Mitglied
- Beitritt
- 04.05.2005
- Beiträge
- 384
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 36
Lloyd Braun schreibt eine Kurzgeschichte
Ein warmer Windhauch ging durch die weit geöffnete Verandatür. Er spielte kurz mit den sich wiegenden Vorhängen, blätterte raschelnd in ein paar alten Tageszeitungen, die ungeordnet auf einem kleinen Beistelltisch lagen und verlor sich dann auf seinem weiteren Weg durch das geräumige Atelier, in dessen Mitte, an einem schweren Schreibtisch aus massiver Eiche sitzend, Lloyd Braun der Verzweiflung nahe war.
Lloyd starrte mit gebeugtem Rücken auf den Bildschirm seines Laptops. Er tat dies schon seit Stunden, obwohl es, und das war der Grund für seine Verzagtheit, auf dem Schirm nicht allzu viel zu sehen gab. Es stand da in fetten Lettern geschrieben: „Arbeitstitel: PHANTOM!“ Darunter blinkte geduldig wartend der Cursor, und hinter ihm erstreckte sich die jungfräuliche Reinheit hunderter unbeschriebener Seiten.
Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen – er hatte ganz einfach keine Idee. Vor ihm tat sich eine kreative Einöde auf, eine endlose Wüstenei, in der es nicht das Geringste zu entdecken gab.
Lloyd erhob sich von seinem Stuhl, reckte die eingeschlafenen Glieder und ging hinaus auf die Veranda. Er sog die vom Geruch blühenden Flieders schwere Luft tief in seine Lungen. Mit geschlossenen Augen stand er da und lauschte. Alles war erfüllt vom Gesang der Vögel und dem Surren unzähliger Bienen, die sich an den prallen Blüten gütlich taten, welche den kleinen Garten mit ihrem prahlerischen Überschwang schmückten. Aus einiger Entfernung kam der gedämpfte Missklang der Großstadt hinzu; das ewige Knattern der Motoren und das Hupen und Zetern der um ihr Verkehrsrecht Betrogenen.
Lloyd dachte nach. Er wollte schreiben, musste es. Irgendetwas. Hauptsache, er könnte seinen Text so schnell wie möglich in einem Internetforum präsentieren und den ihm gebührenden Respekt einheimsen. Er war so viel besser, als all diese jungen, unerfahrenen Kritzler und Schluderer, die jede Woche mindestens zwei neue Geschichten präsentierten und dachten, sie wären angehende Schriftsteller. Lloyd schnaubte verächtlich. Er konnte sich eloquenter ausdrücken als sie, hatte gewichtigere Botschaften …
„Der beste Beweis für das Können ist das Tun“, murmelte er vor sich hin.
Er drehte sich energisch um, schritt zu seinem Arbeitsplatz, setzte sich, richtete seinen Laptop aus, legte die Finger auf die Tastatur und …
„Phantom!“ Er sprach den Titel seiner Geschichte laut aus, wobei er den O-Laut arg in die Länge zog. Es war ein guter Titel. Ein starker Titel. Nicht so plump wie die Titel, die sich diese Anfänger in den Foren immer ausdachten. Ein Sommernachmittag. Oder Der Alptraum. Phantom, das war ein guter Titel. Wer diesen Titel las, musste einfach neugierig werden. Er war gespannt, wie viele Menschen wohl seine Geschichte lesen würden. Bestimmt würde sie ruckzuck in die Rangliste der beliebtesten Veröffentlichungen heraufschnellen. Platz acht vielleicht. Vielleicht auch höher. Aber darauf kam es ja auch nicht wirklich an.
