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Lissabon

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10.05.2005
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Lissabon

Lissabon

Dunkel sind meine Erinnerungen und verschlungen, ich wandere durch schäbige Strassen in München im Herbst, die große Hitze hat nachgelassen. In mir ist ein großer Schmerz zurückgeblieben, eine wehmütige Sehnsucht, die ständig in mir wiegt wie ein unsichtbarer Stein und eine Trauer, die mich zu Boden drückt, die die Grenzen meines Körpers durchdringt und ständig wie eine gummiartige Membran um mich herumwabert. Ich erinnere mich an meine rostroten Schuhe im ausgedörrten knisternden Herbstlaub, während es fast sommerlich warm ist, die Ahornblätter sind rot wie meine Schuhe und wie mein Haar, das glattgescheitelt bis zum Kinn fällt und leuchtet, während meine Seele weint.
Traumverloren gehe ich durch fremde Strassen, suche Lösungen im Kopf, grübele und denke nach, ohne je darauf zu kommen, warum Jean mich verlassen hat.
Aber es betraf nicht mehr ihn und seine Art zu handeln, der Schmerz war größer, er konnte ihn nicht mehr auflösen. Es fühlte sich an, als wanderte ich allein durch unendliche zeitlose Universen, die unübersichtlich waren und von Menschenmassen übervölkert. Sinnlos und gleichgültig wogten sie dahin, ich fühlte mich darin wie ein haltloser substanzloser Punkt.
Ich umrundete den See im Englischen Garten bis meine Füße schmerzten und die Fußsohlen brannten, der Anblick des Sees verschaffte mir ein wenig Erleichterung, irgendwann stand ich vor einem kleinen Laden, der Bagels verkaufte, belegt mit verführerischen Zutaten und ich merkte, dass ich hungrig war. An der Glastür hing eine Ankündigung, ein Zettel, der einen Vortrag ankündigte mit einem jüdischen Namen, ich sah auf meine Armbanduhr und registrierte, dass der Vortrag über die Kabbala und den Sohar in einer halben Stunde beginnen würde.
Obwohl sich in mir nichts regte außer dem üblichen Nebel, hinter dem der Schmerz lauerte wie eine bodenlose Falle, kaufte ich mir ein Lachsbagel und fragte den Inhaber nach der Adresse. Es war kein weiter Weg.
Ich betrat ein Mietshaus, dessen Gewöhnlichkeit mich eher abstieß und stieg ein paar Treppen hinauf, alles war grau oder schmutzig-beige. Ich fragte mich nicht, was ich suchte, ich sah zwei Stuhlreihen, ein paar Leute, die ich wie Schemen wahrnahm und setzte mich an den Rand. Es war überheizt und ich zog meinen braunen Pullover aus.
Der Vortragende hatte bereits begonnen zu sprechen, er trug einen Bart, der eckig geschnitten war und eine runde Brille, er sprach mit leichtem Akzent, seine Stimme war warm, er war traditionell gekleidet mit schwarzem Anzug und Krawatte und er gestikulierte lebhaft.
Die Worte rauschten an mir vorbei, ich war verwundert, dass ich hier war. Draußen wurde es langsam dunkel, eine Glühbirne hing an der weißen Decke.
Als ich aufschaute aus den zeitlosen Welten, in denen ich weilte, sah der Sprecher mich an, er hatte einen durchdringenden und doch nicht verletzenden Blick. Ich wusste schlagartig, dass er mich erkannt hatte, vielleicht nicht mich, aber den Schmerz, den ich trug und den seltsamen Ort an dem ich weilte, in meinem Innern. Für ein paar Augenblicke wurde mir warm, die Verlorenheit verschwand, es war, als würde ich wieder durchblutet.
Irgendwann war der Vortrag, der mir schwerverständlich und verwoben und labyrinthartig erschien, zu ende. Ich merkte es erst, als die Stühle auf dem Boden scharrten, die Leute zur Tür drängten. Plötzlich stand der Sprecher vor mir, mein Blick blieb am Schwarz seines Anzugs hängen, ich starrte darauf, bis vor meinen Augen alle Farben verschwammen, als könnte ich darin einsinken.
„Möchten Sie wieder vorbeikommen ; es würde mich freuen: “Eine freundliche Stimme, umhüllend irgendwie. „Ich verstehe nichts davon... ”, sage ich vage. „Das macht nichts, es lernt sich, sozusagen...“ Ich frage mich, ob ich mich vorhin getäuscht habe, hat er wirklich tief in mich hineingeblickt? So vor mir stehend wirkt er wie ein traditioneller Jude mit dem Bart und den scharf geprägten Gesichtszügen, er atmet die Thora, sozusagen.
Ich nicke unverbindlich und laufe schnell durch das kahle Treppenhaus, draußen ist es dunkel inzwischen, die Dunkelheit verschluckt mich schnell, auf der Straße braust der Verkehr, dauernd rasen Fahrräder auf mich zu, es dauert eine ganze Weile bis ich mich orientieren kann. Ich denke an den Vortrag und wundere mich, dass er mir entglitten ist, ich kann den Inhalt nicht linear fassen, und doch zieht mich etwas dorthin.

