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Ludwig, der sich selbst belog

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14.07.2003
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Ludwig, der sich selbst belog

Ludwig ist ein ernstzunehmender Mensch. Generell zählt er wohl zu jenen Menschen, die man zweifelsohne als mündige, seriöse Bürger bezeichnen könnte. Nie im Leben hätte er sich in jüngeren Jahren ausmalen können, welch erbauliches, stattliches Leben eines Tages auf ihn warten würde. Er ist nicht bieder, wie gesagt, nur stolzer Vater dreier Kinder, die zielstrebig ihren Lebensweg bestreiten. Kann man denn mit einer solchen Lebensbilanz unzufrieden sein? Kann man nicht.

Er saß heute, wie jeden Tag, in der S-Bahn. Eine jüngere Dame hatte ihm gegenüber Platz genommen, ihr Blick war desinteressiert zum Fenster geneigt. Neben ihm, ein Herr in den besten Jahren, nämlich um die vierzig, leger gekleidet. Zwanglos telefonierte er mit seiner Gattin und diskutierte über den anstehenden Besuch der Elternschaft, der ihm, angesichts seiner Wohnungsrenovierung gar nicht gelegen kam. All das waren Informationen, die Ludwig tatsächlich aus diesem einzigen lauthals geführten Telefonat entnehmen konnte. Nichtigkeiten. Schleierhaft war ihm, warum es dieser Herr vorzog, seine Privatangelegenheiten im öffentlichen Raum auszuplaudern, anstatt zu Hause im Familienverband sämtliche Begebenheiten zu besprechen.

Sein Blick schweifte weiter im Raum herum und blieb letztendlich an einer älteren Dame hängen, die eine knallig pink gefärbte Blume am Hut trug. So etwas Verspieltes! Ab einem gewissen Alter sollte man sich solche Entgleisungen nicht mehr erlauben!

Nicht etwa, dass er bieder wäre. Nein, er hatte sich schon immer als außerordentlich toleranten, fürsorglichen Menschen bezeichnet. Dieses Bild von sich selbst bestätigte ihn gestern beispielsweise wieder eine Blumenverkäuferin am Hauptplatz, bei der er jede Woche mindestens einmal Lilien für seine geliebte Ehefrau einkaufte. „So einen Mann würde ich mir auch wünschen!“ hatte sie ihm augenzwinkernd und lächelnd zugeflüstert. Kein verführerisches Angebot in Ludwigs Augen, war die Verkäuferin doch schon etwas verwelkt mit den Jahren.

Als er aus der S-Bahn ausstieg, rückte er zu allererst seine Krawatte zurecht, überquerte die Straße und betrat das Spielzeugwarengeschäft, welches er schon seit Jahren führte, um wieder hinter seinem Kassierpult Platz zu nehmen. Sein hochgezwirbelter Rauschebart blieb dabei fast an einer Bill Clinton-Figur hängen, die in eine Sprechblase den Satz „Come into the oral office!“ sprach.

Als die ersten Kunden des Tages, ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter, den Laden betraten um sich über einige Pokemon-Figuren zu belustigen, harschte er ihnen die Worte „Der Fußabtreter hat nicht umsonst seine Existenzberechtigung! Herrschaftszeiten, sie schleppen mir doch den ganzen Schlamm ins Geschäft!“ entgegen und fuhr sich mit einer einstudierten Bewegung durch das obere Drittel der linken Barthälfte.

Beschämt wateten die beiden daraufhin minutenlang am Schweineborsten-Fußabtreter herum, auf dem ein knallroter Maikäfer die ankommenden Kunden mit den Worten „F-F-F-Flieg zu mir herein“ begrüßte. Überhaupt hatte fast alles in dem Laden seine eigene Sprechblase, eine Tatsache, die Ludwig allerdings aus Gründen der Betriebsblindheit schon lange nicht mehr registrierte. Mit starrem Blick folgte Ludwig den beiden, aus ihrem Enthusiasmus gerissenen Kunden, als diese das Geschäft verließen. War ja auch eine Unverschämtheit. Das hatte auch rein gar nichts mit einer biederen Haltung zu tun, jeder Mensch muss seine eigenen Grenzen setzen und diese begannen bei ihm eben einfach vor der eigenen Ladentür.

