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Lippen aus Glas
Angefangen hat es mit dem Blick in Richtung der Boxentürme, zu viele Höhen, zu wenig Tiefen für meine Ohren. In diesen Punkten bin ich fanatisch. Ich schaute also zu den Boxen, hoffte vielleicht, dass der Klang dadurch besser werden würde, doch mein Interesse wurde abgelenkt durch zwei Augen, die genau die richtigen Tiefen hatten und meine Gedanken schnellten in die Höhe. Welches Lied lief? Ich kann im Nachhinein nicht mehr mal sicher sagen, ob mir die Party gefallen hatte oder ob ich schon betrunken war. Wahrscheinlich aber schon, sonst wäre ich nicht einfach zu ihr hingegangen, hätte mich nicht direkt vor sie gestellt und sie angeschaut. Solange bis sie meinte: „Kennen wir uns irgendwoher?“ Ich träumte schon und sagte: „Kann sein. Ich bin schon mal irgendwo gewesen.“ Als ich ihr Lachen hörte war die Musik endgültig aus. In genau diesem Moment fingen wir an unsere eigene Musik zu schreiben. Ob es eine Maxi bleiben sollte, ein One-Hit-Wunder oder eine LP war völlig gleichgültig.
Ich kann nicht sagen wir hätten viel geredet und gemerkt wir hätten gleiche Interessen. Nein, wir guckten uns nur an und wussten das es nur eine Frage der Zeit war, bis der Abend und damit auch genau dieser Zauber der Nacht verflogen sein würden. Wir gingen tanzen wenn uns die Musik gefiel, ich sang mit, wenn ich den Text kannte, sie lachte, wenn ich genau das tat. Sie lachte. Ich wollte sie Küssen. An ihrem Haar riechen. Mit meinen Händen erfahren wie ihr Körper gebaut ist, kleine Geheimnisse entdecken und sie mit meinen Lippen wieder bedecken. Wollte ihrem Atem zuhören, wenn er schneller wird, ihren tiefsten Seufzer einatmen und meine Lungen damit füllen.
Mehr als einmal ergab sich die Situation, in der wir uns einfach küssen hätten können. Doch da wir wussten, dass wir es in Gedanken schon getan hatten, taten wir es nicht. Es dauerte seine Zeit. Es war alles so unbeschwert und rein, dass ich im Kopf schon Entschuldigungen formulierte, denn alles was danach kommen konnte, musste falsch sein.
Ihre Lippen waren nur ganz leicht geöffnet und fühlten sich trocken an. Ich benetzte sie mit meinen. Ganz vorsichtig, als wären beide Lippenpaare aus Glas, berührten sie sich. Ganz leicht drückte sie nur in meine Richtung. Ich streichelte ihr ganz sanft über die weiche Haut unter dem Ohr, versuchte nicht zu denken, denn meine Nerven sollten diese Gefühle so rein wie möglich wahrnehmen. Ganz wenige Lippen habe ich geküsst, die so genau wussten, das ein Kuss erst schön ist wenn man versucht, die Lippen des Gegenübers zu liebkosen. Das es nicht darauf ankommt selbst ein schönes Gefühl zu haben, sondern eins zu verschenken und dann kommt der Rest einfach von alleine.
Was auch von alleine kam, war die Zeit zu gehen, die Zeit sich zu verabschieden, sich noch einmal so zu küssen, als würde man morgen sterben. Einmal noch das Gefühl genießen, das alles, wirklich alles rein und unverbraucht war.
Wir haben hin und her überlegt, aber es gab keinen Ausweg. Jeder musste nach Hause gehen und im eigenen Bett schlafen, denn das hatten wir herausgefunden. Wir führten tagsüber beide ein komplett unterschiedliches Leben. Sie küsste mich, flüsterte „Danke“ in mein Ohr und ich war mir plötzlich sicher, irgendwo da draußen gibt es Jesus. Irgendwo sitzt er und ist voller Liebe und wartet darauf, dass seine Frau nach Hause kommt, die Mittwochs so gerne alleine raus geht.
Fin?