Lotto
LOTTO
Frederick Loose lebte in einer kleinen, unscheinbaren Dachwohnung inmitten der Großstadt Berlin. Seine Wohnung war nur spartanisch eingerichtet: Ein einfaches Holzbett auf dem eine schmutzige, unbezogene und löchrige Wolldecke mit passendem Kissen lag, einen alten, sperrigen Kleiderschrank, einen Spiegel eingehüllt hinter einem Betttuch und einen verstaubten Fernseher, den er auf einem Stapel von alten Zeitungen platzierte. Überhaupt überfluteten ungelesene Zeitungen den ganzen Boden seines Zimmers. Sein einziger Lichtpunkt in seiner Wohnung war der kleine Balkon, von dem er die weiten der Großstadt erblicken konnte.
Für ihn war es ein erhabenes Gefühl, wenn er sich auf den Balkon stellte und die Menschen unten auf den Straßen beobachtete, die ihm wie kleine, verletzbare Ameisen vorkamen.
Dabei stellte er sich oftmals vor, dass sie seine minderen Untertanen und er ihr Tyrann war. Doch diese Vorstellung verflüchtigte sich immer dann, wenn er sich von seiner Kulisse der Herrschaftsillusion abwandte und er durch die Balkontür wieder in sein, wie er fand, niederes und erbärmliches Alltagsleben zurückkehrte. Zurückkehrte auf den schmerzvollen Boden der Realität, in sein spartanisch eingerichtetes Zimmer.
In dieser Armut lebte er nicht, weil er keine Arbeit fand. Nein, er war sich zu gut zum Arbeiten. Ein verkanntes Genie, etwas Besseres, das keine Beachtung fand. Er träumte von Wohlstand und Prestige. Und solange er dies nicht hatte, hasste er sein Leben und die Menschen, denen er die Schuld an seiner derzeitigen Misere gab, die seine Besonderheit, seine Vollkommenheit nicht erkannten.
Wie jeden morgen flog auch an diesem Tag, eine Zeitung durch seinen quietschenden Postschlitz an der Wohnungstür. Normalerweise schenkte er den Zeitungen keine Beachtung und sie wäre lediglich ein weiteres Mosaik seines Fußbodens geworden. ja, er hatte sie noch nicht einmal abboniert. Das Abbonement musste noch vom seinem Vormieter stammen und er würde sich wahrscheinlich auch solange keine Zeitung kaufen, bis nicht er selber endlich auf der Titelseite erscheinen würde. Doch heute erregte eine Anzeige auf dem Titelblatt sein Gemüt. „Heute im Lotto-Jackpot sind 20.000.000 € . Werden auch sie zum Lotto-Millionär und erfüllen sie sich ihre Träume!“, titelte die Anzeige. „Lotto. Natürlich! Wohlstand ohne Arbeit! Das muss es einfach sein! Endlich wird sich mein Leben ändern! Bald werden die Leute neidisch zu mir hinauf blicken! Eine göttliche Post!“, sagte er selbstsicher in einem fast ekstatischem Zustand. Er schnappte sich seinen Mantel, der auf dem Bett lag, schloss die Tür auf und rannte enthusiastisch das Treppenhaus hinunter. Doch als er aus der Haustür ging, überkam ihm ein Gefühl von Ekel und Angst. Die Ameisen waren plötzlich so groß wie er und er kam sich minderwertig und angreifbar vor. Nun stand er da, ungeschützt im Großstadtdschungel. Er hatte sein schützendes Baumhaus verlassen und wollte schon wieder nach drinnen flüchten.
Aber im selben Augenblick erinnerte er sich an die Anzeige. Und die Gefühle von Ekel und Angst wischen Mut und der Zuversicht auf ein besseres und wohlhabenderes Leben im Ameisenhaufen.
Der nächste Lottoladen war mehrere Blöcke entfernt. Er hatte die Möglichkeit, die U-Bahn zunehmen, doch war die überfüllt mit den von ihm so verhassten Menschen. Also entschied er sich zu laufen.
