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Liebesflucht
Um es gleich zu sagen: Ich werde gesucht. Die Polizei verfolgt meine Spur seit drei Jahren, aber alles, was sie wissen ist, dass ich Deutschland verlassen habe. Zu gut waren meine Vorbereitungen.
Seit meinem Verschwinden lebe ich hier in Argentinien, in einer kleinen Stadt, deren Namen ich nicht nennen kann. Die Justiz vermutet mich in Südamerika, da mein Flug damals nach Brasilien ging. Hier kann ich mich sicher fühlen. Trotzdem kleide ich mich anders, habe eine andere Frisur und einen gefälschten Pass. Ich bin jetzt Schwede.
Es ist fast das ganze Jahr schönes Wetter, abgesehen von den wenigen Wochen während der Regenzeit. Ich habe eine gut bezahlte Arbeit beim Straßenbauamt gefunden, wohne in einer kleinen Mietwohnung und brauche nur fünfzehn Minuten zum Strand mit den schönsten Mädchen, die man sich vorstellen kann. Ich habe Castellano gelernt, das Spanisch, das man hier spricht. Obwohl ich anfangs glaubte, das schaffe ich nie .
Es gibt einen Vergnügungspark ganz in der Nähe, einen mittelgroßen Zoo und zahlreiche Kneipen und Bars. Ich mag die temperamentvolle Gelassenheit der Menschen, die fehlende Hektik, inzwischen sogar den lockeren Umgang mit Terminen. Wenn jemand sagt, dass er um sieben Uhr da sei, kann er genauso gut um sechs oder elf kommen. Aber auch damit komme ich klar.
Ich könnte hier glücklich sein. Ich könnte mich am Strand von vollbusigen Frauen verwöhnen lassen und in ihren Armen alle Last ablegen. Ich könnte mir hier an jedem Wochenende bei einem Asado den Bauch mit Tira, Morcillas und Chorizos vollschlagen und mich dazu mit dem großartigen Wein ins Vergessen trinken. Sogar an den gegrillten Därmen und Nieren habe ich Geschmack gefunden.
Doch, um ehrlich zu sein: es kotzt mich an. Jedes Wort Castellano, das ich höre, macht mich aggressiver, treibt mich fast in Rage. Jeden morgen möchte ich der Sonne am liebsten ihr hämisches Grinsen ausprügeln und sie fragen, für wen sie sich hält. Dann beginne ich Hass zu weinen. Hass, auf mich, auf die Ungerechtigkeit in der Welt, Hass auf alles und jeden.
Nachdem ich mich durch die Nächte gekämpft habe, gehe ich Arbeiten. Jeden Tag arbeite ich acht Stunden. Ich würde es umsonst tun. Die Arbeit lenkt mich ab von den dummen Gedanken. Ohne sie wäre ich verloren. Es sind die einsamen Stunden, die mich traurig machen, abends, wenn es zu dämmern beginnt. Oft sitze ich nach dem Abendessen auf meinem Balkon im zweiten Stock, von Fliegen und Grübeleien an die ferne Heimat umschwirrt und denke an Mutters Küche, an Schnee im Winter, Stürme im Herbst, an Biergärten, aber vor allem: an Josi und Melanie. Immer noch!
Seit drei Jahren haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Sie wird überwacht!
Ich erinnere mich noch genau an unseren ersten Kuss, damals an einem eisigen Wintertag auf der Bank im Park. Ihre Lippen fühlten sich weich an, schmeckten nach dem Erdbeerlabello, den sie immer benutzte .
Schon in der Grundschule hatten wir gemeinsam gespielt, sind dann zusammen aufs Gymnasium gegangen. Dort haben wir uns ineinander verliebt. Man könnte fast meinen, unsere Beziehung wäre wie im Film verlaufen. Und irgendwie ist sie es auch. Oft genug stritten wir, um uns kurz darauf im Bett zu versöhnen. Sie ist die einzige Frau, mit der ich je geschlafen habe, und sie wird, das habe ich mir geschworen, auch die einzige bleiben. Egal, wie sehr die von Bikinis knapp verborgenen Rundungen am Strand hier locken.
Ich konnte ihr nie lange böse sein, und ich glaube, sie mir auch nicht. Spätestens, wenn sie eine Strähne hinters Ohr strich, in dieser unnachahmlichen Art, wie nur sie es konnte, verliebte ich mich aufs Neue in sie. Doch nun sitze ich hier. Allein. Ich hätte sie so gerne mitgenommen, aber das wäre nicht gegangen. Sie hätte mich nur von meiner Idee abbringen wollen. Sie hätte es nicht zugelassen.
