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London
Der Engel stand lächelnd neben meinem Bett und streckte mir seine Hand entgegen.
In Verbindung mit der Tatsache, dass ich, laut den verschwommenen, roten Zahlen auf meinem Wecker, nur etwa eine Stunde geschlafen hatte und ich nicht wusste wodurch ich aufgewacht war, verwirrte mich diese Situation ein wenig.
Ihn schien das allerdings nicht zu kümmern, denn er machte keinerlei Anstalten mir den Grund für sein nächtliches Auftauchen zu erklären.
So vergingen einige Sekunden, oder vielleicht sogar Minuten, in denen er sich damit begnügte, weiß und leuchtend in meinem Schlafzimmer zu stehen und ich die Wartezeit nutzte um mich einigermaßen zu sammeln:
„Gefährlich sieht er ja nicht aus. Am besten, ich stell mich erst mal vor. Vielleicht noch ein kleines Kompliment über seine Flügel um das Eis zu brechen. Dann frag ich ihn, wer er ist und was er hier macht. Guter Plan.“
Leider verpasste ich aber die Gelegenheit, meinen, für die Umstände, ziemlich guten Plan, auch umzusetzen. Der Engel gab mir nämlich, gerade als ich meinen Mund öffnen wollte, durch einen kurzen Blick aus dem geöffneten Fenster, zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte.
Meiner Verlobten zuliebe, die immer noch selig schlief, verzichtet ich darauf Licht anzumachen und auch auf eine längere Diskussion und ergriff nach kurzem zögern, seine rechte Hand.
Sie war sehr weich und angenehm warm und nahm mir auf geheimnisvolle Weise jegliche Angst vor ihm und unserer bevorstehenden Reise. Selbst die Erkenntnis, dass wir beide plötzlich schwebten und drauf und dran waren das Zimmer im 6. Stock durch das Fenster zu verlassen, konnte daran nichts ändern.
So startete ich voller Vertrauen und nur mit meinem Superman-Schlafanzug bekleidet, meinen Ausflug ins Ungewisse.
Die Nacht empfing uns mit einem sanften und angenehm warmen Wind, der nach kurzer Zeit einen leicht salzigen Geschmack auf meinen Lippen, hinterließ. An was erinnerte mich das bloß? Ja natürlich….aber das war ja unmöglich…Erst jetzt viel mir auf, das es wohl eher unangebracht war, mich während eines Fluges an der Hand eines Engels, über irgendwas zu wundern…Ich entschied fürs Erste auf das Denken zu verzichten und den Anblick der direkt über uns schwebenden weißen Wolken und des friedlich schlafenden Meeres unter uns einfach zu genießen…ein Ziel war sowieso weit und breit nicht in Sicht. Es schien mir so, als würden wir einfach der leuchtend weißen Straße, die der Mond auf das schwarze Wasser warf, ins Nirgendwo folgen. So schloss ich die Augen gab mich dem Augenblick hin. Raum und Zeit begannen zu verschwimmen und verloren zusehends an Bedeutung. Fast schien es mir, als hätte ich sogar meine Körperlichkeit verloren, denn ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, nahm mir jedes Gewicht und schenkte mich dem Wind und der Nacht.
Als ich nach einer unbestimmten Zeit, meine Augen ganz vorsichtig öffnete, war das wie das Erwachen aus einem wunderschönen Traum. Über mir schwebten noch immer noch die Wolken, doch sie waren viel weiter entfernt. Und von meinem himmlischen Begleiter sah ich nur noch aus der Ferne über mir, das weiße, flatternde Gewand. Ohne es erklären zu können, wusste ich, dass er lächelte und dass ich den restlichen Weg allein gehen musste…
Sanft und geräuschlos, nahm mich das Meer in sich auf und mit dem Blick auf den, durch das grünliche Wasser, hellen und zitternd schimmernden Mond, sank ich ganz langsam hinab in die Tiefe. Bald schon, umschlossen mich eine vollständige Dunkelheit und totale Stille. Was würde mich am Ende dieses schwarzen Tunnels erwarten? War ich etwa auf dem Weg in die Ewigkeit? Diese Fragen konnte ich nicht beantworten, aber ich wusste dass ich auf dem richtigen Weg war und dem Unausweichlichen entgegen ging.
