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Ludwig, der sich selbst belog
Ludwig ist ein ernstzunehmender Mensch. Generell zählt er wohl zu jenen Menschen, die man zweifelsohne als mündige, seriöse Bürger bezeichnen könnte. Nie im Leben hätte er sich in jüngeren Jahren ausmalen können, welch erbauliches, stattliches Leben eines Tages auf ihn warten würde. Er ist nicht bieder, wie gesagt, nur stolzer Vater dreier Kinder, die zielstrebig ihren Lebensweg bestreiten. Kann man denn mit einer solchen Lebensbilanz unzufrieden sein? Kann man nicht.
Er saß heute, wie jeden Tag, in der S-Bahn. Eine jüngere Dame hatte ihm gegenüber Platz genommen, ihr Blick war desinteressiert zum Fenster geneigt. Neben ihm, ein Herr in den besten Jahren, nämlich um die vierzig, leger gekleidet. Zwanglos telefonierte er mit seiner Gattin und diskutierte über den anstehenden Besuch der Elternschaft, der ihm, angesichts seiner Wohnungsrenovierung gar nicht gelegen kam. All das waren Informationen, die Ludwig tatsächlich aus diesem einzigen lauthals geführten Telefonat entnehmen konnte. Nichtigkeiten. Schleierhaft war ihm, warum es dieser Herr vorzog, seine Privatangelegenheiten im öffentlichen Raum auszuplaudern, anstatt zu Hause im Familienverband sämtliche Begebenheiten zu besprechen.
Sein Blick schweifte weiter im Raum herum und blieb letztendlich an einer älteren Dame hängen, die eine knallig pink gefärbte Blume am Hut trug. So etwas Verspieltes! Ab einem gewissen Alter sollte man sich solche Entgleisungen nicht mehr erlauben!
Nicht etwa, dass er bieder wäre. Nein, er hatte sich schon immer als außerordentlich toleranten, fürsorglichen Menschen bezeichnet. Dieses Bild von sich selbst bestätigte ihn gestern beispielsweise wieder eine Blumenverkäuferin am Hauptplatz, bei der er jede Woche mindestens einmal Lilien für seine geliebte Ehefrau einkaufte. „So einen Mann würde ich mir auch wünschen!“ hatte sie ihm augenzwinkernd und lächelnd zugeflüstert. Kein verführerisches Angebot in Ludwigs Augen, war die Verkäuferin doch schon etwas verwelkt mit den Jahren.
Als er aus der S-Bahn ausstieg, rückte er zu allererst seine Krawatte zurecht, überquerte die Straße und betrat das Spielzeugwarengeschäft, welches er schon seit Jahren führte, um wieder hinter seinem Kassierpult Platz zu nehmen. Sein hochgezwirbelter Rauschebart blieb dabei fast an einer Bill Clinton-Figur hängen, die in eine Sprechblase den Satz „Come into the oral office!“ sprach.
Als die ersten Kunden des Tages, ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter, den Laden betraten um sich über einige Pokemon-Figuren zu belustigen, harschte er ihnen die Worte „Der Fußabtreter hat nicht umsonst seine Existenzberechtigung! Herrschaftszeiten, sie schleppen mir doch den ganzen Schlamm ins Geschäft!“ entgegen und fuhr sich mit einer einstudierten Bewegung durch das obere Drittel der linken Barthälfte.
Beschämt wateten die beiden daraufhin minutenlang am Schweineborsten-Fußabtreter herum, auf dem ein knallroter Maikäfer die ankommenden Kunden mit den Worten „F-F-F-Flieg zu mir herein“ begrüßte. Überhaupt hatte fast alles in dem Laden seine eigene Sprechblase, eine Tatsache, die Ludwig allerdings aus Gründen der Betriebsblindheit schon lange nicht mehr registrierte. Mit starrem Blick folgte Ludwig den beiden, aus ihrem Enthusiasmus gerissenen Kunden, als diese das Geschäft verließen. War ja auch eine Unverschämtheit. Das hatte auch rein gar nichts mit einer biederen Haltung zu tun, jeder Mensch muss seine eigenen Grenzen setzen und diese begannen bei ihm eben einfach vor der eigenen Ladentür.
Seltsamerweise sollten diese beiden unverschämten Rabauken die einzige Kundschaft an diesem Tag bilden. Um 18:30 Uhr verschloss er das „Spielzeug-O-Rama“ und machte sich mit der S-Bahn wieder auf den Heimweg.
Als er seine Wohnung betrat, begrüßte er seine Gattin hämisch mit den Worten „Und heute viele Blümchen verkauft?“ die mit der Bemerkung „Ludwig, weißt du was? Geh spielen!“ zurück biss.
Schließlich legte er sich zu Bett. Immerhin musste er morgens früh auf und er wollte doch nicht zu spät kommen. Ludwig ist ein ernstzunehmender Mensch.