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Loslassen
Die Augen sind offen. Der Mund auch. Obszön wirkt er. Ein Speichelfaden stiehlt sich aus dem linken Mundwinkel und bahnt sich seinen Weg in Richtung Hals. Ich wische ihn weg.
Ich halte ihre Hand. Sie ist weich und schlaff. Soviel Kraft steckte einst darin. Ich kann nicht zählen, wie oft mir diese Hand den Po versohlt hat. Oder wie oft sie mir ein Pflaster auf das Knie geklebt hat. Wie oft sie mein Haar gestreichelt oder meine Tränen weggewischt hat.
Mutter. Mama. Mamutschka. Mamutschka. So habe ich immer gesagt. Meine Mamutschka. Oder Mu. 'Warum liegst Du hier?', frage ich sie stumm. 'Warum hast Du mich verlassen?' Ich streichle das Gesicht der alten Frau, aber sie reagiert nicht. Sie hat oft nicht reagiert, wenn ich ihr meine Liebe zeigen wollte. Aber das war ein anderes Nicht-Reagieren.
Jetzt ist es ihr Körper. Irgendeine Verschaltung im Gehirn wurde gekappt von der göttlichen Hand. Und sie hört mich nicht mehr. Erkennt mich nicht mehr. Sieht mich nicht einmal mehr.
Anfangs musste ich oft dem Drang widerstehen, sie an den Schultern zu schütteln, um sie aus der Lethargie zu holen. Dass eine Mutter ihr Kind nicht erkennt, ist gegen alle Regeln. Ich bin nicht sicher, aber irgendwo gibt es bestimmt ein Naturgesetz, gegen das sie damit verstößt. So etwas macht man doch nicht.
Ich nehme ihre Hand und halte sie an meine Wange. Ich gebe ihr einen Kuss. Dann küsse ich ihr Gesicht.
"Ich habe Dich lieb, meine Mamutschka". Diesmal sage ich es laut.
Und ziehe den Stecker aus dem Gerät. Liebe und Mitgefühl sind unterschiedliche Dinge. Die darf man nicht verwechseln.
Eine Träne fällt auf ihr Kissen.