Seltsamerweise sollten diese beiden unverschämten Rabauken die einzige Kundschaft an diesem Tag bilden. Um 18:30 Uhr verschloss er das „Spielzeug-O-Rama“ und machte sich mit der S-Bahn wieder auf den Heimweg.

Als er seine Wohnung betrat, begrüßte er seine Gattin hämisch mit den Worten „Und heute viele Blümchen verkauft?“ die mit der Bemerkung „Ludwig, weißt du was? Geh spielen!“ zurück biss.

Schließlich legte er sich zu Bett. Immerhin musste er morgens früh auf und er wollte doch nicht zu spät kommen. Ludwig ist ein ernstzunehmender Mensch.

 

Hallo Jingles,

ich bin sicher, die Geschichte wird dem einen oder anderen gefallen. Mir leider nicht.
Das liegt vielleicht weniger an der Geschichte selbst, als an dem Gefühl, schlicht Dutzendware gelesen zu haben. Routiniertes Handwerk über eine Belanglosigkeit mit einer Pointe, bei der ich mich frage, warum wird mir das erzählt?
Auf dem Reißbrett entwickelte seelenlose Geschichten nach Lehrbüchern über das Schreiben. Somit liegst du genau im Trend von Kurzgeschichten.de, wo solchen Geschichten gern sogar noch Attribute wie "Sprachgewalt" angehängt werden. Leider ist dies der Text, der meine Frustration über derartige Geschichten zum Überlaufen bringt.
Dabei versuchst du ja wenigstens noch, auch auf Details zu achten, auch, wenn ich die nicht immer ganz glauben kann.

Sein hochgezwirbelter Rauschebart blieb dabei fast an einer Bill Clinton-Figur hängen, die in eine Sprechblase den Satz „Come into the oral office!“ sprach
In einem Spielwarengeschäft? Das hätte ich eher in einem Laden für Scherzartikel erwartet.
Der Selbstbetrug deines Prot liegt also darin, dass er sich für tolerant hält, obwohl er Leute mit schmutzigen Schuhen anherrscht oder für nicht bieder, obwohl er rosa Blüten ab einem gewissen Alter unpassend findet? Und wo liegt der von dir implizierte Gegensatz von bieder und tolerant? Bieder kann doch schon sehr vieil Toleranz beinhalten.
Wie kann ihm die Blumenverkäuferin Toleranz bestätigen obwohl sie angesichts der wöchentlichen Lilien allerhöchstens über seine Fürsorglichkeit spekulieren kann? Weiße Lilien an ein Krankenbett zu bringen, wäre übrigens alles andere als fürsorglich, sondern im Zweifelsfall eine bodenlose Pietätslosigkeit.
Manchmal ist dann auch die Formulierung in sich nicht konsistent.
Der Fußabtreter hat nicht umsonst seine Existenzberechtigung!
Hier werden zwei Aussagen so verknüpft, dass die eine die andere aufhebt. Bei deisem Schlamm gewinnt der Fußabtreter vielleicht seine Existenzberechtigung. Er liegt also nicht umsonst da.

Sicher habe ich diese Geschichte härter verrissen als es nötig wäre. Sie wird hier bestimmt vielen gefallen.
Sorry, sim

 
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sim schrieb:
Routiniertes Handwerk über eine Belanglosigkeit mit einer Pointe, bei der ich mich frage, warum wird mir das erzählt?
Diese Geschichte war der Versuch, das Charakterbild eines Protagonisten zu dekonstruieren.

Der Protagonist wird anfangs wie ein angepasster "seelenloser" Durchschnittsbürger beschrieben, der alles darum gibt, nicht aus der Reihe zu tanzen und eine etwas versteifte Grundhaltung zum Leben zeigt. Dieses erste offensichtliche Bild ist jedoch grundfalsch und entspricht nicht seiner wahren Identität, ich wollte es im Laufe der Geschichte subtil und immer radikaler werdend zerstören und ins Gegenteil verkehren.

Der Protagonist verwandelt sich vor dem geistigen Auge des Lesers vom "angepassten Familienvater mit Hang zum Sonderbaren" zum "exzentrischen Sonderling mit Hang zur Konservativität".

