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Lieben lernen
Lieben lernen
Si vis amari, ama!
Die Minuten krochen dahin. Die Zeit schien auf nur einen Moment hinauszulaufen und dehnte sich aus wie ein zäher Kaugummi. Ich warf meinen Blick aus dem Fenster, um etwas aufregenderes als Mathematik zu suchen.
Die Sonne glitzerte zwischen den Blättern der Bäume hervor. Ein Blatt löste sich und wirbelte durch die Luft. Es hatte kein Ziel, wehte mal da und mal dort hin. Unermüdlich und frei. Ich beneidete das Blatt um diese Freiheit.
Erst das Klingeln weckte mich aus meinen Träumereien. Der Augenblick war da. Ich musste es tun: Jetzt oder nie!
Die Anderen packten hastig ihre Bücher in ihre Markenrucksäcke. Ich erhob mich fast in Zeitlupe und wankte nach vorne. Weder meine Arme noch meine Beine taten von Geburt an das, was ich von ihnen erwartete. Ich bin Spastiker. Mittlerweile war ich fast alleine im Raum mit meinem Mathe- und vor allen Dingen meinem Philosophielehrer.
Ich kam immer näher. In der Ruhe liegt die Kraft. Was anderes bleibt mir meistens nicht übrig, zum hasten ist mein Körper nicht fähig. Herr Lucas bemerkte mich und sah mich fragend an. Ich sammelte mich, öffnete den Mund, um endlich diese Frage zu stellen, brach aber sogleich wieder ab.
Jetzt oder nie!
„Ich würde sie gerne um einen Gefallen bitten.“ Meine Stimme zitterte leicht. Spöttischer Lehrerblick. „Ich... Könnten Sie mir beibringen zu lieben?“ Es war heraus. Eine kleine Welle der Erleichterung kam über mich.
Herr Lucas erstarrte in der Bewegung das Klassenbuch in seine Aktentasche zu legen. Dann legte er seinen Kopf schräg und sah mich verwundert an. Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht kroch. „Severin, das Lieben kann sich jeder nur selber lehren“
Nein! Schrie alles in mir. Es schien als sei der Teil des Gehirns, der für das Lieben zuständig ist, bei mir ebenso fehlerhaft, wie der Teil für die Motorik. Wieso entließ er mich so unbefriedigt? Ich wich nicht von der Stelle, starrte ihn geradewegs in seine Augen. Ich war so weit gekommen, jetzt konnte er mich nicht mehr mit einem billigem Lehrerspruch abwimmeln. Seine Augen wirkten weiterhin ruhig. Sie hatten eine außergewöhnliche gold-braune Farbe. „Nein im Ernst, Severin“, fuhr er fort. „Ich bin zwar Philosophielehrer aber das Lieben ist so eine Sache. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Jedoch....“ Er legte seine Stirn in Falten. Dann verzog er sein Gesicht, so als wäre ihm gerade ein besonders genialer Einfall gekommen. „Man liebt nicht nur einen Menschen, weiß du. Warum greifst du gleich nach den Sternen, wenn du den Stein kaum berührt hast?“ Er schien zufrieden mit seinen Worten, packte die Sachen in seine Tasche und wollte gerade gehen. Doch dann drehte er sich noch einmal um. „Wieso willst du eigentlich das Lieben lernen?“ Ich senkte meinen Blick.. „Um endlich glücklich zu werden.“ Meine Antwort war kaum mehr ein Flüstern. Doch er verstand und fügte nickend, fast ebenso tonlos hinzu „Ja, das wollen wir alle.“
Dann verschwand er und lies mich allein mit meinen Gedanken, die zu rotieren begannen.
Steine, Sterne... Warum redete er nur so verworren?
Auf dem Weg zum Hof begegnete ich Nathalie. Ja, ich war mal verliebt in sie. Das war nicht mein Problem. Zwei Wochen lang die bekannten Schmetterlinge und dann war es wieder aus. Kein Happy End und kein Drama. Aber Liebe bedeutet doch viel mehr als ein bisschen Herzklopfen. Und dieses viel mehr hatte ich bisher nie gespürt. Ich wartete noch nicht einmal auf die wahre Liebe, die unendliche Liebe, mit der man ein Haus bauen und Kinder haben würde. Nein, ich wartete auf eine ganz normale große Liebe. Es sind sieben große Lieben, die jeder Mensch in seinem Leben hat. Das sagte einmal eine berühmte Schriftstellerin. Bei mir stand der Zähler immer noch auf null. Das machte mir allmählich ein wenig Angst. Was war nich in Ordnung mit mir?
Trotz der Sonne war es relativ kühl. Ein kleiner Stein lag vor mir auf dem Weg. Ich unterdrückte den Impuls, ihn wegzukicken und bückte mich, um ihn aufzuheben.
Warum greifst du gleich zu den Sternen, wenn du den Stein kaum berührt hast?
Ich bewegte den Fund in meinen Händen. Er war glatt und kalt. Und doch faszinierte mich der Stein. War es das, was Herr Lucas meinte?
Musste man erst einen Stein lieben, um eine Frau lieben zu können?
Ein paar Mädchen die in der Nähe standen, beobachteten mich kichernd. Sie fanden mich seltsam. Ich schnitt ihnen eine Grimasse und verschwand im Schulhaus. Den Stein steckte ich in meine Jackentasche.
Erst ein paar Tage später wurde mir der Stein in meiner Tasche wieder bewusst. Ich saß auf einem Steg, die Sonne war so warm, dass man denken könnte es wäre mitten im Sommer. Auf dem See schwammen zwei Schwäne. Ich war nicht freiwillig dort. Unsere Klassenlehrerin wollte unbedingt eine Wanderung machen. Trotz meiner Behinderung sollte ich mitgehen. Ich müsse ja nicht mit auf den Berg steigen, aber es wäre doch sehr schön, mich bei dem Picknick dabeizuhaben.