Am nächsten Tag ist das Gefühl des verzweifelten Nebels schon morgens wieder da, wie um meiner Stimmung zu spotten leuchtet der Himmel blau, es ist Altweibersommer, feine Spinnweben liegen auf den Büschen, die allmählich kahler werden und schimmern im Tau. Rote Hagebutten leuchten und trockene Blätter rascheln leicht in den Ecken. Ich kann meine Jacke ausziehen, und schwitze immer noch, meine Schuhe sind staubig, ich laufe und laufe, um mich zu spüren. Langsam erreiche ich fremde Bereiche der Stadt, ich lasse sie an mir vorbeigleiten, hässliche Mietshäuser mit Fensterluken wie Augenhöhlen, Billigläden mit greller Reklame, an Ecken rotten sich grölende Jugendliche zusammen, nur Staub und Abgase. Ich biege um ein paar Ecken und mir wird klar, dass ich mich verlaufen habe, die schmalen Gassen scheinen ein Labyrinth zu bilden, ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, an genau dieser Stelle schon einmal vorbeigekommen zu sein. Ich fühle mich erschöpft und durstig, und plötzlich unruhig.
Am Ende einer Gasse ist ein schmiedeeisernes Tor, es sieht aus wie das Ende des Weges, verschlossen, und verschattet von den umliegenden Mauern, nur zögernd gehe ich darauf zu, berühre mit den Fingern die schwarzen Verstrebungen. Ein quietschendes Geräusch entsteht und das Tor steht eine Handbreit offen. Verblüfft halte ich inne, ich zögere, dort hineinzugehen.
Es ist ein seltsam angelegter Garten mit immergrünen Hecken, die ineinander verschachtelt sind, zwei riesige alte Bäume stehen darin, eine Kastanie, unter der unberührt rotbraune glänzende Kastanien liegen, die teilweise noch in der aufgeplatzten Hülle stecken, unwillkürlich bücke ich mich und hebe eine auf, dazwischen sind ein paar Beete mit verblühenden Rosen, überall liegen verstreute Rosenblätter. Von ferne höre ich das Hupen eines Autos und brausenden Verkehr, die Geräusche erscheinen mir seltsam verfremdet und irreal, es erscheint mir als ob der Park sie schluckt oder sogar verschluckt. Hinter einer Hecke steht eine alte Bank, ein Mann sitzt darauf und liest, ich erkenne den Juden von gestern Abend. Bin ich eine Traumwandlerin?
Er blickt auf und lächelt mich an, ich sehe neben mich, ob noch jemand dasteht, aber da ist niemand.
Er deutet auf die Bank neben ihm. Ich sehe seinen weißen Bart an, als er sagt: „Schön, dass man sich wiedertrifft, die Wurzel trägt uns alle... “ Von welcher Wurzel spricht er? Unwillkürlich betrachte ich die große Eiche, die links neben uns steht, sie hat noch fast alle Blätter. „Sie trägt dich schon... ”, sagt er noch Einmal. Und mir fällt ein, wie bodenlos ich mich in letzter Zeit gefühlt habe, jetzt kann ich mich an eine dicke knorrige Wurzel anklammern. Ich blicke auf das Buch in seiner Hand, es sind mir fremde, wohl hebräische Buchstaben, sie sind mir so rätselhaft wie die ganze Szene.
„Erinnerst du dich an Lissabon?” seine Augen sind melancholisch, jetzt. Er schweigt, während ich, ‚Lissabon denke’, mir fällt nichts dazu ein, zunächst. Dann langsam sickern Bilder in den schweigenden Garten wie bunte Seifenblasen, der Zeitschleier hebt sich an, als hätte der alte Mann einen Vorhang aufgezogen.
Ein kleines Zimmer voller Bücher und Staub und Geborgenheit, ein mir vertrauter Mann, was verbindet mich mit ihm? Ich liege auf einem Sofa in dem Zimmer, in dem er unermüdlich studiert und beobachte ihn von hinten, ein Lachen ist in mir, ich liebe diesen Mann, der dort schreibt.
Verblüfft schaue ich den alten Juden an, hat die Zeit stillgestanden? Der Jude, war er der Mann in Lissabon in einer anderen Zeit? Ich falle in seine Augen, die sind wach, aufmerksam, jetzt nickt er kurz. „Weißt du es jetzt?“ Ich starre ihn entgeistert an. „Es ist immer da, in allen Sphären, es löst sich nicht auf und fällt auch nicht ins Nichts. Zeit ist kein linearer Ereignisablauf, sie füllt viele Räume. ”