Den kopfsenkend versuchte er sich durch die Menschenmenge zu wühlen ohne jemanden in die Augen zu blicken oder gar zu berühren, was nur wieder seinen Hass erwecken würde. Es wurde zu einem Spießrutenlauf. Doch das Ziel, nämlich der Lottoladen, motivierte ihn, diesen abscheulichen Weg, diese schwere Last auf sich zu nehmen und durchzuhalten. Noch hundert Meter. Noch fünfzig Meter. Noch zehn Meter. Er hat es geschafft. Er ist heil angekommen und er hatte Glück, der Lottoladen war leer, nur die Kassiererin stand gelangweilt versteckt hinter einer Zeitung. Die Zeitung anblickend hypnotisierte die Anzeige wieder Frederick. „Du wirst dir deine Träume erfüllen. Du wirst wohlhabend sein. Zu dir werden die Leute neidisch hinaufblicken. Du bist was besseres.“, spuckte es nun in seinem Kopf herum. Er wusste, dass dieser Tag, dieser eine Tipp sein Leben verändern wird.
Doch da war etwas über das er sich noch keine Gedanken gemacht hatte. Welche Lottozahlen soll er tippen? Das Geburtsdatum seines verhassten Lebens ? Das wäre kein gutes Omen. Er betrachtete den Lottoschein, doch ihm fiel keine passenden Zahlen ein. Aber als er vom Lottoschein aufblickte, sah er durch das Schaufenster auf einem Schild die Telefonnummer des Juweliers, der auf gegenüberliegenden Straßenseite war. Das mussten es sein. Er war sich siche und kreuzte die Zahlen entsprechend der Telefonnummer an. Dannh gab er den Tippschein ab und die Selbstsicherheit und Euphorie setzte nun wieder ein. Er musste den Jackpot knacken. Es geht nicht anders. Es ist vorherbestimmt. Er weiß es. Schließlich nahm er den Beleg wieder entgegnen. Jetzt hatte er das Ticket für eine bessere Welt in den Händen. Eine bessere Welt für sich. Eine Welt in Wohlstand.
Er fühlte sich als wäre er ein andere Mensch. Ein besserer Mensch als alle anderen.
Den Lottoladen verließ er ohne sich zu verabschieden und nahm den gleichen Spießruten weg zurück. Wieder hundert Meter. Fünfzig Meter. Zehn Meter. Und er war wieder sicher daheim angekommen. Zurück in seinem beschützenden Baumhaus. Den Lottoschein legte er auf den Fernseher. Und immer wenn er ihn betrachtete, überkam ihn das Gefühl auf den Balkon hinaus zu treten und seinen Untertanen die gute Nachricht zu übermitteln. Die Nachricht, dass ihr Herrscher bald in Wohlstand und Ruhm lebt. Er war nun wer. Und morgen würde ihn die Leute anders betrachten. Neidisch werden sie zu ihm hinaufblicken und mit ihm befreundet sein wollen.
Die Lottoziehung am Abend im Fernsehen verpasste er, da er auf dem Balkon stand und Herrscher spielte. Diese Rolle spielte er auf seinen Ruhm wartend so authentisch, wie er es noch nie zuvor tat. Aber warum hätte er sie auch sehen sollen? Die Zahlen standen doch sowieso fest! Er war sich so sicher! Morgen. Morgen, beginnt ein neues Leben.
Am nächsten morgen stand er schon früh auf. Er hatte das Gefühl in eine neue Welt hineinzuspazieren. Sein Zimmer erschien jetzt nicht mehr so dunkel und ein neues Selbstbewusstsein überkam ihn. Er riss das Betttuch vom Spiegel und betrachtete sich seit Jahren zum erstenmal wieder darin. Früher sah er darin nur ein verkanntes Genie, ein Versager. Aber heute. Heute sah er in seinem Spiegelbild den Archetyp eines besseren Menschen und fing an sich selbst zu bewundern. Frederick nahm seinen Mantel, den Lottoschein und trat erhaben vor die Wohnungstür. Er konnte die Leute nun direkt ansehen und es kam ihm vor als würden nun sie respektierend und kopfsenkend an ihm vorbeilaufen. Der Versager war nun ihr Held!
