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Lise schreit
Sie schrie als sie aufwachte. Hans vergrub sein Gesicht ins Kissen. Er musste in der Früh zur Arbeit. Er wollte einfach nur schlafen. Jedoch hat ihr Schrei ihn mal wieder aus der Tiefschlafphase an den Rand der Verzweiflung gebracht. Geräuschvoll richtete er sein Kissen, hüstelte vernehmlich und ließ sich auf die frisch bezogenen Daunen fallen. Er hatte schließlich einen anstrengenden Tag vor sich. Und sein Chef könnte ein schlechtes Bild von ihm bekommen hätte er geränderte Augen oder Konzentrationsschwierigkeiten. Vielleicht würde er, der Chef, ihm, Hans, übermäßigen Alkoholkonsum unterstellen, gar Sucht! Eventuell Tabletten oder Heroin! Nein, so was darf nicht geschehen. War er doch auf dem besten Wege sich von seiner Bürotätigkeit aus hochzuarbeiten.
Als sie ihre Lampe seitlich ihres Bettes anknipste um zu lesen, räusperte sich Hans. Auch noch Licht. Mitten in der Nacht. Wie lange soll das noch weitergehen? Wie lang würde er dies noch ertragen? Seit wann schläft Lise nun schon nicht mehr? Er konnte es nicht genau sagen. Wie lange ist das her. Er wusste nicht einmal wann er das letzte Mal ein längeres Gespräch mit ihr geführt hatte. Mehr als: “Hallo Schatz, mein Tag war spitze. Was gibt’s zum Essen?”. Wann hatten sie das letzte Mal Sex? Er nahm sich vor, den letzten Punkt mit Lise zu klären. Gleich morgen. Wenn er sich noch nicht mal daran erinnern konnte, dann war es eindeutig zu lange her. Er nahm noch einen großen Schluck aus seinem Wasserglas. Lise stellte es jeden Abend frisch gefüllt auf seinen Nachtisch. Zufrieden mit seinem Entschluss und gefüllt mit ein klein wenig Vorfreude schlief er ein. Dass seine Frau ihm beim Einschlafen geholfen hatte, bemerkte Hans nicht.
Lise las in der Packungsbeilage nach wie lange ihr Mann wohl jetzt schlafen würde. Dort stand sechs bis acht Stunden. Ein starkes Mittelchen, dachte sie. Das würde reichen. Sie öffnete die kleine Schublade ihres Nachtschranks. Ihr entnahm sie ein Bündel unbezahlter Rechnungen und einen kurzen Brief. Dort hatte sie tags zuvor geschrieben: ‘Hans, du hast Recht. Psychologen sind Halsabschneider. Verzeih mir, dass ich dir nicht geglaubt habe.’
Sie stand auf und legte die Unterlagen auf den kleinen, runden Tisch im Schlafzimmer. Normalerweise stellte sie dort morgens immer den Kaffee für ihren Mann hin.
Ihre Träume sind, trotz des Psychologen, nicht verschwunden. In Gedanken versunken ging sie ins Badezimmer. Sie sieht den Jungen jede Nacht. Manchmal sofort wenn sie ihre Augen schließt, manchmal erst Stunden nach dem Einschlafen. Sie sieht immer die gleiche Szene. Sie fährt mit ihrem Auto durch die kleine Ortschaft. Nur noch kurz einkaufen, wollte sie. Dann sieht sie ihn. Zu spät. Ihr Auto rammt sein Moped und sie schreit.
Er starb damals. Sie wollte ihm noch helfen, ihn retten. Er kam gerade vom Sport. Wollte eine Straße weiter. Nach Hause. Tot. Tot ist er durch die Hand von Lise. Sie war unachtsam. Eine Sekunde nur. Mörderlise, schreien ihr die Kinder heute noch nach.
Warm lief das Blut über ihre Hände und trommelte leise auf die Fliesen. Den Aufschlag ihres Körpers spürte sie nicht mehr.