„Oh-oh! Aufpassen!“, rief er erschrocken aus. ‚Nicht wirklich’, das war eine dieser bösen Fallen, in die er beim Schreiben auf keinen Fall tappen wollte. All diese eingeschleppten fahrigen Übersetzungen englischer Ausdrücke machten ihn verrückt. Überall hörte man sie. ‚Nicht wirklich’, ‚das macht Sinn’ und wie sie alle hießen. Man musste höllisch aufpassen, dass man sich diese Auswüchse nicht auch noch selbst aneignete. „Also pass bloß auf!“ sagte er und kicherte in sich hinein. „Keine Anglizismen, weil, das macht nicht wirklich Sinn.“
Er wandte sich wieder seinem Klapprechner zu. „Phantom“, sagte er noch einmal. Das Wort hing in der Luft, verweilte dort für einen kurzen Moment und verpuffte wieder. „Phantom.“ Wer oder was war dieses Phantom? Und was noch viel wichtiger war: In welcher Kategorie wollte er die Geschichte eigentlich einordnen? Das war eine weitreichende Frage. Horrorgeschichten würden bestimmt eher gelesen als dieses Alltagsgeplänkel. Wohingegen Krimis derzeit auch recht beliebt waren. Er rieb sich gedankenverloren das Kinn.
Phantom war ein blöder Titel. Er war nichtssagend. Das könnte ja alles bedeuten. Nein, er brauchte einen neuen Titel. Ganz klar. Einen Titel, der ihn inspirieren konnte. Phantom sagte ihm nichts. ‚Phantom’ sprach nicht zu ihm. Wohingegen … Das Phantom – das war ein viel besserer Titel. Lloyd schlug vor Begeisterung mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ha!“
Das Phantom. Mit einem Mal war sie wieder da, die Begeisterung und Inspiration, die er verspürt hatte, als er zum ersten Mal in dieses Forum gekommen war. Jawohl, ‚Das Phantom’ würde diese Kiddies – diese Kinder – in ihre Schranken verweisen.
Also änderte er die Überschrift.
Das Phantom.
Absatz.
Jetzt konnte es losgehen.
Endlich.
Lloyd stand auf und machte sich eine Tasse Kaffee.
„Nu aber.“ Lloyd saß wieder an seinem Schriebtisch und blies auf seinen dampfenden Kaffee. Mit dem neuen Titel und dem belebenden Koffein würde das Schreiben ein Kinderspiel werden. Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach zwei. Wenn er sich sputete, könnte er seine Geschichte noch bis zum Abend fertigschreiben. Die ersten Reaktionen dürften dann eigentlich nicht lange auf sich warten lassen. Abends war im Forum immer am meisten los. „Also dann …“ Er dehnte seine Finger, ließ die Gelenke krachen und machte sich ans Werk.
Moment. So ging das nicht. Eine gute Geschichte konnte nicht mit ‚Es war an einem kalten Novembermorgen’ anfangen. Er war ja schließlich kein Märchenerzähler. Zudem waren Novembermorgen in der Regel nun einmal kalt. Das Wort konnte er sich also sparen.
‚Klirrende Kälte’? Sollte er seinen Text mit einer so abgegriffenen Alliteration eröffnen? Alliterationen waren ein schönes Stilmittel, um einen Text im Fluss zu halten, andererseits musste er Acht geben, dass er dieses Mittel nicht gleich in der ersten Zeile auszureizen begann.
Shane Winston – was war das überhaupt für ein Name? Er klang ganz offensichtlich frei erfunden. In Wirklichkeit würde niemand so heißen. Allenfalls ein Schauspieler. Shane Winston – nein, zu glamourös. Aber wie sollte er seinen Helden nennen? Er hatte sich frühzeitig für englische Namen entschieden, da es ihm sogar noch unendlich viel schwerer fiel, sich einen wohlklingenden deutschen auszudenken. Namen wie Horst oder Frank klangen doch zu banal, um einer Heldenfigur wie der seinen angemessen zu sein. Außerdem nannte er sich im Forum ja auch Lloyd Braun und verwendete nicht seinen richtigen Namen. Ob wohl jemand herausfinden würde, was hinter seinem Pseudonym steckte? Er hatte lange überlegt, welchen Spitznamen er sich zulegen sollte und sich schließlich für eine Figur aus einer seiner Lieblings-TV-Sendungen entschieden. Irgendwann würde er das Geheimnis vielleicht lüften. Jetzt musste er aber erst einmal einen Namen für seinen Helden finden. „Shane Winston.“ Lloyd lauschte dem Klang seiner Stimme. So schlecht war der Name vielleicht doch nicht.
