Was ist neu

Linie 9

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11.06.2004
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Linie 9

Der Busfahrer warf ihm einen müden Blick zu, als er einstieg.
Die Nacht war kalt gewesen.
Er setzte sich an einen Fensterplatz und sah nach draußen. Dunkelheit und Stille des Morgens.
Es war 5:13 Uhr.
Dies war sein Tag. Ein langer Tag. Ein Tag im Bus.

Er beobachtete die Menschen.
Eine alte Dame mit Gehwagen, in einen dunklen Mantel gehüllt, das Gesicht grau wie die Haare, Falten um die Mundwinkel, glasige Augen, Dinge suchend, die schon lange nicht mehr zu finden waren.
Ein kleines Mädchen mit Schulranzen, beinahe größer als ihr ganzer Rücken, blondes Haar, Pferdeschwanz, Sommersprossen, Wollmünze, Jacke, Kaugummi.
Eine Gruppe Jugendlicher, ausgelassen, Kopfhörer im Ohr, Gel im Haar.
Der Bus fuhr weiter.
Und sein Blick wanderte.

Er tat dies öfter. Bus fahren. Aber nicht, wie andere Menschen dies tun: nicht von einer Haltestelle zur nächsten, sondern den ganzen Tag lang. Immer derselbe Bus, von der ersten bis zur Endstation und wieder zurück. Und wieder zurück. Und wieder. Und wieder.
Den ganzen Tag.
Und abends ging er nach Hause in seine kleine Wohnung mit den vielen alten Fotoalben.

Er saugte alle Eindrücke in sich auf.
Die Härchen am Hals einer Frau, die im einstrahlenden Sonnenlicht silbern leuchteten, die Bartstoppel am Kinn und unter den Ohren eines älteren Mannes, die der Rasur am Morgen entgangen waren, die Schweißflecken auf dem hellen Hemd unter den Achseln eines jungen Mannes, die tanzenden, zitternden Augen eines kleinen Jungen, der den Blick aus dem Fenster gerichtet mit seinen Fingern ein Stofftier umklammerte. Die schmutzigen, alten Adidasturnschuhe einer jungen Frau, die voller Schlamm waren, vielleicht von Spaziergängen am nahen Ufer?

»Ihre Fahrkarte, bitte.«
Er hatte eine Tageskarte. Immer. Aber nur selten wurde er kontrolliert.
Der Kontrolleur trug ein graue Mütze und Lederjacke. Sein Bart war sauber gestutzt, eine kleine Narbe am Kinn. Seine Augen musterten die Fahrkarte, überprüften die Zahlen, die darauf gedruckt waren.
»Danke.«
»Keine Ursache«, murmelte er. Seine Stimme war heiser und er räusperte sich.

Er mochte keine Parks, ging nicht gern ins Schwimmbad und das Kino war ihm unangenehm. Im Stadtpark sah er oft alte Männer Backgammon oder Schach spielen, im Schwimmbad waren zu viele Frauen und das Kino zeigte ihm immer dieselben Träume.

Jemand setzte sich im Bus neben ihn. Er roch Parfüm, Shampoo, Mundwasser. Der Geruch war ihm unangenehm, aber er drehte seinen Kopf nicht zur Seite.
Er mochte Gerüche nicht. Und im Bus gab es viele davon, mehr als Farben oder Gäste oder beides zusammen.

Nachmittags war er immer ein bisschen müde, manchmal schlief er auch ein, an das rüttelnde Plastikfenster gelehnt, das Kinn auf die Brust gefallen.
Wenn er aufwachte, fühlte er sich erholt.
Und manchmal warf ihm ein Fremder auch ein Lächeln zu, wenn er die Augen schlaftrunken wieder aufschlug.
Er lächelte immer zurück.

