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life in concert

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15.08.2003
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life in concert

Fremde, wilde Hände zerren an meinem Pullover. Und Frank an meinem Arm, durch die Hände hindurch, nach backstage. In backstage gibt es nur Frank und mich. Keine Hände, die reißen, und keine lauten Stimmen außer Franks.

Frank ist nervös. Er geht auf und ab, schreit sein Telefon an, schaut besorgt zu mir, schreit Stefanie an, sie soll was zu trinken bringen. Stefanie bringt. Sie schleicht um Frank und das Telefon herum und stellt ein Bier auf den Tisch. Mir drückt sie ein Glas Saft in die Hände und flüchtet. Frank schlägt den Hörer auf den Schreibtisch, läuft im Slalom um Tisch und Stuhl. Bemerkt mich und gibt mir die Geige. „Üb mal was.“ Ich gehe ins Nebenzimmer. Spanne den Bogen. Schwinge ihn über die Saiten. Stefanie lauscht vor der Glastür. Der Bogen fliegt, ich führe die Töne, tanze mit ihnen durch den Raum, der sich mit Farben füllt. Töne schweben durch mich hindurch, durch die Tür und durch Stefanie. Echtes Leben um mich herum. Das Holz zittert, spürt die Kraft, die es befreit. Ich beschleunige, und die Töne schwirren durch den Raum, stoßen an die Wände, finden meine Ohren, durchdringen meinen Körper. Mein Kopf rauscht, der Bogen fliegt.

Frank reißt die Tür auf und zerrt an meiner Schulter. „Mach schon, los, sie warten.“ Schiebt mich zu zwei im Anzug, vor Kameras. Auf „Kamera läuft“ schalten sie ihr Lächeln ein. Bewerfen mich mit Worten. Frank steht im Dunkeln, ich sitze im Licht. Alle Scheinwerfer auf mich. Es blendet, ich schaue auf meine Füße. Mir ist langweilig. Ich mach, als hätte ich sie nicht gehört. Noch mal von vorne. Aus ihren Mündern quellen die Töne, scharf und aggressiv. Ich will eine Geige, mit ihr antworten. Aber Frank wird sicher wütend werden, ich sollte etwas sagen. Sie reißen sich um meine Worte, jubeln. Ich habe sie beachtet, also reden sie weiter, durch mich hindurch, stürzen sich auf meine Antworten. Fragen nicht mehr nach den Tönen, fragen nach Spielen und Familie und Schule. Verabschieden sich. Kamera, Scheinwerfer und Lächeln ausblenden. Aber Frank lächelt noch; mehr Geld für ihn.

Wir essen teuer mit meinen Eltern. Ich bezahle, aber es ist Frank, der den Kellnern mein Geld gibt. Ich zerschneide meine Nudeln, lege sie zu Mustern. Meine Mutter redet auf mich ein. Jeden Tag dasselbe. Ich hör ihr nicht zu. Mein Vater fragt nach dem Geld. Er hat sich eine Uhr gekauft. Er kann jetzt das ganze Jahr einkaufen gehen.

Später in backstage liege ich auf meinem Sofa und schlafe. Die Geige ist bei mir, ich kann ihr Schweigen hören.

Am Abend bin ich dann im Saal, mein Hals ist eng, die Geige ruht auf meiner Schulter, der Bogen schwebt in meiner Hand. Ich spiele mit Orchester die Töne eines anderen, die Geige will nicht, ich muss sie zügeln. Tausend Ohren fangen diese Musik auf, aber ich überhöre sie. Die fremden Töne klingen scharf und weit entfernt. Sie sagen mir nichts. Erst nach der Pause darf die Geige alleine sprechen, sie erzählt mir Märchen, ich fliege mit ihr davon, fort von der Menge, die bei uns schmarotzt. Lasse Frank hinter dem Vorhang mit dem Telefon alleine, winke meinen Eltern zu, die unter mir sitzen. Die Töne werden zu mir und ich zu den Tönen. Sie sprechen zu mir und mit mir. Ich gebe ihnen Formen und Farben. Das Holz singt, und nur ich kann es spüren.

Um elf bin ich im Foyer. Frank trinkt Champagner mit meinem Vater. Die Stimme meiner Mutter kreischt auf mich ein, dringt durch mich hindurch, mein Kopf beschwert sich. Ich nicke und lächle, wenn es blitzt. Die Geige ist im Hotel, aber noch stecken die Töne in den Wänden. Wenn ich die Wand anfasse, schwingen sie durch meine Hände in meinen Bauch, bilden eine Melodie, die nur mir gehört und niemand sonst hören darf.

Mit meiner eigenen Musik im Kopf schlafe ich auf einem Sessel ein.

 

Hallo Anea,

mir hat die Geschichte gut gefallen und ich bin auch nirgends über Ungereimtheiten gestolpert. Der Vorwurf der Klischee-Charaktere mag irgendwo richtig sein, aber wie kommt es zu Klischees? In der Regel, weil es diese Charaktere/Verhaltensmuster zu Hauf gibt. Warum dann nicht in einer Geschichte, die in "Alltag" steht? Da Figuren wie der Manager oder die Eltern sicherlich häufig existieren, finde ich das alles auch nicht an den Haaren herbeigezogen. Und du hast es geschafft, die Figuren so zu schildern, dass man den Eindruck hat, sie zu kennen, hinter die Kulissen blicken zu können. Der macht- und geldbesessene Manager; die Eltern mit den Euro-Zeichen in den Augen, denen so wenig am Wohlergehen des Kindes liegt; der Prot selbst, der noch absolut kindlich ist und dem der ganze Trubel um seine Person zuviel ist, der einfach nur Musik machen möchte, seine Musik.

Gelungen fand ich beispielsweise die Passage auf der Bühne, die das Empfinden des Prots widerspielgelt. Als er althergebrachte Stücke spielen muss, kommt keine rechte Spielfreude in ihm auf, er macht alles mechanisch, ist gelangweilt. Doch das Publikum merkt es gar nicht, lauscht hingerissen den Tönen seiner Geige, lässt sich nur zu leicht täuschen. Erst als der Prot seine eigene Musik spielen kann, geht er in ihr auf. Dabei vergisst er alles um sich herum. Sicherlich der Grund, der ihn durchhalten und weitermachen lässt.

Eine Formulierung ist mir aufgefallen, die ich so nicht kenne. "In backstage" habe ich nie gehört. Ich würde das "in" streichen und den inzwischen eingedeutschten Begriff groß schreiben, also einfach "Backstage". Das ist aber auch schon meine einzige Anmerkung.

Viele Grüße
Kerstin

 

deine Geschichte hat mir super gut gefallen. Habe mich darin in fast allen Punkten wiedergefunden...
Musik hat fuer den Musiker was heiliges an sich und das hast du eingefangen in deiner Geschichte.

 

Vielen Dank für eure Rückmeldungen, ihr drei...

@ Kerstin: Ja, es war mir wichtig, dass es so wirkt. Der typische Manager und die typischen Eltern spielen sicher mit, sind aber nicht von unmittelbarer Bedeutung für den Prot...
Zur Formulierung: Mir gefällt diese kindliche Annahme, dass "backstage" ein Ort ist und nicht einfach nur ein Begriff für hinter der Bühne. Da es aber schon mehrmals angemerkt wurde, überleg ich mir vielleicht doch, ob ich es nicht ändere.

Ich wünsch' Euch ein kreatives neues Jahr...

Anea

 

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