‚Kabbelig’ – wo hatte er dieses Wort denn aufgeschnappt? Konnte er das so lassen? Wusste jeder, was damit gemeint war? Er bewegte den Mauszeiger über das Wort und bemühte den Thesaurus seiner Textverarbeitung. Keine Vorschläge.
‚Kabbelig’.
Plötzlich erinnerte er sich. Sean Connery und – wie hieß der andere doch gleich? Dieser Schauspieler aus dem Dinosaurierfilm. Hatte er nicht auch Damien in einer der Fortsetzungen von ‚Das Omen’ gespielt? Ein unsympathischer Typ … Er würde am Abend mal im Internet nachsehen, wie der Kerl hieß. Auf jeden Fall standen Sean und dieser Kerl auf dem Turm eines gewaltigen U-Bootes und unterhielten sich über das Wetter. Auf Russisch. Mit Untertiteln. ‚Jagd auf Roter Oktober’ – das war’s. Kalt und kabbelig, hatte Sean gesagt. Lloyd dachte nach. Nein, besser, er hätte keine Referenz auf diesen Film in der ersten Zeile seiner Geschichte.
Nein. Nein. Nein. Zweimal ‚in dem’; das war nicht gut. ‚Heraus’ statt ‚hinaus’. Überdies konnte es aus einem Himmel nicht ‚heraus-regnen’. Und der Mantelkragen, der hochgeschlagen wird? War das nicht ein allzu oft verwendetes Bild? Der Privatdetektiv, der aus einer heruntergekommenen und verrauchten Blueskneipe in die verregneten Straßenschluchten New Yorks hinaustritt, den Kragen seines Trenchcoats hochschlägt und sich mit einem Streichholz eine Zigarette anzündet. Das waren zu viele Klischees.
Er brauchte einen neuen Ansatz. Weniger Klischees. Mehr Authentizität. Wie im Wahlkampf. Selbst die Politik hatte die Authentizität für sich entdeckt. ‚Authentisch’ war eines der neuen Schlagwörter. Egal, was es bedeutete – Lloyd brauchte mehr Authentizität. Soviel stand fest. Vielleicht sollte er es einem seiner großen Idole nachmachen, dem Meister des unterhaltsamen Tratschens, Stephen King. Der schrieb authentisch.
Das war gut. Personen einführen, die die Szenerie beleben und ansonsten keinerlei Funktion haben. Das musste er beibehalten. Und viele Details. Seine Geschichte brauchte viele kleine Details.
Der Text begann, aus dem Ruder zu laufen. Mr. Flannigan, Bill Tanner … alles Charaktere, die er eigentlich nicht brauchte. Außerdem würde er in diesem Erzähltempo niemals bis zum Abend fertig werden. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor drei. Langsam wurde er nervös. Wie schafften diese neunmalklugen Anfänger es bloß, dauernd neue Geschichten zu veröffentlichen? Natürlich hatten sie nicht Lloyds immensen Anspruch an eine gelungene Erzählung, aber gab es da vielleicht noch andere Gründe? Womöglich waren sie unbekümmerter.
Wie auch immer, er hatte ein Problem. Seine Geschichte kam nicht von der Stelle. „Das Phantom“, raunte er sich wieder zu und wartete auf eine Eingebung. Warum war es aber auch so verdammt schwer, einen ersten Absatz niederzuschreiben? Vielleicht könnte er ja mit dem zweiten Absatz anfangen und den ersten später nachschieben. Aber wäre der Zweite, wenn es keinen Ersten gäbe, nicht automatisch wieder der Erste, und wäre es dann nicht genauso schwer, diesen Zweiten, der ja dann eigentlich der Erste war, zu schreiben?