Er belauschte sie.
»...ich komme heute etwas später, das Büro - und diese blöde Geschichte mit Sebastian, ich weiß nicht...«
»... meine Tante, ja, sie kommt morgen und will mir wieder etwas von diesem Tee mitbringen...«
»... und dann hab ich gesagt, er kann sich seinen blöden Zettel in den Hintern stecken...«
Fast war es, als würden sie mit ihm sprechen.

Um vier Uhr war wieder die Hölle los.
Menschen drängten sich in den Bus, auf die Sitze, neben ihn, vor ihn, hinter ihn. Er war mitten unter ihnen, fühlte sie, spürte sie, roch sie, sah sie, hörte sie, alles war voller Menschen, voller Gesichter, Augen, Münder, Zungen, er spürte Hände an seinen Hüften, spürte, wie sich jemand in seinen Rücken drückte.
Er hätte nur den Finger ausstrecken müssen, den kleinen Finger, um einen von ihnen zu berühren und es wäre niemandem aufgefallen.
Aber er tat es nicht.

Manchmal saß hinter ihm ein Fahrgast, den er atmen hören konnte.
Er stellte sich vor, dieser habe eine Waffe und richte sie direkt auf seinen Kopf, stellte sich vor, wie er kühles Metall auf seiner Haut fühlte.
Spürt man es, dachte er, wenn eine Kugel den Schädel durchschlägt und durch den Augapfel dringt? Sieht man mit dem anderen Auge wie das Geschoss aus dem Kopf heraus bricht und unzählige Knochensplitter und Blut mit sich reißt?
Er fragte sich: Hört man den Knall?
Und: Wäre es ein Unterschied?
Würde der Bus anhalten - seinetwegen?
Oder einfach weiterfahren?

 

Lieber chazar!

Ich habe auch schon einige Geschichten gelesen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln spielen und damit irgendetwas Gesellschaftliches, Psychologisches oder Philosophisches aufzeigen. Aber ich habe das nicht als störend empfunden, weil sie doch verschieden genug sind, jede von ihnen etwas anderes beleuchtet. Sie sind so individuell, wie die Geschichten eines Challenge "Im Bus" verschieden wären, und da interessiert es mich schon, was jeder einzelne dazu schreibt. Anders wäre es, würden sie z.B. alle ausschließlich das Thema Klaustrophobie behandeln.

Aber ich muß zugeben, daß mir auch der Schluß am besten gefallen hat. Erst am Schluß bekommt Deine Geschichte nämlich die richtige Tiefe, erst da darf der Protagonist richtige eigene Gedanken haben, die nicht nur Beobachtungen sind.
Ich will damit nicht sagen, daß das Beschreibende nicht auch genug Aussagekraft hätte, aber durch mehr Tiefe könnte die Geschichte noch viel gewinnen. Wenn er sich etwa Gedanken über Kleinigkeiten machen würde, zum Beispiel darüber sinniert, ob das Mädchen die Zöpfe gern hat oder haben muß und ob sie wohl glücklich ist. – Anhand dessen, welche Gedanken er sich macht, könntest Du sein Inneres/seine Vergangenheit/seine Weltsicht noch ein bisschen mehr ausleuchten.

Ein junges Mädchen mit Schulranzen, beinahe größer als ihr ganzer Rücken,
– »junges« würde ich entweder streichen oder durch »kleines« ersetzen (was allerdings auch schon durch die Proportion zum Schulranzen gesagt ist). Wenn das Gegenteil eines Adjektives keinen Sinn ergibt (altes Mädchen), kann man es jedenfalls weglassen, oder es ist das falsche. ;)

Er roch Parfüm, Shampoo, Mundwasser. Der Geruch war ihm unangenehm, aber er drehte seinen Kopf nicht zur Seite.
Er mochte Gerüche nicht.
– Hier hingegen würde ich noch ein Adjektiv einfügen, »Er mochte so aufdringliche Gerüche nicht«, oder den Satz ganz streichen, da eigentlich »Der Geruch war ihm unangenehm« auch schon sehr deutlich ist. Stattdessen könnte er sich, wie oben vorgeschlagen, Gedanken über den Menschen neben sich machen.

sim schrieb:
auch wenn ich sicher bin, ein solcher Fahrgast würde unter den Busfahrern die Runde machen.
Ich glaube auch, daß sie ihn mit der Zeit sicher grüßen würden. Und über ihn reden wohl auch, aber das gehört nicht zur Geschichte. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hi Susi!