So sanft wie sie begann, endete meine Reise durch die Dunkelheit, ganz plötzlich, auf dem Meeresboden. Denn dieser war nicht, wie erwartet, aus Sand oder Stein, sondern ich lag in einem roten, mit roter Seide bespanntem Bett und auf vielen roten, weichen Kissen.
Mein müder Körper schlief sofort ein. Doch mein Geist blieb wach und mehr noch, er verließ meinen Körper und betrachtete mich.
Und war so Zeuge des folgenden, unglaublichen Tanzes. Ein roter Wirbel aus Bewegung und Musik, baute sich über meinem schlafenden Körper auf, wurde schneller, hob sich und wurde größer, um sich dann schließlich in einer Drehung, wie bei einem langsamen Walzer, auf meinen Körper hinab zu lassen und ihn unter sich zu begraben.
Zarte Lippen legten sich auf die meinen und vereinten durch ihren Kuss, meinen Körper wieder mit seinem Geist. Ich schlug die Augen auf und blickte sie an. Wunderschön und geheimnisvoll sah sie aus, in ihrem roten Kleid und mit ihren langen schwarzen Haaren. Sie küsste mich wieder und dieses Mal spürte ich, dass ich diese Lippen kannte. Woher konnte ich nicht sagen, aber sie waren ein Teil meiner Vergangenheit und ein Teil von mir.
Nun begannen diese Lippen, meinen Hals zu küssen und glitten über meine Brust, bis auf mein Herz.
Zärtlich und behutsam, legte sie erst ihre Hand darauf und kurz danach, ihre Wange und das rechte Ohr. Mit jeder Berührung wurde ich stärker erregt und ich merkte wie sich meine Männlichkeit meldete. In hoffnungsvoller Erwartung blickte ich zu ihr hinunter und versuchte in ihre Augen zu blicken. Aber als sich dann unsere Blicke trafen war der wollüstige Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte sich in Schmerz verwandelt.
Ich musste zusehen, wie rote Tränen über ihre Wangen rannen und durch das Wasser langsam auf mich herab fielen. Nach wenigen Sekunden war mein ganzer Oberkörper, voll von ihrem Blut.
Was war geschehen? Was hatte ich getan? Mich überkam ein Gefühl von Hilflosigkeit, denn ich merkte, dass ich weder sprechen konnte, noch in der Lage war, mich zu bewegen. Der Situation und der wunderbaren, mir so fremden doch ebenso vertrauten Frau in dem langen, roten Kleid vollkommen ausgeliefert, lag ich deshalb einfach nur da….
Augenblicke später, verließ ihre Hand, meine Brust und wie an dünnen, unsichtbaren Schnüren gezogen, erhob sich ihr Körper, von meinem und verschwand langsam in der Dunkelheit über mir. Wieder hatte man mich verlassen. Wieder war ich allein.
Heute habe ich das Gefühl, dass ich mich in diesem Moment schon aufgegeben hatte und die Frage lediglich das wie und nicht mehr das ob war. Doch irgendjemand hatte andere Pläne mit mir.
Zuerst spürte ich das Ziehen nur an meinen Füßen, doch sehr schnell auch an meinen Armen und der Hüfte. Eine fremde, starke Hand zog mich, mit immer schneller werdender Geschwindigkeit nach oben, in Richtung der Oberfläche.
Wie in einem Orchester, spielten meine Schmerzen und Gefühle ein Lied – erst mit tausenden Pauken, dann mit wenigen Cellos und am Ende nur mit einem einzigen, langsamen Klavier. Mit dem letzten, sanft ausklingenden Ton, durchbrach ich die Decke meines Gefängnisses und blickte direkt, in die hoch am Himmel stehende Sonne.