Dadurch dass er für sich selbst Toleranz verlangt, gegenüber anderen Menschen aber nicht tolerant ist, sich selbst aber als tolerant bezeichnet, belügt er sich selbst. Die Haltung zur Toleranz soll mitunter die innere Unausgeglichenheit, diesen Kontrast und innerlichen Widerspruch unterstreichen: Er lebt in gewisser Hinsicht wie ein Freigeist, lässt bei anderen Menschen aber keinen Freigeist zu, ist verspielt und doch ernst zugleich.

Das Selbstbild des Protagonisten weicht von seiner wahren Identität ab. Er ist sich seiner nicht bewusst, bzw. in sich zerrissen.

Ich wollte damit unterschwellig ausdrücken, das kein Mensch wirklich dem entspricht, was er offensichtlich, auch bei genauerem Hinsehen, zu sein scheint, bzw. dass nicht einmal der Mensch von sich selbst weiß, welche Grundzüge ihn zu dem machen, was er ist.

 
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Liebe Jingles,

was du aussagetechnisch damit bezweckt hast, habe ich schon verstanden.
Vielleicht ist es eine Frage der Perspektive. Wenn du diesen Selbstbetrug von einem Erzähler von außen beschreibst und ja auch in der Haltung des Protagonsten darstellst, gewinnt das ganze eine andere Subjektivität. Sprich. Dein Erzähler geht davon aus, dass dein Prot davon ausgeht, tolerant zu sein. Das nimmt zwangsläufig die Radikalität.
Was du darstellen hättest wollen, hätte also nur aus einer Ich-Perspektive ind er Radikalität funktionieren können. Dann wird der Selbstbertug aus sich selbst heraus entlarvt.

Genau das ist es, was ich mit meiner Kritik zum Ausdruck bringen wollte. Du scheinst dich daran zu orientieren, wie man Geschichten zu schreiben hat, nicht an der Geschichte selbst, nicht am Stoff und daran, welche Sprache er braucht. Das kann ich natürlich nicht beurteilen, auf mich wirkt aber das Ergebnis so.
Die Frage "warum wird mir das erzählt" war nicht auf die Intention bezogen, sondern auf die Seelenlosigkeit, die daraus entsteht, dass du von außen etwas analysierst.

Ich könnte mich fragen, woher nimmt der Erzähler das Recht, so von oben herab zu werten.
Solange du keine Empfindungen für deine Protagonisten hast oder ihnen mit Verachtung begegnest, wie in diesem Fall, solange läufst du das Risiko, dass man solche Geschichten aus dieser Perspektive nur als anmaßende Platitüde deines Erzählers empfindet. Das ging mir schon bei der Zivildienstgeschichte so und das ist auch bei dieser nicht anders.

Sorry, sim und Nachtschatten

 

Hallo Jingles,

nein, auch mir hat deine Geschichte leider nicht gefallen. Sicher, sie ist sauber erzählt. Aber inhaltlich ist sie einfach etwas unspektakulär und belanglos.

Du bzw. dein Erzähler vermittelt auch mir zu direkt, was er von Ludwig hält. Mir hätte es besser gefallen, wenn du nicht so oft betont hättest, dass Ludwig nicht bieder sondern ein seriöser Mann ist, sondern Ludwig sich selbst durch sein Handeln und seine Worte hätte entlarven dürfen. Natürlich wird deine Intention, die du in deinem Kommentar ja noch mal ausführst, deutlich. Für mich leider viel zu deutlich, und auch mir hat die Erzählperspektive nicht so zugesagt.

Details:

Du hast noch einige Kommafehler in deiner Geschichte. Ein Beispiel:

Zwanglos telefonierte er mit seiner Gattin und diskutierte über den anstehenden Besuch der Elternschaft, der ihm, angesichts seiner Wohnungsrenovierung gar nicht gelegen kam.
Er ist nicht bieder, wie gesagt,
Hattest du das tatsächlich schon gesagt?
Dieses Bild von sich selbst bestätigte ihn gestern beispielsweise wieder eine Blumenverkäuferin am Hauptplatz
ihm
Seltsamerweise sollten diese beiden unverschämten Rabauken die einzige Kundschaft an diesem Tag bilden.
Du bezeichnest die Mutter mit Kind als Rabauken?

Liebe Grüße,
Juschi

 

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