Danke für deine Gedanken. (Mhm, Danke kommt in Gedanken vor...)

Aber ich muß zugeben, daß mir auch der Schluß am besten gefallen hat. Erst am Schluß bekommt Deine Geschichte nämlich die richtige Tiefe, erst da darf der Protagonist richtige eigene Gedanken haben, die nicht nur Beobachtungen sind.
Scheinbar ist es mir nicht recht geglückt, die Geschichte so umzusetzen, wie ich gehofft hatte.
Durch die Dinge, die er beobachtet, wollte ich den Prot eigentlich charakterisieren, ganz ohne seine Gedanken auch wirklich aufzuschreiben.

Anhand dessen, welche Gedanken er sich macht, könntest Du sein Inneres/seine Vergangenheit/seine Weltsicht noch ein bisschen mehr ausleuchten.
Ich wollte dies eben angand der Dinge, die er beobachtet, deutlich machen.
Oder durch Sätze wie...

die voller Schlamm waren, vielleicht von Spaziergängen am nahen Ufer?
Er mochte keine Parks, ... dieselben Träume.
Er lächelte immer zurück.
Fast war es, als würden sie mit ihm sprechen.
ect.

Ich glaube auch, daß sie ihn mit der Zeit sicher grüßen würden. Und über ihn reden wohl auch, aber das gehört nicht zur Geschichte.
Richtig.
Und zweitens: vielleicht lässt sich der Busfahrer nur nicht anmerken, dass er ihn kennt. Oder er ist neu und fährt diese Strecke noch nicht so häufig. Oder der Prot benutzt die Linie 9 an diesem Tag zum ersten Mal.

Wenn das Gegenteil eines Adjektives keinen Sinn ergibt (altes Mädchen), kann man es jedenfalls weglassen, oder es ist das falsche.
Hehe, hast natürlich vollkommen Recht.

Grüße
c

 

Ich wollte dies eben angand der Dinge, die er beobachtet, deutlich machen.
Oder durch Sätze wie...
Hm, für mich ist das noch zu distanziert. Ich krieg zwar mit, wie Du ihn beschreiben willst, aber fürs Mitfühlen reicht es nicht, er bleibt mir doch eher fremd dabei.

Sehr gut fand ich aber "Fast war es, als würden sie mit ihm sprechen" - das wollte ich eigentlich vorher noch erwähnen und hab dann drauf vergessen - ich sollte tagsüber keine Kritiken schreiben, da bin ich abgelenkt. Vielleicht les ich sie ja abends noch einmal...;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Lieber chazar!

Durch die Dinge, die er beobachtet, wollte ich den Prot eigentlich charakterisieren, ganz ohne seine Gedanken auch wirklich aufzuschreiben.
Also ich finde noch immer, daß es ein bisschen wenig ist. Aber ich geh´s einfach mal durch:

»Der Busfahrer warf ihm einen müden Blick zu, als er einstieg.
Die Nacht war kalt gewesen.
Er setzte sich an einen Fensterplatz und sah nach draußen. Dunkelheit und Stille des Morgens.
Es war 5:13 Uhr.
Dies war sein Tag. Ein langer Tag. Ein Tag im Bus.«

– Ein Tag im Bus = ein Tag Leben = ein Tag Wärme.

»Er beobachtete die Menschen.«
– er schaut dem Leben zu

»Eine alte Dame mit Gehwagen, in einen dunklen Mantel gehüllt, das Gesicht grau wie die Haare, Falten um die Mundwinkel, glasige Augen, Dinge suchend, die schon lange nicht mehr zu finden waren.«
– er schließt von sich auf die alte Frau: er sucht Dinge, die nicht mehr zu finden sind.