Geblendet von dem fremd gewordenen Licht, kniff ich meine Augen zusammen und verweilte einen Moment auf dem Rücken liegend, auf dem wellenlosen Meer. Alles war so schnell passiert und ich hatte mir keine Zeit gelassen, zu verstehen warum dies alles geschah. Wer war diese Frau und warum hatte sie geweint?
Während ich da so auf dem Wasser trieb, noch immer unfähig, die Kontrolle über meinen Körper zurück zu erobern, musste ich an meine Verlobte denken. Wenn sie doch nur hier wäre und mich nach Hause holen könnte…Aus dieser Welt ausbrechen und zurück in die Wirklichkeit, das war mein einziger verbleibender Wunsch und er sollte schon bald in Erfüllung gehen.
„Schatz! Schatz! Wach auf!“
Beinahe, hätte ich ihren Kopf gestoßen, denn ich schreckte auf und brauchte einige Sekunden um zu begreifen, wo ich war. „Schatz, du bist ja ganz verschwitzt! Hast du geträumt?“ Ohne zu antworten, nahm ich sie in den Arm und drückte sie fest an mich. Ich war wieder zuhause.
Trotz des schlechten Gewissens, zwei Tage vor unserer Hochzeit, von einer anderen Frau geträumt zu haben, beschloss ich, ihr meinen ganzen Traum zu erzählen. Jedes Detail, von dem Engel bis zu der Frau im roten Kleid, die mir so merkwürdig vertraut war, ich ließ nichts aus.
Als ich fertig war, versuchte ich in ihren Augen zu lesen, was sie empfand. Sie schaute allerdings auf den Boden und ließ sich Zeit mit ihrer Antwort: „Wer auch immer diese Frau im roten Kleid auch war und woher auch immer du sie kanntest, das wichtigste ist, dass Sie es gespürt hat.“ „Was?“ „Dass Dein Herz nicht mehr nur deines ist. Frauen spüren so etwas. Früher glaubten die Menschen, dass man in dem Moment, in dem man jemandem seine Ewige Liebe verspricht, ein Stück seines Herzens verliert. Keine noch so lange Zeit, kein Mensch und keine spätere Liebe, können einem dieses Stück zurückgeben.“ An dieser Stelle machte sie eine kurze Pause und blickte mir dann tief in die Augen.
„Es ist zwar schon 15 Jahre her, aber als ich Dich für das Jahr in London, bei meinem Vater, verlassen musste, hast Du mir deine ewige Liebe versprochen. Ich hab das nie vergessen. Und dein Herz auch nicht!“
Wir küssten uns. „Ich liebe Dich“, hauchte sie mir ins Ohr. „Und ich liebe Dich - für immer!“
Mitten in diesem gegenseitigen Versprechen, wurden wir plötzlich von einem unangenehmen, lauten Geräusch gestört. Monoton und ohne Erbarmen kündigte der Wecker einen neuen Tag an. Beim Versuch, ihn aus zu schalten, musste ich dann auch noch feststellen, dass er nicht wie gewöhnlich auf meinem Nachttisch stand. Nur der helle, durchdringende Ton war da – überall - aber der Wecker selbst, war nirgendwo zu entdecken.
Ich schlug die Augen auf. Da stand er. Direkt neben meinem Bett und zeigte 7:30Uhr. Mit einem gezielten Schlag meiner linken Hand schaltete ich ihn aus. Noch ganz benommen musste ich feststellen, dass mein Schlafanzug voll von Schweiß an meinem Körper klebte und ich außerdem überraschender Weise allein in unserem gemeinsamen Bett lag. Warum fühlte ich mich nur, als hätte ich nicht mehr als eine Stunde geschlafen?
