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Lucy ist weg
„Lucy ist weg!“ Petra Angermanns Stimme überschlug sich vor Hysterie. Das Gesicht der Mittdreißigerin erschien jetzt noch blasser als zuvor, während das ihres Ehemannes Philipp knallrot anlief und versteinerte. „Wie meinst Du das - Lucy ist weg…“
„Ja, weg halt. Das war gerade die Polizei am Telefon. Jemand hat sie …“ Petras Stimme erstickte in einem Schwall aus Rotz und Tränen. Philipp schüttelte ungläubig den Kopf. Er nahm seine Frau in die Arme, die seinen frisch gebügelten dunklen Anzug nass schluchzte.
„Wirst sehen, wir werden eine Menge Spaß haben, Lucy." Gregor Schindel drückte zärtlich die Hand des Mädchens, das angeschnallt auf dem Beifahrersitz saß. „Willst du Musik hören? Oder eine Geschichte von Baby Blocksberg oder wie das heißt? Ich hab' alles da! Aber sag' mal ehrlich: gefall' ich dir? Hab' mich extra ein bisschen schön gemacht." Er verstellte den Rückspiegel, schaute sich an. Beim Rasieren hatte er sich ein paar Pickel aufgekratzt. Blut und Eiter waren inzwischen am Kinn angetrocknet. Mit seinen nikotingelben Fingern schob er seine Haare aus der Stirn, sie hatten dem Mittelscheitel zu folgen. Aus den billigen Lautsprechern hämmerten blechern Kinderlieder. Immer wieder musterte er während der Fahrt das Kind neben sich. Die langen blonden Haare fielen über Lucys Schultern und bedeckten die zarten Schultern. Der Haarreif war besetzt von kleinen rosa Stoffrosen. „Kompliment, deine Eltern haben echt Geschmack.“
Er steckte sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster. „Ich habe von dir in der Zeitung gelesen. So wird jeder mal ein bisschen berühmt, was?“ Er zog einen Zeitungsausschnitt aus der Brusttasche seines vergilbten Baumwollhemds. „Und was lese ich noch hier? Du hast morgen deinen achten Geburtstag. Keine Sorge, bis zur großen Sause bist du wieder zu Hause.“ Gregor lachte brüllend, seine Augen waren weit aufgerissen vor Begeisterung. „Hast du’s gemerkt? Sause … Hause. Das reimt sich! Hey, ich bin ein großer Dichter." Aus seinem Mund quollen Zigarettenqualm und ein schlichtes Lied. „Sause … Hause … Sause … Hause … sause doch nach Hause, dann ab unter die Brause …“ Sein Lachen dröhnte, fast verlor er die Kontrolle über das Auto. Der Wagen eierte nach rechts und links, Lucy wurde auf dem Sitz hin und her geschüttelt. Sie streiften einen Gartenzaun, zwei Holzlatten zersplitterten. Irgendwie schaffte er es, den Wagen wieder auf die Fahrbahn zu bringen.
„Guten Morgen, mein Name ist Henrik Paulsen. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall.“ Der Kommissar stand stocksteif im Rahmen der Haustür, nur der Kopf ruckte ein Stück nach unten, als Zeichen des Grußes. „Aber zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen, dass ich mit Ihnen fühle, …“ Philipp ließ ihn nicht ausreden. „Kommen Sie rein. Sie müssen unsere Lucy finden! Und dieses Schwein! Haben Sie denn schon irgendeine Spur?“ Der Kommissar hängte seinen Mantel an die Garderobe. Während sie durch den Flur zum Wohnzimmer gingen, rieb sich Philipp nervös die Hände. Sie setzten sich auf das Sofa. Petra lief bebend auf und ab. Der Kommissar bemühte sich um einen ruhigen und besonnenen Ton. „Wir haben noch nicht viel. Wir wissen aber, dass es sich um einen Serientäter handeln dürfte. Er ist seit Jahren im ganzen Land immer wieder aufgetreten. Es ist aber das erste Mal, dass er …“ Paulsen rang nach einer schonenden Formulierung, entschied sich dann aber für den geraden Weg. „Nun ja, dass er ein Kind mitgenommen hat. Soweit ist er noch nie gegangen.“ Philipp verbarg sein Gesicht in den Händen und Petra brach wieder in Tränen aus.
