abschied geschenkt hat, in dem Moment als sie entschied ihr Leben für Hannahs zu geben, als sie sie nach oben drückte. Sie schenkte ihr, ihr Zeichen und Hannah spürt es noch heute fest auf ihrer Brust: "Liebe"