Selbst meine Mutter war der Meinung, ich sollte wenigstens versuchen, mich in die Klasse einzugliedern. Also musste ich wohl oder übel mit. Wenn ich jetzt den glitzernden See sah, bereute ich diesen Zwangsausflug keineswegs. Mir wurde erneut bewusst, welche Schönheiten die Natur barg, wenn man sie nur sah. Der Stein in meiner Hand hatte sich nicht verändert, natürlich nicht. Aber trotzdem kam er mir schöner vor als je zuvor. Vielleicht lag es and der Sonne, die ihm eine schöne Farbe verlieh. Er hatte ein paar kleine Rillen und Furchen, die ihn charakterisierten.
Es war nur ein Stein, aber was ist schon ein Stein?
Ist Stein nicht nur ein ausgedachter Name für eines der Wunder der Natur? Je länger ich meinen Stein betrachtete um so wertvoller kam er mir vor. Warum ist Gold so viel wichtiger als Steine?
Ich dachte weiter nach. Gold ist wichtiger und wertvoller, weil es seltener ist. Wenn ein Kind nie Schokolade essen darf, dann würde es alles für ein Stück braune Schokomaße tun. Wenn das gleiche Kind aber jeden Tag Schokolade kriegen würde, dann wäre diese Schokolade keinesfalls mehr wertvoll, sondern ein Teil des Alltags.
Vielleicht ist das mit der Liebe das gleiche Spiel. Vielleicht halten nur die, die einsam sind die Liebe für etwas außergewöhnliches und wertvolles.
Und Menschen, die 20 Jahre mit ihrer wahren Liebe verheiratet sind, sehen ihre Liebe nur noch als Alltag.
Das machte mich auf eine bedrückende Art und Weise traurig.
Alles, nach dem wir streben, ist das, was wir selten oder gar nicht bekommen. Auch dieser Stein ist ein Stück Alltag. Nichts besonderes, ein Stein, wie jeder andere von denen man so viele am Tag sieht, dass man sie schon gar nicht mehr wahrnimmt. Allmählich fügte sich alles zusammen. Wenn du lieben willst, dann musst du den Stein sehen, der auf deinem Weg liegt. Denn wenn du ihn nicht siehst, dann wirst du auch deine wahre Liebe in einen paar Jahren nicht mehr als etwas besonderes sehen.
Noch tief in Gedanken hörte ich Schritte hinter mir. Ich erschrak und fuhr herum. Die Sonne blendete mich so sehr, dass ich meine Augen halb zukniff. Erst erkannte ich nur die Kontur und dann das Gesicht von Herr Lucas. Mein Herz machte einen Hüpfer. Er nickte mir zu und setzte sich neben mich im Schneidersitz auf den Steg. „Schön hier“. Ich murmelte zustimmend. Daraufhin beobachteten wir beide das Wasser. Erst nach etwa fünf Minuten Stille fing ich erst leise und dann immer eindringlicher von meinen Ideen und Theorien über den Stein und die Liebe zu erzählen. Er blieb während ich redete ruhig und schaute weiter auf den See. Mitunter war ich mir nicht ganz sicher, ob er mir überhaupt zuhörte, doch am Ende meiner Ausführungen sah er mich von der Seite an und etwas wie Stolz lag in seinem Blick.
„ Du wärst ein guter Schüler von Aristoteles gewesen.“ Er lächelte versonnen. „Ich weiß nicht, warum du gerade mich ausgewählt hast aber ich finde du hast verdammt viel aus meinen Ansätzen herausgeholt.“ Er nickte anerkennend. Doch dann wurde er nachdenklich. „Ich möchte dir noch eine Aufgabe geben, Severin. Was ist der Mittelpunkt des Lebens?“ Ich zögerte. „ Ich werde dir einen kleinen Rat geben: Wer liebt, der ändert seinen Mittelpunkt.“
Ich dachte nach. Das Wichtigste für mich bin ich selbst. Ich bin der Mittelpunkt meines Lebens. Aber wenn ich liebe, dann ist da noch jemand anders, den ich als Wichtigstes betrachte. Aber ich bin auch immer noch da. Noch halb in Gedanken wendete ich mich an Herr Lucas. „Der Mittelpunkt ist man selbst doch in der Liebe überträgt sich ein Teil des Mittelpunkts auf die Person, die man liebt.“ Ich hielt inne, doch meine Gedanken arbeiteten unaufhörlich weiter. „Der Mittelpunkt ist die Liebe, der Zusammenhalt. Zwei Menschen, die den gleichen Mittelpunkt haben, werden sich ewig lieben.“ Ich schaute ihn an.
Er wirkte ernst. „Ja das ist es, Severin genau das ist es.“ Es entstand wieder eine Pause. Die Schwäne schnappten mit ihren Schnäbeln nach dem Wasser. Der eine Schwan war etwas grauer als der andere. Aber beide waren auf ihre Weise schön. Herr Lucas setzte erneut an. „Weißt du, ich habe eine Tochter in deinem Alter. Ich würde euch gerne mal bekannt machen, sie heiß Amèlie.“ Ein Lächeln umspielte sein Gesicht. „Sie ist wirklich bezaubernd. Sie wird dir gefallen.“ Ich lächelte zurück. „Ja, vielleicht.“
Ein Ruderboot kam vorbei. Kleine Wellen schwappten gegen unseren Steg.
Die Welt ist schön, fuhr es mir durch den Kopf. Und die Liebe ist ein Wunder.