„Aber“, sage ich schließlich, „Lissabon, es ist vorbei “, plötzlich fühle ich ihn wieder, den Schmerz der Trennung, eine Seifenblase platzt, ich sehe, wie sie mich aus dem Zimmer holen, Männerarme reißen mich von ihm weg, führen mich ab, ich versuche, mich umzudrehen, um ihn noch Einmal zu sehen, seinen Gesichtsausdruck, seine Augen.... Tränen rinnen über mein Gesicht, unaufhaltsam, ich sinke um, und liege im Schoß des alten Mannes, weinend.
Mein Blick fällt auf grüne Blätter, als ich die Augen öffne und ein Stück blauen Himmels mit weißen Schlieren. Dann sehe ich, dass ihm eine Träne über die Wange rinnt.
Ich setze mich auf, mir ist leichter zu Mute. „Uns verbindet der Baum des Lebens in allen Zeiten “, sagt er leise.
Ich erinnere mich an ein Bild mit einem grünen Baum, das in Lissabon auf seinem Schreibtisch stand. Ein Begriff fällt mir ein „Sephiroth“, Sphären in vielen Welten, gleichzeitig.
Ich fühle mich geborgen, die Zeit könnte für immer hier stocken.. „Wir sind hier und gleichzeitig dort, in der Ewigkeit “.
Als ich fragen will, ob wir uns jetzt regelmäßig sehen werden, dass ich froh bin, ihn wiedergefunden zu haben, dass ich zu all seinen Lesungen kommen werde, als ich ihn befragen will, wie und wo er jetzt lebt, erschrecke ich plötzlich, wo er eben noch gesessen hat, fallen tiefe Schatten. Ich springe auf, drehe mich in alle Himmelsrichtungen, keine Spur von ihm, nichts. Nur Blätterrascheln, der ferne Verkehrslärm, und plötzlich weht eine Seite an mir vorbei. Schnell hebe ich sie auf, sie ist mit hebräischen Buchstaben bedeckt, die ich nicht lesen kann. Ich gehe durch den ganzen Park, nahe am Tor steht eine alte Frau mit einem Dackel: „Haben Sie einen alten Mann mit weißem Bart gesehen?“ frage ich aufgeregt. Sie schüttelt den Kopf: „Hierher kommt niemand, das ist ein verwunschener Ort. ”
Ich schlüpfe durch das Tor, ich befinde mich in einem türkischen Viertel, zwei Frauen mit Kopftüchern starren mich verwundert an
Ich kann es selbst nicht glauben, der Nebel hat sich aufgelöst, ich fühle mich lebendig, obwohl er verschwunden ist. Ich fühle mich umhüllt von seiner Wärme.
Einen Tag später suche ich das Mietshaus, in dem der Vortrag stattfand. Ich kann es nicht lassen, obwohl ich eine Ahnung habe, dass ich auch dort vergeblich suchen werde. Wie in einem Ritual gehe ich zuerst in den Bagelshop, ich frage den Verkäufer nach der Anzeige des Vortrages. Erblickt mich erstaunt an, er kann sich nicht erinnern. Zögernd ziehe ich die Seite heraus mit den hebräischen Buchstaben und reiche sie ihm, er blickt darauf, dann sagt er: „Der vergrößerte Buchstabe ist ein SAMECH, und drunter steht, SAMECH lebt in der SUKKA, einer dürftigen Erntehütte. Der Buchstabe, der in seinem INNeren einen Raum vollkommen einschließt. Er ist das ruhige, sichere Lächeln eines Menschen, der Schutz gefunden hat. ” Er lächelt mich an, „Schön “, sagt er und gibt ihn mir zurück. „Leider kann ich Ihnen mit dem Vortrag nicht weiterhelfen. “
Trotzdem laufe ich die Straßen ab und suche das Haus, ich finde es nicht, entweder weil alle Häuser gleich aussehen in dieser Straße oder weil es in den ewigen Raum entschwunden ist und aus der Zeit entrückt wurde, also ist mir nur die Seite mit dem Samech verblieben.
Aber diese Seite, die langsam vergilbt, sie trägt mich durch alle Sphären. Oft besuche ich den kleinen Park, er ist fast immer menschenleer, ich setze mich eine Weile auf die Bank, manchmal hoffe ich, er werde dort sein, ich trage meine Sehnsüchte und irdischen Nöte dorthin, aber wiedergetroffen habe ich ihn nie.
Demnächst werde ich nach Lissabon reisen. Mal sehen. Vielleicht erschließe ich mir meine eigene Erinnerung, denn die ist wieder dunkel und verschlossen. Seit er in den Schatten des Parks verschwand, lebe ich wieder in der einfachen Zeit, die vergeht.