Und diesmal musste er keinen Spießrutenlauf zum Tor des Wohlstands hinlegen. Nein. Er war sogar des Mutes in die überfüllte U-Bahn zu steigen. Obwohl er dort immer Hass auf alle empfand, fühlte er diesmal eine Mischung natürlich aus Hass ,aber auch aus Mitleid. Mitleid für die Minderwertigkeit ihrer Kleidung, Uhren, gesellschaftliche Stellung und für die Perspektivlosigkeit der mitfahrenden Personen, die mit ihm in Richtung des Wohlstandes fuhren. Sie würden aber nicht zusammen aussteigen. Nein, sie würden ihr Leben lang die endlosen U-Bahn-Strecken entlang fahren auf der Suche nach einem glücklichen, erhabenerem Leben und würden versuchen so zu sein wie Frederick. Dem war er sich sicher.
In der U-Bahn setzte er sich auf einen freien Platz. Neben ihm saß ein älterer Herr, der ihn freundlich grüßte. Diesen Gruß erwiderte Frederick aber nicht. Nein. Seine Augen waren auf die Zeitung ,die auf dem Sitz gegenüber von ihm lag, gerichtet. Was war los? Plötzlich brach eine Welt zusammen. Seine Welt. Seine neue, bessere Welt. Es war unglaublich. Schrecklich! Die Lottozahlen in der Zeitung entsprachen nicht der Telefonnummer von dem Juwelier. Falsche Telefonverbindung? Frederick hatte das Gefühl er würde in ein tiefes Loch fallen und von seiner Erhabenheit auf eine Minderwertigkeit hinabsinken, die er eben noch bemitleidet hatte. „Soll ich für immer in dem Zug sitzen und endlos nach einem glücklichen Leben suchen?“, schreite er laut im Zug. „Aber nein sie können jederzeit aussteigen.“, sagte der ältere Herr lachend. Frederick nahm den Lottoschein, zerknüllte ihn und warf ihn neben die Zeitung. „Wohl nicht im Lotto gewonnen? Also ich würde das ganze Geld spenden. Das würde mich am glücklichsten machen“, rief er Frederick hinterher, der rasend vor Wut an der nächsten Haltestelle den Zug verließ. Eine Haltestelle vor dem Lottoladen, vor der besseren Welt endete der Zug für ihn.
Von der U-Bahn-Station rannte er deprimiert nach Hause. Auf diesen Weg rempelte er fast jeden an, der ihm über den Weg lief und schrie ihn an, was er gegen ihn hat, warum er ihn nicht als was besseres und was vollkommeneres betrachtet.
Daheim angekommen, war er wieder in seinem Zimmer, das dunkler war als je zuvor. Denn auch der Balkon strahlte kein Licht mehr ins Zimmer. Er warf sein Mantel wieder aufs Bett und schlug mit seiner Faust den Spiegel ein als er sein ,wie er fand, widerwärtiges Spiegelbild betrachtete. Die Glasscherben schnitten seine Faust auf und Blut tropfte auf die Zeitungen, die den Boden bedeckten. Er nahm eine Zeitung und wickelte seine Hand darin ein, um die Blutung zu stoppen und setzte sich aufs Bett und betrachtete den verstaubten Fernseher. Ihm überkam die Idee, den Fernseher anzuschalten, um vielleicht einen Blick auf den glücklichen Lotto-Gewinner werfen zu dürfen. Es gab also jemand der besser ist als er. Der es mehr verdient hat als er. Es liefen gerade Nachrichten mit der täglichen Routine: Mord, Betrug und Krieg, als plötzlich ein Bericht über den Lottogewinner lief. „Heute morgen wurde in der U-Bahn von einem älteren Herrn ein Lottoschein gefunden, der neben einer Zeitung von gestern lag. Dieser Lottoschein enthielt die richtigen Lottozahlen und ist somit 20.000.000€ wert. Der glückliche Finder spendete den gesamten Gewinn einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich für Opfer diktatorischer Systeme in der dritten Welt einsetzt.“, tönte es aus dem Fernseher. Aber anstatt sich über seine Gedankenlosigkeit in der U-Bahn aufzuregen, überkam ihm plötzlich ein wunderbares und warmes Gefühl aus dem Herzen, das er noch nie zuvor gespürt hatte...