Liebe
„ Wer nach Beweisen einer Liebe verlangt, hat sie im selben Augenblick getötet.“
Es stank diesen Sommer nun schon seit Wochen erbärmlich im gesamten Treppenhaus eines gesichtslosen und anonymen Hochhauses inmitten einer austauschbaren Hochhaussiedlung am Rande der Stadt.
Hier waren nun seit Jahrzehnten die Randständigen untergebracht, nach dem Ende des großen Stahlwerkes ganz in der Nähe.
Die einen wurden Randständig, erst durch die Arbeitslosigkeit, dann durch das Alter. Freigewordene Wohnungen wurden belegt durch Randständige der Herkunft, der Gebräuche und der Sprache.
Wenn man sich die Gesellschaft als einen großen Kreis vorstellt, so sind die Randständigen an eben solchen Rändern zu finden - auf allen 360 Graden des Kreises verteilt. Das Leben dort ist gekennzeichnet durch gegenseitige Fremdheit und daraus resultierende Einsamkeit. Die einzige Gemeinsamkeit der Randständigen, ist die Randständigkeit.
Es hat eine Weile gedauert, die Eigenheiten dieses Geruchs zu deuten und noch schwerer war es, eine genaue Quelle auszumachen. Schließlich klingelten Nachbarn alle verdächtigen Türen ab - eben solche jener Personen, von denen niemand etwas zu berichten hatte. einen ersten Anhaltspunkt stellten die übervollen Briefkästen dar.
Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis man im 9. Stockwerk fündig wurde - Im Schattenreich des Niemandslandes. Inzwischen hatte man die Tatsache akzeptiert, daß es sich eindeutig um Leichengeruch handelte.
Die Wohnungstür wurde durch einen Schlosser in Anwesenheit herbeigerufener Polizei und Feuerwehr gewaltsam geöffnet.
Die Polizisten schmierten sich Minzsalbe unter die Nase und öffneten die Fenster, weil der Leichnam schon ins Stadium der Verwesung übergegangen war. Alte Fotos wiesen auf ein Leben inmitten der Gesellschaft hin. Frau Marie Metzel war zweimal verheiratet und hatte Kinder.
Ihr erster Ehemann zeugte ein Kind mit einer anderen Frau, wie man aus alten bösen Briefen entnahm. Der zweite Mann war zwar ihr treu, jedoch nicht gegenüber dem Leben. Am Tag der letzten Schicht vor der Schließung des Stahlwerkes stürzte sich der Arbeiter vom Dach des Werkes ungesichert in die Tiefe und starb.
Diese Tat hatte zur Konsequenz, daß sich Frau Metzel immer mehr zurückzog. Weder Kinder, noch Verwandte waren bei ihr anzutreffen.
Ein paar Jahre hatte sie einen kleinen Hund, den sie immer in der nahen Kleingartenanlage ausführte, doch die Kleingärtner bedachten sie stets mit bösen Blicken, weil sie die Hinterlassenschaften ihres kleinen Kläffers nicht beseitigte. Sie konnten nicht wissen, daß sie es wegen ihrer schlimmen Arthrose in den Knien nicht mehr konnte.
Es kam der Zeitpunkt, an dem sie den Hund nicht mehr Gassi führen konnte. Das Tierheim war sehr verständnisvoll, als es Hund gegen Katze eintauschte.
Irgendwo muß man schließlich hin mit seiner Liebe - eine Pflanze wäre da nicht ausreichend gewesen.
Die Polizei machte zwei Feststellungen.
Erstens: die Katze mit dem Namen Molly war zwar stark abgemagert, aber sie lebte noch.
Zweitens: Der Leiche fehlten Nase, Mund, Ohren und Wangen.
Die Ermittler zogen den logischen Schluss, dass Molly sich am Gesicht von Frau Metzel zu schaffen gemacht haben musste.
Als die Nachbarn das hörten, machten sofort Meinungen die Runde. Einer sagte , ein Hund hätte nichts gefressen, sondern hätte bis zum eigenen Tod am Leichnam Wache gestanden. Oder er hätte gebellt und die Tote wäre schon vor der Verwesung entdeckt worden.
Ein anderer Nachbar bemerkte ganz trocken: Na ja, bei Katzen geht die Liebe eben durch den Magen.
Da durch die Leichenflüssigkeit der gesamte Boden ruiniert war, mußte die Wohnung für teures Geld einer Grundsanierung unterzogen werden, was nach einhelliger Meinung der Nachbarn das Schockierendste am gesamten Vorfall war.
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Das um Auflage kämpfende kleine Anzeigenblatt des Stadtteils titelte eine knappe Woche später : „ Kannibalenkatze frass Gesicht ihrer toten Halterin.“
Das wiederum zog eine wütende Replik des ansässigen Tierheimes nach sich, welches im Verhalten von Molly keinen Kannibalismus erkennen wollte.
Die Katze hätte schließlich nicht die eigene Art gefressen….
In einem alten philosophischen Werk steht geschrieben: „ … Hunger und Liebe setzen sich schließlich über alle Grenzen hinweg.
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Als ein neu hinzugezogener Schriftsteller diese Geschichte ein paar Wochen später hörte, verstieg er sich allen Ernstes zu einer gewagten These: Frau Metzel hätte sicher gewollt, daß ihr geliebter Stubentiger nach ihrem Ableben weiterlebte und wäre daher mit dessen Verhalten ihrem Leichnam gegenüber völlig einverstanden gewesen.
Na ja, was die Leute heutzutage so alles behaupten…
Ich wende mich meinem uralten Lebenshilfe Abreißkalender zu und lege das nächste Blatt frei. Dort steht zu lesen: „ was ist am Ende des Lebens trauriger? Nie geliebt worden zu sein - oder nie geliebt zu haben?“
Ich blicke durch mein astronomisches Teleskop direkt in Frau Metzels ehemaliges Wohnzimmer, wie ich es schon seit Jahren tue - es ist dort recht schön geworden.
Aus dem 13. Stockwerk hat man einen wunderbaren Blick auf das Leben Anderer.
Ich liebe es einfach, auf diese Weise an ihrem Leben teilzuhaben.
Ende