„Na, hab ich Dir zuviel versprochen?“ Gregor wedelte mit einer Puppe vor Lucys Gesicht herum und griff nach einer zweiten. „Schau, da ist noch eine. Die sind doch lustig, oder nicht?“ Lucy saß zusammengekauert in einem Sessel. Das Zimmer war sehr klein und hatte nur ein kleines Fenster, bei dem der Rollladen herabgelassen war. Ein schwerer schwarzer Schrank dominierte den Raum, in dem sich ansonsten nur noch eine Vitrine, ein Stuhl, ein kleiner Tisch und der Sessel, in dem Lucy saß, befanden. Die Wände waren kahl, in den Ecken breitete sich dunkler Schimmel aus. Gregor ließ die beiden Puppen miteinander knutschen. „Weißt du, worauf ich wirklich große Lust hätte, mein kleiner Liebling?“ Er riss den Puppen die Kleider vom Leib, presste sie zusammen und ließ sie hektisch kopulieren. Dann schrie er auf. „Schluss damit! Nein, das dürft ihr nicht!“ Er warf die Puppen Lucy zu Füßen und trampelte auf ihnen herum. Kleine Plastikarme und Beine zerbarsten, Fingerchen und Füße schleuderten durch die Luft, die hübschen Gesichter waren platt getreten, die Augen verdreht. Gregor war außer Atem. „Entschuldige bitte, Lucy. Aber Strafe muss sein." Er kniete sich keuchend neben Lucy und fuhr zärtlich mit einer Hand durch ihre Haare. Seine Stimme war jetzt samtweich. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du sehr schöne Augen hast? Ein wirklich wunderschönes Blau.“ Gregor stand auf und holte eine Flasche aus dem Schrank. „Magst du einen Schluck? Nicht? War auch nicht ernst gemeint. Ist nämlich Alkohol drin. Hochprozentiges Zeug, nix für Kinder. Aber da habe ich noch etwas anderes.“ Aus einer der unteren Schubladen fischte er einen Stoffbeutel und schüttete den Inhalt auf den Tisch neben dem Sessel. Kleine Kugeln kullerten heraus, es waren Glasaugen. „Eigentlich wollte ich blaue haben. Waren aber schon ausverkauft. Aber die braunen sind doch auch ganz schön, oder nicht? Zwei davon darfst du haben. Die schenk' ich dir.“ Er sah zur Vitrine, in der eine Reihe von Gläsern stand, lächelte Lucy an und zog schnippisch eine Augenbraue hoch. „Mit denen kannst du leider nicht spielen.“
Petra hatte wieder eine Beruhigungstablette genommen. Sie sprach wie beschwippst. „Sie sagten, ein Serientäter? Wieso haben wir noch nie davon gehört?“
„Wir hatten im letzten Monat sechs ähnliche Fälle. Wir haben bis heute nichts an die Medien rausgegeben. Auch mit Rücksicht auf die Familien. Aber ich fürchte, wir müssen in diesem Fall die Presse ins Boot holen. Vielleicht kommt dann ein Hinweis. Es würde die Chance erhöhen, Lucy wiederzufinden.“
„Wenn Sie meinen, das hilft. Können Sie wenigstens unsere Namen herauslassen?“
„Natürlich. Aber bitte bedenken Sie, dass findige Journalisten nur einen Blick in die Zeitungen werfen müssen, um auf den Namen zu kommen.“