Leider musste ich einsehen, dass ich wohl ohne eine Dusche und einen starken, schwarzen Kaffee, auf diese Frage, keine befriedigende Antwort finden würde. So nahm ich mir der Einfachheit halber, meine Klamotten von gestern vom Stuhl und machte mich auf den Weg ins Bad.
Mindestens zwei Minuten dauerte es, bis das Wasser warm genug war um sich in meinem Zustand mit gutem Gewissen darunter stellen zu können. Dann aber verbrachte ich gut eine halbe Stunde damit, unter den angenehmen warmen Strahlen, langsam in das Reich der Lebenden und Wachen zurück zu kehren. Zusammen mit den Lebensgeistern kehrten auch langsam die Erinnerungen an die Nacht und meinen Traum zurück. Hatte das alles etwas zu bedeuten? Ach und wenn schon. Geradezu vorbildlich hatte ich mich doch verhalten, als ich meiner Verlobten alles erzählt hatte und mit der Frau im roten Kleid, war ja auch nichts gelaufen. Am besten, ich vergaß das alles einfach. Immerhin wartete da draußen in der Küche bestimmt schon mein Schatz mit Kaffee, einem Frühstück und einem Guten-Morgen-Kuss auf mich und wunderte sich schon, wo ich wohl so lange blieb.
Voller Hoffnung auf einen schönen Tag (ich sah schon die Sonne, durch das Milchglasfenster scheinen) trocknete ich mich schnell ab und zog mich hastig an. Es war schon fast ein kleiner Spurt, den ich hinlegte um durch den Flur endlich in die Küche zu kommen.
Meine Süße musste mich schon gehört haben, denn sie rief mir entgegen: „Wo bleibst du denn so lange, der Kaffee ist längst kalt.“
Niemand kann je einen größeren Schock erlitten haben, wie ich, als ich durch die Tür trat. Mit der Kaffeekanne in der einen, und dem Pfannenwender für das Rührei in der Hand stand sie vor mir. Meine Verlobte. Die Frau, die ich in zwei Tagen heiraten wollte. Offensichtlich gut gelaunt und mit einer Schürze um die Hüften, lächelte sie mich an. „Morgen Schatz! Was war denn los? Setzt dich erstmal.“
Doch ich konnte mich nicht einfach setzten, nicht jetzt und zu ihr. Zwar begriff ich schlagartig, was geschehen war, aber das änderte jetzt nichts mehr. Oder besser: es änderte alles!
Wie gern, hätte ich ihr alles erklärt, mit ihr geredet oder einfach einen Kaffee getrunken, aber dafür war es zu spät! Langsam tastete ich mich rückwärts in Richtung Tür vor.
„Schatz, was ist los mit dir? Du schaust so verstört. Willst du etwa gehen – du weißt doch, dass in einer Stunde meine Mutter, wegen der neuen Gästeliste kommt! Schatz?“
Total verwirrt und überwältigt, fand ich mich einen Moment später, auf der Straße vor unserer Wohnung wieder. Kein Ziel vor Augen, aber eine böse Angst im Nacken rannte ich los. Tränen stiegen mir in die Augen! Dass konnte doch nicht sein. Wie konnte ich Sie vergessen und mich an Sie erinnern!?
Wie weit und wie lange ich gelaufen war, vermochte ich nicht zu sagen, aber erst jetzt, da mich meine Füße nicht mehr tragen wollten, gab ich auf und setzte mich auf eine kleine Bank, in einem gegenüberliegenden Park. Kraftlos, verzweifelt und übermüdet, sank ich auf die Bank und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Wie gerne wäre ich in diesem Moment gestorben. Mein Leben war sowieso vorbei!
Keiner würde es verstehen können, warum ich sie plötzlich doch nicht mehr heiraten konnte und warum mir das gerade zwei Tage vor meiner Hochzeit einfiel!? Was sollte ich ihnen denn sagen?
„Lieber Schatz, von meinem Herzen fehlt ein kleines Stück und Du warst leider nie in London!“