»Ein kleines Mädchen mit Schulranzen, beinahe größer als ihr ganzer Rücken, blondes Haar, Pferdeschwanz, Sommersprossen, Wollmünze, Jacke, Kaugummi.
Eine Gruppe Jugendlicher, ausgelassen, Kopfhörer im Ohr, Gel im Haar.
Der Bus fuhr weiter.
Und sein Blick wanderte.«
– kann hier nichts auf ihn schließen.

»Er tat dies öfter. Bus fahren. Aber nicht, wie andere Menschen dies tun: nicht von einer Haltestelle zur nächsten, sondern den ganzen Tag lang. Immer derselbe Bus, von der ersten bis zur Endstation und wieder zurück. Und wieder zurück. Und wieder. Und wieder.
Den ganzen Tag.«
– Eigentlich hab ich das schon im ersten Absatz mitbekommen. Bin mir nicht sicher, ob Du es noch einmal betonen willst, oder ob Du glaubst, der Leser hat es noch nicht verstanden. – Er fährt halt immer dieselbe Strecke hin und her, wie sein Leben auch jeden Tag gleich und eintönig ist, ohne Abwechslung, ohne Höhepunkte von einer Haltestelle zur nächsten.

»Und abends ging er nach Hause in seine kleine Wohnung mit den vielen alten Fotoalben.«
– Hier hätte ich zum Beispiel gern mehr erfahren, im nächsten Satz (»Er saugte alle Eindrücke in sich auf«) bist Du schon wieder im Bus… Die Fotoalben können aussagen, daß er ein bewegtes Leben hatte – müssen sie aber nicht: Man kann auch alleine herumgehen und fotografieren, Eindrücke festhalten, wie er es im Bus macht. Es wäre also zum Beispiel interessant, was auf den Fotos drauf ist, zumindest, ob da Menschen sind und ob es auch Fotos von ihm gibt.

»Die Härchen am Hals einer Frau, die im einstrahlenden Sonnenlicht silbern leuchteten, die Bartstoppel am Kinn und unter den Ohren eines älteren Mannes, die der Rasur am Morgen entgangen waren, die Schweißflecken auf dem hellen Hemd unter den Achseln eines jungen Mannes, die tanzenden, zitternden Augen eines kleinen Jungen, der den Blick aus dem Fenster gerichtet mit seinen Fingern ein Stofftier umklammerte. Die schmutzigen, alten Adidasturnschuhe einer jungen Frau, die voller Schlamm waren, vielleicht von Spaziergängen am nahen Ufer?«
– Tut mir Leid, aber darin sehe ich einfach nicht mehr als das, was er beobachtet. Daß er sich fragt, ob die Schuhe vom nahen Ufer schmutzig sind, kann naheliegend sein, wenn dort ein Ufer ist, aber Rückschlüsse auf den Protatonisten kann ich dabei nicht ziehen.

»»Ihre Fahrkarte, bitte.«
Er hatte eine Tageskarte. Immer. Aber nur selten wurde er kontrolliert.
Der Kontrolleur trug ein graue Mütze und Lederjacke. Sein Bart war sauber gestutzt, eine kleine Narbe am Kinn. Seine Augen musterten die Fahrkarte, überprüften die Zahlen, die darauf gedruckt waren.
»Danke.«
»Keine Ursache«, murmelte er. Seine Stimme war heiser und er räusperte sich.«
– Ein anständiger Mensch, »gut« erzogen wohl, und ein ordentlicher Kontrollor. Es wird wohl für den Protagonisten zu den Erlebnissen des Tages gehören, jemand hat mit ihm geredet. Nur hatte dieses Reden nichts mit ihm persönlich zu tun, sondern nur mit Zahlen…

»Er mochte keine Parks, ging nicht gern ins Schwimmbad und das Kino war ihm unangenehm. Im Stadtpark sah er oft alte Männer Backgammon oder Schach spielen, im Schwimmbad waren zu viele Frauen und das Kino zeigte ihm immer dieselben Träume.«
– Kann heißen: Er gönnt sich kein Vergnügen. Kann auch heißen: Er hat seine Frau verloren und es tut ihm weh, andere Frauen zu sehen, im Kino von Liebe zu hören; mit den spielenden Männern fange ich in dem Fall nichts an.

