Lovers live a little bit longer
Ein Junge mit kahl rasiertem Schädel lehnte an der Fassade und drehte eine Zigarette. Nicht weit entfernt von ihm stand eine aufgebockte blaue Schwalbe auf dem Bürgersteig, die ihm zu gehören schien. So wie der Lack in der zwischen den graubraunen Altbaufronten stehenden Oktobersonne glänzte, war das Moped gut in Schuss gehalten.
Der Junge sah auf, als sich Schritte näherten. Gegenüber auf der anderen Straßenseite schlurfte eine alte, aber gut erhaltene Frau mit zwei prallen Einkaufstüten die leichte Steigung hinauf und verschwand schließlich im Dunkel eines Hauseingangs. Zur linken Seite rieselte aus einem offenen Fenster im Erdgeschoss des Hauses Popmusik auf den Bürgersteig und murmelte das leichte Gefälle hinab zum Golf, in dem Michael unbehaglich auf der abgewetzten und mit fremder Leute Müll bedeckten Rückbank kauerte und nachdachte.
ABBA; If it wasn't for the night; Album Voulez Vous; danach Chiquitita.
"Wollen wir?" Demonstrativ legte Grondei seine Hand an den Türgriff. Vogler überlickte noch einmal das Setting, strich den Strickpullover über seiner Wampe glatt und nickte.
"Und was ist mit dir?", fragte Grondei nach hinten.
Michael zögerte: "Gleich."
"Wie?"
"Ein paar Minuten noch."
"Was will er?", bellte Vogler auf dem Beifahrersitz, während er weiter zur Windschutzscheibe hinaus den kahlen Jungen anstarrte. Dieser drehte sich bei dem Versuch seine Zigarette anzuzünden mal in die eine, mal in die andere Richtung und suchte mit tief in den Schultern versunkem und hinter der hohlen Hand verstecktem Gesicht nach einer günstigen Stellung gegen den Wind, der mit milder Kraft über das Kopfsteinpflaster und den angrenzenden Gehweg strich.
"Keine Ahnung", sagte Grondei und gab die Frage an Michael weiter: "Was ist?"
"Das läuft so nicht", antwortete der. "Entweder legt der was Anderes auf, oder wir warten bis Lovers."
"Wer?"
"Keine Ahnung." Michael zuckte mit den Schultern. "Ist ja auch egal. Bei dem Lied jedenfalls geh ich nicht."
"Welches Lied?", fragte Grondei ungeduldig.
"Was gleich kommt."
"Wie?"
"Das passt nicht."
"Junge, ich versteh kein Wort."
Das Lied klang langsam aus: "If it..." Michael hob die flache Hand und drehte angestrengt horchend den Kopf zur Seite. "Gleich!"
Für einen Augenblick blieb alles still und selbst der Wind flaute ab. Sekunde um Sekunde verstrich. Über dem kahlen Jungen stieg ein feines Wölckchen grauen Rauchs auf und zerfloss im wieder aufkeimenden Wind. Als endlich die Gitarre das Thema von Chiquitita ankündigte, ließ Michael erlöst die Hand sinken und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung des offenen Fensters : "Das!"
Grondei lauschte für einen Moment in die gezeigte Richtung, dann fragte er anteilslos: "Was ist damit?"
"Na hör doch hin!"
"Chiquitita, tell me what's wrong..."
"Tu ich", entgegnete Grondei. "Scheiße! Und weiter?"
"Auf jeden Fall mach ich hier nichts, so lange das läuft."
"Sag mal..."
"Nein! Bei dem Lied nicht."
"Warum nicht?"
"Mann, das ist Chiquitita."
Grondei kratzte sich am Kopf. "Und weiter?"
"Das Ding davor oder das Ding danach, aber das..."
"Was hat der für ein Problem?", blaffte Vogler.
"Keine Ahnung", sagte Grondei. "Irgendwie gefällt ihm das Lied nicht."
"Mir auch nicht", motzte Vogler und wandte sich zu Michael, "aber wo ist jetzt das Problem?"
"Na", erklärte der, "das Ding hab ich schon gehört, da war ich noch so ein kleiner Stippie." Mit einer Hand deutete er an, wie klein er gewesen war, als sein Vater ihm die Kassette mit ABBAs größten Hits von Dancing Queen bis SOS und eben auch mit Chiquitita geschenkt hatte.
"Und weiter?"
"Da kleben zwanzig Jahre dran. Was meinst du, woran ich denke, wenn ich das Ding höre? Dann ist's einfach mal vorbei."
"Oh Mann, ich fass es nicht", fluchte Vogler. "Du hast wirklich eine ziemliche Macke, Junge."
"Was Macke? Das ist einfach die falsche Musik. Also immer schön ruhig bleiben, ja! Das dauert nur fünfeinhalb Minuten und dann kommt Lovers."
"Du, das ist mir mal völlig egal."
"Mann! Kann ich doch nichts für, dass der hier die falsche Musik auflegt."
"Aber für deine Macke kannst du schon was, oder?"
"Wieso Macke? Das ist doch normal."