 

Hallo calypso

Gefallen haben mir an deiner Geschichte einerseits die melancholische Grundstimmung die gut in den übersinnlichen Plot passt, sowie die vielen kleinen Details, die erwähnt werden und die Welt zum Leben erwecken. Nur sind es nach meiner Meinung zu viele solcher Beschreibungen, was vor allem die erste Hälfte der Kg extrem in die Länge zieht. Ich würde mich da kürzer fassen - ein einzelnes Bild kann genau so viel Atmosphäre erzeugen wie zehn, es muss nur das Richtige sein.

Zum Plot will ich mal nicht zu viel sagen, weil ich nicht gerade ein Fan solcher spirituellen Geschichten bin. Die Begegnung mit dem Juden wirkt für mich zu theatralisch, ansonsten ist die verzweifelte Suche des Hauptcharakters nach Antworten aber schon interessant.

Ein paar Worte noch zur verwendeten Sprache: Du setzt sehr, sehr wenige Punkte. Nur ein Beispiel unter sehr vielen: "Die Worte rauschten an mir vorbei, ich war verwundert, dass ich hier war" - wieso nicht "Die Worte rauschten an mir vorbei. Ich war verwundert, dass ich hier war"? Die beiden Satzteile haben ja nicht viel miteinander zu tun und kürzere Sätze machen das Lesen grundsätzlich einfacher. Insgesamt könnte man die Punktezahl wahrscheinlich fast verdoppeln ohne der Geschichte zu schaden.

Auch noch aufgefallen ist mir der Wechsel der Zeitform in der Mitte. Ob gewollt oder unabsichtlich, ich halte ihn für eher verwirrend. Die Idee per Rückblende zu erzählen ist sicher gut, nur wäre da ein Einleitung in der Gegenwart am Anfang des Texts hilfreich, so dass der Leser in die Vergangenheit geführt wird und herausfinden will, wie der Weg in die Gegenwart verläuft, anstatt einfach nur mittendrin starten zu müssen. (Etwas vage ausgedrückt, aber ich hoffe, du verstehst, was ich meine)

Soweit meine Kritik, ich hoffe, sie hilft etwas (gemessen an den durchschnittlichen von mir verfassten Kritiken kommst du gar nicht so schlecht weg ...). Ausserdem natürlich Willkommen auf kg.de!

Viele Grüsse
Sorontur

 

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