Nach zwei Jahren wurde Melanie schwanger und gebar unsere Tochter Josi. Damals war ich außer mir vor Freude, mein Glück war vollkommen. Nach fünf Tagen holte ich Melanie und Josi aus der Klinik ab. Anfangs verbrachte ich jede freie Minute mit den beiden, danach nicht viel weniger. Ich brachte Josi in den Kindergarten, gab ihr einen Abschiedskuss, und holte sie nachmittags wieder ab, später half ich ihr bei den Schularbeiten und fuhr sie zum Kinderturnen. An Samstagen puzzelten wir immer gemeinsam. Wenn ich Urlaub hatte, reisten wir an den Gardasee, nach Frankreich oder in die Berge. Als Josi acht wurde, fuhren wir zum Skilaufen nach Österreich. Nie war ich glücklicher als in diesen acht Jahren.
Doch in mir verblassen langsam die Erinnerungen, ich sehe sie nur noch durch einen Schleier, der immer dichter und undurchsichtiger wird. Jean Paul hat einmal gesagt, dass die Erinnerung das einzige Paradies sei, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Heute, wenn ich grübelnd weine, weiß ich, er hatte Unrecht. Leider.
Ich sitze auf meinem Balkon und betrachte das Bild, das mir geblieben ist. Melanie und Josi stehen vor einer Waldlichtung und lächeln in die Kamera. Doch die Gesichter der beiden erscheinen mir von Tag zu Tag fremder. Ich habe Angst zu vergessen, entsetzliche, fast panische Angst.
Wie gerne würde ich Melanie jetzt anrufen, mit ihr über alles reden, mit ihr weinen, ihre Haut berühren, ihr Haar riechen ... Ich sehne mich so schrecklich nach ihr! Ich starre weiter auf das Bild, erkenne vor lauter Tränen nichts mehr.
Ich sollte den nächsten Flieger nach Deutschland nehmen, nach Hause. Zu Melanie, stattdessen sitze ich hilflos und tatenlos auf meinem Sessel.
Die Vernunft, die mich packt, wenn die Gedanken wieder klar werden, ist kein Trost. »Du kannst nicht nach Hause« flüstert sie. »Nie mehr! Sie würden dich an der Haustür verhaften, falls du es überhaupt so weit schaffen würdest.« Doch vielleicht wünsche ich mir genau das. Was sind schon ein paar Jahre Gefängnis gegen dieses scheiß Leben hier? Melanie würde mich sicher im Knast besuchen, dann hätte ich sie wieder. Ich glaube nicht, dass ich Angst habe, meine Freiheit zu verlieren. Hier bin ich auch gefangen. Gefangen in Erinnerungen, in Schmerz und Leid. Wie oft hatte ich meine Koffer gepackt und war abflugbereit? Wie oft habe ich mich in Gedanken der deutschen Justiz gestellt? Aber ich bringe es einfach nicht fertig wieder nach Deutschland zu fliegen. Ich fürchte mich vor der Ungewissheit. Was wenn Melanie mich nicht mehr liebt? Was habe ich dann? Die öffentliche Schmach und Verachtung würde mir in jedem Fall bleiben und ich hätte niemanden mehr. Hier kann ich wenigstens ein ruhiges, unbeachtetes Leben führen und habe die Chance zu vergessen.
Ich hole das Fotoalbum, blättere um und sehe die Todesanzeige Josis vor mir. Schon steigt wieder, derselbe unbändige Zorn in mir auf, dieser unkontrollierte Hass, den ich damals gespürt habe. Und ich bin mir sicher, dass ich es wieder tun würde. Ich würde dem Arschloch, das Josi, auf einem Zebrastreifen überfuhr, wieder mit der verdammten Axt seinen verfickten Mörderschädel einschlagen.
Ich würde es tun, weil ich nicht anders könnte. Es wäre mir egal, ob er unschuldig ist, ob Josi, ohne zu schauen, direkt vor den LKW gelaufen ist.
Ich hätte wieder alles bis ins letzte Detail geplant, hätte ihm aufgelauert, um dann, wie ein Besessener auf ihn einzuschlagen und anschließend zu fliehen. Ich würde es wieder genau so machen.