»Jemand setzte sich im Bus neben ihn. Er roch Parfüm, Shampoo, Mundwasser. Der Geruch war ihm unangenehm, aber er drehte seinen Kopf nicht zur Seite.
Er mochte Gerüche nicht. Und im Bus gab es viele davon, mehr als Farben oder Gäste oder beides zusammen.«
– Er will unter Menschen sein, aber zu nahe auch wieder nicht? Erinnern ihn Parfum, Shampoo und Mundwasser vielleicht an seine Frau?

»Nachmittags war er immer ein bisschen müde, manchmal schlief er auch ein, an das rüttelnde Plastikfenster gelehnt, das Kinn auf die Brust gefallen.
Wenn er aufwachte, fühlte er sich erholt.
Und manchmal warf ihm ein Fremder auch ein Lächeln zu, wenn er die Augen schlaftrunken wieder aufschlug.
Er lächelte immer zurück.«
– Warum fühlt er sich erholt? Vielleicht, weil er im rüttelnden Bus nicht so tief schlafen kann, daß er irgendwelche angstmachenden Sachen träumt? Ich kann nur raten…
Natürlich freut er sich, wenn ihn jemand anlächelt, und er lächelt dankbar zurück – wieder ein Erlebnis.

»Er belauschte sie.
»...ich komme heute etwas später, das Büro - und diese blöde Geschichte mit Sebastian, ich weiß nicht...«
»... meine Tante, ja, sie kommt morgen und will mir wieder etwas von diesem Tee mitbringen...«
»... und dann hab ich gesagt, er kann sich seinen blöden Zettel in den Hintern stecken...«
Fast war es, als würden sie mit ihm sprechen.«
– Eigentlich reden sie ja alle drei weder von sich noch von ihrem Gesprächspartner, sondern über Dritte. Also unpersönlich, irgendwie oberflächlich. Daß es für ihn fast so ist, als würden sie mit ihm sprechen, kann bedeuten, daß sich eigentlich nie jemand wirklich für ihn persönlich interessiert hat.

»Um vier Uhr war wieder die Hölle los.
Menschen drängten sich in den Bus, auf die Sitze, neben ihn, vor ihn, hinter ihn. Er war mitten unter ihnen, fühlte sie, spürte sie, roch sie, sah sie, hörte sie, alles war voller Menschen, voller Gesichter, Augen, Münder, Zungen, er spürte Hände an seinen Hüften, spürte, wie sich jemand in seinen Rücken drückte.
Er hätte nur den Finger ausstrecken müssen, den kleinen Finger, um einen von ihnen zu berühren und es wäre niemandem aufgefallen.
Aber er tat es nicht.«
– Hier kommt die Einsamkeit in der Masse gut heraus. Es wäre so einfach (=kleiner Finger), mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, aber er traut sich nicht, kann nicht.