Lloyd war versucht, laut aufzuschreien, um seinem Frust Luft zu machen. Stattdessen schlug er mit der Faust so hart auf den Tisch, dass sein Laptop einen kleinen Satz machte.
Das war besser. Sein Kopf war nun wieder frei. Das Phantom. Erstes Kapitel.
Durch die verschmierten Scheiben seines alten Fords besah sich Shane Winston das missmutige Spiel. Der Regen prasselte unentwegt auf das Blechdach, und die Scheibenwischer schlappten dazu monoton im Takt.
Hallo! Was war denn das? Lloyd wusste ja, dass er recht sprachgewandt war, aber diese Zeilen, die er jetzt zum wiederholten Male las, überraschten ihn. Das war ja fast schon zu gut für eine Kurzgeschichte. Daraus könnte man glatt einen anspruchsvollen Roman machen. So einen mit gesellschaftskritischem Anspruch, oder so.
Lloyd speicherte den Text unter einem anderen Namen. Darum würde er sich morgen kümmern. Jetzt war erst einmal Das Phantom an der Reihe.
Vielleicht sollte er damit in eine komplett andere Richtung vorstoßen. Science Fiction. Er dachte nach. Erzähltechnisch gab es da nicht viel zu beachten. In der Zukunft war alles möglich. Da konnte man mit Lichtgeschwindigkeit von einem Planeten zum anderen fliegen, fremde Rassen besuchen oder gegebenenfalls diese auch bekriegen. Aber wie waren die Bezeichnungen und Fachausdrücke für all diese technischen Spielereien? Science-Fiction-Leser waren verrückt. Wenn man einen Tachyon-Impuls mit einem phasenverkehrten Was-weiß-ich-Strahl verwechselte, hatte man diese Gruppe gegen sich aufgebracht. Nein, das war nicht die Lösung. Er kannte sich zu wenig aus auf diesem Gebiet.
Was gab es noch? Fantasy. Da ging nun wirklich alles. Egal, welche abstruse Handlung man sich ausdachte, mit Magie würde alles wieder gutwerden. Aber hatte er Lust, über Trolle, Kobolde und solchen Kinderkram zu schreiben? Eigentlich nicht. Er mochte keine Zwerge; und Elfen – na ja er hasste sie nicht direkt, aber diese anmutig umherwandelnden, ständig altkluge Kommentare von sich gebenden Plagegeister gingen ihm schon gehörig auf die Nerven.
Nein, das waren alles keine Lösungen.
„Das Phantom. Das Phantooom …“
Wie wäre es denn damit? Eine historische Kurzgeschichte. Ein bizarrer Mord in einem Kloster. Ein unbekannter Feind. Das Phantom …
Schluss! Aus!
Änderungen speichern? Nein!
Lloyd fuhr wutentbrannt seinen Laptop herunter. Er wartete bis das Geräusch des Kühlers erstarb und ging dann zu seinem Bücherbord. Er fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, holte einen Band hervor und begab sich mit seiner Lektüre auf die Veranda.
Dan Browns Illuminati – das war jetzt genau das Richtige. Leichte Unterhaltung. Rasant geschrieben.
So schwer konnte das doch nicht sein.
Lloyd beschloss, erst einmal etwas in diesem Kassenschlager herumzuschmökern. Morgen könnte er ja dann versuchen, etwas im Stil von Dan Brown zu schreiben.
So schwer konnte das ja nicht sein.
Bestimmt einfacher, als so eine Kurzgeschichte.
Das würde er tun. Einen Roman im Stil von Dan Brown. Mit Shane Winston als alterndem College-Professor.
Er brauchte dann nur noch einen Titel. Phantom – das wäre doch was. Diese Ein-Wort-Titel waren ja sehr beliebt zurzeit.
Phantom. Genau.
Gleich morgen!
Mann, was werden die Anfänger im Forum für Augen machen!