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Loslassen

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21.03.2005
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Loslassen

Die Augen sind offen. Der Mund auch. Obszön wirkt er. Ein Speichelfaden stiehlt sich aus dem linken Mundwinkel und bahnt sich seinen Weg in Richtung Hals. Ich wische ihn weg.

Ich halte ihre Hand. Sie ist weich und schlaff. Soviel Kraft steckte einst darin. Ich kann nicht zählen, wie oft mir diese Hand den Po versohlt hat. Oder wie oft sie mir ein Pflaster auf das Knie geklebt hat. Wie oft sie mein Haar gestreichelt oder meine Tränen weggewischt hat.

Mutter. Mama. Mamutschka. Mamutschka. So habe ich immer gesagt. Meine Mamutschka. Oder Mu. 'Warum liegst Du hier?', frage ich sie stumm. 'Warum hast Du mich verlassen?' Ich streichle das Gesicht der alten Frau, aber sie reagiert nicht. Sie hat oft nicht reagiert, wenn ich ihr meine Liebe zeigen wollte. Aber das war ein anderes Nicht-Reagieren.

Jetzt ist es ihr Körper. Irgendeine Verschaltung im Gehirn wurde gekappt von der göttlichen Hand. Und sie hört mich nicht mehr. Erkennt mich nicht mehr. Sieht mich nicht einmal mehr.

Anfangs musste ich oft dem Drang widerstehen, sie an den Schultern zu schütteln, um sie aus der Lethargie zu holen. Dass eine Mutter ihr Kind nicht erkennt, ist gegen alle Regeln. Ich bin nicht sicher, aber irgendwo gibt es bestimmt ein Naturgesetz, gegen das sie damit verstößt. So etwas macht man doch nicht.

Ich nehme ihre Hand und halte sie an meine Wange. Ich gebe ihr einen Kuss. Dann küsse ich ihr Gesicht.
"Ich habe Dich lieb, meine Mamutschka". Diesmal sage ich es laut.

Und ziehe den Stecker aus dem Gerät. Liebe und Mitgefühl sind unterschiedliche Dinge. Die darf man nicht verwechseln.
Eine Träne fällt auf ihr Kissen.

 

Hallo Der Weg,

flüssig und gut geschrieben, dennoch hat mich deine Geschichte nicht überzeugt. Ich glaube, du hast für mein Gefühl einfach zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt. Klar, dadurch kommt die Verzweiflung des Kindes gut rüber, und mit Sicherheit ist die Situation eine emotionale. Dennoch erhält mir der gesellschaftliche Aspekt deiner Geschichte, die Sterbehilfe, dadurch zu wenig Raum. Das kommt mir am Ende dann zu unvorbereitet, zu plötzlich. Wie wäre es zum Beispiel, wenn du deinen Prot mit der Entscheidung hadern lässt, das Für und Wider abwägen lässt? Der letzte Absatz steht mir im Moment noch zu wenig im Zusammenhang mit dem Rest der Geschichte. Die Schlussfolgerung, die Mutter sterben zu lassen, ist nicht unlogisch, du hast sie mir nur nicht ausreichend erklärt.

Kleinigkeiten:

Irgendeine Verschaltung im Gehirn wurde gekappt von der göttlichen Hand.
Auch wenn mir gerade leider keine Alternative einfällt - "Verschaltung" finde ich nicht so glücklich.
Sieht mich nicht mehr. Erkennt mich nicht mehr.
Wenn man jemanden nicht sieht, kann man ihn auch nicht erkennen. Von daher würde ich an der Logik was ändern oder einen der Sätze umstellen/streichen. Das Problem, dass sie nicht erkennen kann, was sie nicht sieht, besteht aus meiner Sicht auch im folgenden Absatz.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hi Juschi,

danke für die Kommentare. Die verdrehte Logik des Sehens und Erkennens habe ich mal eben geradegerückt.

Was die Tränendrüse angeht - Du magst Recht haben. Aber es ging mir auch nicht wirklich um ein gesellschaftspolitisches Thema, sondern um die - für mich nur emotional beantwortbare - Frage, wie ich, ganz konkret als meiner Mutter Tochter, in einer solchen Situation handeln würde.
Daß diese Antwort schon in der Theorie sehr schwer fällt, schlägt sich eben in der Gefühlslastigkeit des Textes nieder.

Gruß,
M.

 

Hallo Der Weg.

Trotz der Kürze erzeugst du ein sehr tiefes Bild. Liegt aber auch wohl daran, dass du das typische Mutterbild darstellst (Hintern versohlen, Kopf streicheln, Tränen trocknen ...)
Ich denke, jeder kann sich in diese Situation hineinversetzen. Um das Steckerziehen allerdings nachzuvollziehen, ist mir das Ganze doch zu oberflächlich, da gebe ich Juschi Recht.

Vielleicht sollten diese typischen Muttereigenschaften nicht nur so kurz abgehandelt werden. Vielleicht baust du ein oder zwei kleine Mutter-Kind-Geschichten ein. Etwas, was das Kind geprägt hat; etwas, das zeigt, warum er/sie keine andere Alternative hat als den Stecker zu ziehen.

Fazit: sehr schön geschrieben, schwebt aber insgesamt doch zu sehr an der Oberfläche.

Gruß! Salem

 

Hallo Der Weg,

wenn ich deine Antwort an Juschi sehe, dann muss ich sagen, genau die Frage hast du nicht benatwortet. Denn deine Protagonistin überlegt in der Geschichte kaum. Sie "zieht einfach den Stecker". Damit fällst du natürlich auch auf die vereinfachte Filmdarstellung rein, denn für eine aktive Sterbehilfe reicht es nicht, einen Stecker zu ziehen.
Die Beziehung in der Bindung versuchst du zwar duch verschiedenen Mutterhandlungen zu erklären, wenn die Hand sowohl schlägt wie auch streichelt, die Ambivalenz scheint mir aber nicht in der Tochter zu landen. Sie greift sie emotional nicht an.
Dazu ist deine Geschichte zu kurz. Die Ambivalenzen könntest du deutlicher machen, wenn du von allem etwas merh erzählen würdest.
So hat mich dein Text leider auch nicht überzeugt.


Lieben Gruß, sim

 

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