»Manchmal saß hinter ihm ein Fahrgast, den er atmen hören konnte.
Er stellte sich vor, dieser habe eine Waffe und richte sie direkt auf seinen Kopf, stellte sich vor, wie er kühles Metall auf seiner Haut fühlte.
Spürt man es, dachte er, wenn eine Kugel den Schädel durchschlägt und durch den Augapfel dringt? Sieht man mit dem anderen Auge wie das Geschoss aus dem Kopf heraus bricht und unzählige Knochensplitter und Blut mit sich reißt?«
– Einerseits zeigt mir diese Stelle, daß er Angst hat, andererseits werden hier glaub ich zum ersten Mal Gefühle angesprochen, wenn sie auch nur mit Schmerzen bzw. Angst vor Schmerzen zu tun haben.
Obendrein hat es, gemeinsam mit den nächsten beiden Zeilen…
»Er fragte sich: Hört man den Knall?
Und: Wäre es ein Unterschied?«
…irgendwie auch wieder etwas Beobachtendes. Er schaut dem Leben zu und würde auch seinen eigenen Tod mehr beobachten als zu erleben (»erleben« klingt blöd in dem Zusammenhang).

»Würde der Bus anhalten - seinetwegen?
Oder einfach weiterfahren?«
– Er will wissen, ob er wichtig genug ist, ob der Bus – alle – wegen ihm stehenbleiben. Schade, daß ihn das erst in Bezug auf seinen Tod interessiert, und nicht schon vorher.


Also, lieber chazar: Ich bin fest davon überzeugt, daß Du mehr aussagen wolltest, als ich hier rausgeklaubt hab. Aber ich finde es nicht, ist wohl zu gut versteckt. :sad: ;)
Ich weiß nicht, warum er so ist, obwohl Du ja etwas in der Vergangenheit andeuten wolltest. Setzt Du vielleicht irgendetwas voraus, das bei mir nicht zutreffen? Also daß Du zum Beispiel davon ausgehst, daß man mit Fotos automatisch Familienfotos verbindet?

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi!

Mann, hast du dir da Mühe gemacht. Freut mich sehr.
Auf Vieles müsste ich gar nicht eingehen, da es fast genau das aussagt, was ich aussagen wollte, manches will ich noch erläutern.

er schaut dem Leben zu
Ja, genau, soweit richtig.

er schließt von sich auf die alte Frau: er sucht Dinge, die nicht mehr zu finden sind.
Ja, die alte Frau mag ihn an seine eigene Vergangenheit erinnern.

kann hier nichts auf ihn schließen.
Nein, denn natürlich dient nicht jeder Satz dazu, den Prot zu charakterisieren. Hier z.B. wollte ich typische Busgäste beschreiben. Und mit der Beschreibung eben die Details hervorheben, die auch der Prot betrachtet.

Eigentlich hab ich das schon im ersten Absatz mitbekommen.
Redundanz schadet nie, oder? Ich wollte diesen Punkt eben deutlich machen, deshalb die Wiederholung.

Hier hätte ich zum Beispiel gern mehr erfahren
Ja, die Fotoalben. Dazu will ich gar nicht mehr schreiben, denn es ist Sache des Lesers, sich hier eine eigene Meinung zu bilden.
Ein anderer Kritiker (Salem, glaub ich), fragte, ob es eigentlich ein alter Mann ist, der da rumfährt. Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber ich finde es gut, dass es offen ist, dass jeder etwas anderes darin sehen kann, dass jeder diese Geschichte anders liest und das vielleicht nur die Grundstimmung die selbe ist. Naja, so habe ich mir das zumindest vorgestellt.
Und deine Ideen zum Fotoalbum sind ja wunderbar und schön. Warum sollte ich dir da meine verraten?

Tut mir Leid, aber darin sehe ich einfach nicht mehr als das, was er beobachtet.
Gut, aber wen beobachtet er?
Eine junge Frau... und er beobachtet ihren Nacken.
Einen alten Mann (darauf kommt auch später noch ein Hinweis...), vielleicht erinnert ihn der an seinen Vater.
Und eine junge Frau, bei dem ihm der Gedanken an einen Spaziergang kommt... vielleicht erinnert diese Frau ihn wirklich an seine eigene.