Gregor setzte sich auf einen Stuhl und rutschte damit über den Holzboden ratternd in Lucys Nähe. „Soll ich dir was vorlesen? Schau her! Das sind deine Schwestern.“ Er öffnete einen Umschlag und zog Papierschnipsel heraus. Es waren Zeitungsausschnitte. „Das hier ist Verena. Und die hier heißt Katrin. Sieh mal, die hat nur drei Tage nach dir Geburtstag. Lustig, oder? Und dann sind da noch Anita, Charlotte, Renate und Birgit. Und du.“ Die Zeitungsschnipsel wanderten zurück in den Umschlag. Mit einer entschlossenen Bewegung stand er auf. „Bin gleich wieder da.“ Er verließ das Zimmer und kehrte wenige Minuten später zurück. Irgendetwas verbarg Gregor hinter seinem Rücken. Als er mitten im Raum stand, dreht er den Kopf zur Seite, blickte über seine Schulter und sah es an seinem Rücken aufblitzen. Er musste lachen. „Hoppla, dass da ein Spiegel ist, habe ich ganz vergessen. Du musst keine Angst haben, kleine Lucy. Ich werde ganz vorsichtig sein. Denk' an mein Versprechen!“
„Morgen hätte unsere kleine Lucy Geburtstag gehabt.“ Philipp senkte den Kopf. „Ich darf gar nicht daran denken, was der alles mit ihr …“ Petra wollte ihm den Rest ersparen und fiel ihm ins Wort. „Geht mir genauso. Aber die Fantasie macht, was sie will.“ Sie standen in ihrem Kinderzimmer. Alles war dort wie früher. Petra hielt Lucys Lieblingspuppe umklammert. Die Stoffpuppe mit den lustigen roten Zöpfen würde sie auf jeden Fall behalten. Sie setzte die Puppe in einen winzigen Stuhl und streichelte ihr über den Kopf. In Wahrheit streichelte sie Lucy.
Gregor nahm ein Tuch und wischte Lucy das Blut aus dem Gesicht. Das Kind lag auf dem Küchentisch, über seinem Kopf baumelte eine Lampe und tauchte die fahle Haut in neonkaltes Licht. „Schau, jetzt hast du es geschafft. War doch gar nicht schlimm. Und dein hübsches Kleidchen hat auch nix abbekommen.“ Gregor nahm das leblose Kind aus dem Sessel und trug es in die Garage. Er setzte den schlaffen Körper auf den Beifahrersitz, schnallte ihn an und lehnte den Kopf vorsichtig an den Türholm. Lucys tote Augen blickten halb geöffnet auf das Handschuhfach. Es war dunkel, als Gregor die Garage verließ und losfuhr.
Petra hastete im Morgenmantel zum Telefon. Sie hörte Kommissar Paulsens Räuspern. „Es geht um Lucy. Spaziergänger haben sie am Waldrand gefunden. Wie es aussieht, hat sie jemand letzte Nacht dort abgelegt.“
Petras Stimme durchdrang das Haus. „Philipp! Philipp!“ Als er die Treppe herunter kam, sah er, wie Petra auf dem Sofa saß, ihre Hand krampfte sich in ein Kissen. Er vernahm nur Wortfetzen, weil sie jetzt sehr leise mit Paulsen sprach. „Was hat er … grauenhaft … mein Gott … Vielen Dank … ja, wir kommen sofort.“ Petra berichtete, was ihr Paulsen gesagt hatte. Philipp war zu schockiert zum Autofahren, sie riefen sich ein Taxi.
Sie standen vor dem geschlossenen Sarg. „Wir wollen sie noch einmal sehen.“
Der Friedhofsgehilfe öffnete den Deckel. Philipp war bei aller Trauer um sein totes Kind erleichtert, dass es wieder da war. Er strich mit seinen Fingerspitzen über Lucys Gesicht. Sie schien zu lächeln. Mit aller Vorsicht schob er ihre Augenlider nach oben. Rehbraune Augen blickten ihn an. Philipp und Petra konnten nun endlich Abschied nehmen von Lucy, die ein Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen hatte.
Gregor kaufte sich beim Kiosk um die Ecke einen Stapel Zeitungen. Wie an jedem Tag studierte er die Todesanzeigen. Heute war keine dabei, die ihm gefiel. Er warf die Zeitungen weg und blickte verliebt in Lucys blaue Augen.