Er mochte keine Parks, ging nicht gern ins Schwimmbad und das Kino war ihm unangenehm. Im Stadtpark sah er oft alte Männer Backgammon oder Schach spielen, im Schwimmbad waren zu viele Frauen und das Kino zeigte ihm immer dieselben Träume.
Alte Männer ==> Vater.
Frauen ==> seine eige Frau oder das Fehlen einer Frau
==> Kino: vielleicht macht es ihn traurig, immer schöne Ende zu sehen...

Er will unter Menschen sein, aber zu nahe auch wieder nicht?
Vielleicht seht er sich nach Nähe und ist zugleich nicht in der Lage sie auszuhalten - das gibt es.

Daß es für ihn fast so ist, als würden sie mit ihm sprechen, kann bedeuten, daß sich eigentlich nie jemand wirklich für ihn persönlich interessiert hat.
Ja.

Es hat großen Spaß gemacht, deine Gedanken zu lesen, dafür Danke ich dir herzlich.
Du siehst, man darf nicht erwarten, dass man ein komplettes und fundiertes Bild von einem Protagonisten vor sich hat, wenn man diese Geschichte liest, viel eher wollte ich, dass der Leser sich seine eigenen Ideen dazu macht und ich sozusagen nur den groben Schatten vorgebe.
Ob das gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt, aber dein Kommentar hat mich da schon aufgebaut.
Ob nun wiederrum jeder Leser damit was anfangen kann, sei wiederrum dahingestellt - aber das ist dann wieder die oft zitierte Geschmacksfrage.

Grüße
c

 

Ja, da wollte ich noch einmal zurückkommen... Es freut mich natürlich, daß Du Dich über meine Gedanken zu Deiner Geschichte gefreut hast. :) Aber so ganz will ich mich damit nicht zufriedengeben. ;)

Er will unter Menschen sein, aber zu nahe auch wieder nicht?
Vielleicht sehnt er sich nach Nähe und ist zugleich nicht in der Lage sie auszuhalten - das gibt es.
Daß es das gibt, daß man sich nach Nähe sehnt, aber sie nicht oder nur für eine kurze Zeit aushält, würde ich auch nicht bezweifeln, vielmehr bestätigen. Aber es kommt mir in dieser Form seltsam vor.

Weniger seltsam würde es vermutlich werden, wenn Du doch ein bisschen konkreter werden würdest. Wenn Du ihn irgendwo ein bißchen in seine Vergangenheit schweifen lassen würdest, zum Beispiel zum Grund, warum seine Frau nicht mehr seine Frau ist; das könnte ja bereits daran liegen, daß er eben die Nähe nicht mehr ausgehalten hat, das Alleinsein gesucht hat - aber ihrer Liebe trotzdem nachtrauert, jedesmal beim Anblick anderer Frauen, weil er sie ja eigentlich doch irgendwie braucht.

Ob nun wiederrum jeder Leser damit was anfangen kann, sei wiederrum dahingestellt - aber das ist dann wieder die oft zitierte Geschmacksfrage.
Ich denke, das ist Einstellungssache: Will ich mit einem Text etwas transportieren (Meinung, Wissen, Verständnis für Randgruppen, etc.), dann kann ich nicht alles in Schwebe lassen. Will ich nur den Blick über etwas schweifen lassen, ohne tiefere Aussage, dann kann alles herumschweben. Ich persönlich sehe halt wenig Sinn darin, eine Geschichte zu so einem Thema so schwebend zu schreiben. Anders sehe ich das etwa bei einer Romantik-Geschichte, wo wirklich so ziemlich jeder die Gefühle kennt, von denen die Rede ist - da reicht es dann, sie anzudeuten.
Verstehst Du, was ich meine?

Und ich will damit jetzt keineswegs meine erste Kritik abschwächen. Im Prinzip gefällt mir die Geschichte ja auch - es ist mir nur ein bisserl zu wenig, und das finde ich schade, eben gerade weil mir ja das, was schon da ist, gefällt. Würde ich sie schlecht finden, wäre es mir die Zeit nicht wert, noch einmal etwas dazu zu schreiben. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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