- Beitritt
- 10.11.2003
- Beiträge
- 2.245
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Lug und Trug
Lug und Trug
Bérénice schaute auf das iPhone, das auf ihrem Schreibtisch lag, dann durchs Fenster in den Garten. Sie hatte Lust, hinauszugehen und sich im Pool etwas abzukühlen, aber es wurden Gäste erwartet. Der Tisch unter dem großen Sonnenschirm war schon gedeckt, doch ihre Mutter ging noch einmal um die Sitzgruppe. Prüfend. Die Vase mit den Feldblumen musste etwas mehr in die Mitte gestellt werden, da und dort die Abstände zwischen den Stühlen einander angeglichen und der Stand der kunstvoll zu Vögeln gefalteten Servietten nochmals überprüft, auf dass ein Windstoß sie nicht so leicht umstieße.
Dabei regte sich schon den ganzen Tag kein Lüftchen, und es war nicht zu erwarten, dass sich das bis zum Eintreffen der Gäste ändern würde. Es war nur heiß, in der Sonne sogar drückend. Und doch trug ihre Mutter ein Kostüm. Ein leichtes natürlich, aber schon aufgrund des engen Schnitts weit davon entfernt, bequem zu sein oder gar luftig wie ein Sommerkleid.
Oder wie ein Bikini, den Bérénice trug. Oder vielmehr bis eben getragen hatte. Denn jetzt saß sie nackt da und betrachtete wieder das iPhone. Ein Geschenk ihrer Eltern für die guten Noten im Deutsch. Dabei war es diesmal wirklich leicht gewesen: Das Tempus in der Literatur heute. Ein Kinderspiel: Präsens, Präteritum und Konjunktiv II, alles kein Problem. Der Lehrer war beeindruckt, wie sie den Unterschied zwischen Imperfekt und Präteritum erklärte oder vielmehr nicht erklärte. Weil es praktisch keinen gibt. Alles nur eine Sache der Definition, nicht wahr?
Sie stand auf. Sie sollte duschen und sich anziehen, aber sie hatte keine Lust dazu. Sie wusste ja, wer kommen würde. Leute wie ihre Eltern. Höflich und leise, immer kontrolliert. Es war, als liefen sie immer mit angezogener Handbremse herum. Aus ihren Mündern kamen auch bei solchen Gelegenheiten nur wohlgeformte Wörter. Makellos wie ihre Kleidung. Oder wie ihre Körper. Kein Gramm Fett. Nirgends.
Sie schaute an sich herunter, fasste sich an die Brüste. Da hätte sie sich schon ein wenig mehr Fett gewünscht. Und der Hintern? In den Scheiben des Bücherschranks sah sie nur ein blasses Abbild ihres Körpers, trotzdem drehte sie sich einmal langsam um ihre Achse. Der Hintern war knabenhaft klein, der Bauch flach und die Hüften noch schmal. Die Umwandlung zur Frau hätte schon längst abgeschlossen sein müssen, aber ihr Körper schien noch zu zögern. Ob Männer sie trotzdem anziehend fanden? Sie schloss die Augen und versuchte sich an deren Blicke zu erinnern. Ja, da waren schon welche darunter, die es vor Jahr und Tag nicht gegeben hatte. Blicke, die langsam von oben nach unten und wieder zurück glitten und an manchen Stellen eindeutig länger verweilten. Selbst ihr Vater hatte sie schon so angesehen.
Das iPhone erzitterte. Sie sprang zum Tisch, sah sich die Meldung an.
„Ja!“
Auf der Stelle machte sie kehrt, lief zum Schrank und zog schon getragene Unterwäsche an. Und das, ohne vorher zu duschen. Normalerweise beides eine Unmöglichkeit, aber heute war das anders, heute war Sauberkeit out, ja die Stunde verlangte nach noch nie Dagewesenem: nach Schweiß. Aus den Tiefen des Kleiderschranks fischte Bérénice die wie ausgewaschen wirkenden und vorne extrem zerrissenen Jeans, die sie seit Tagen vor der Putzfrau versteckt hielt, sonst wären sie schon längst in der Reinigung. Dazu zog sie ein tiefblaues T-Shirt an. Blau war ihre Lieblingsfarbe. Es harmonierte mit ihren blauen Augen und bildete zugleich einen schönen Kontrast zu ihren langen blonden Haaren. Vorm Spiegel stehend zerzauste sie ihre Haare ein bisschen, schlüpfte dann in Zehenschlappen und lief die Treppe hinunter. Wo sie ihre Mutter traf.
„Wo willst du hin? Und in diesem Aufzug!“
„Muss zu Marie-Estelle. Mathe.“
„Jetzt? Du weiß doch, dass gleich die Schillings kommen!“
„Ja. Aber dafür braucht ihr mich nicht.“
„Der Titus ist aber auch dabei.“
„Titus? Und wenn schon. Mathe ist wichtiger.“
„Ah, seit wann denn das?“
„Seit … seit heute … Tschüüüss!“
Sie drehte sich im Gehen halb um und winkte zum Abschied ihrer Mutter zu, die sie noch mit schwachem „Aber Bérénice …“ aufzuhalten versuchte. Sie achtete nicht darauf und beschleunigte ihre Schritte sogar. Dass sie nun auf Titus verzichten musste, ärgerte sie zwar, aber sie hatte es Marie-Estelle versprochen, mit ihr auf eine außergewöhnliche Geburtstagsparty zu gehen.
„So kannst du nicht zu Smiley gehen!“, sagte Marie-Estelle, als sie sich gemeinsam auf den Weg machten.
„Nicht? Ich hab doch extra die schmutzigste Jeans angezogen …“
„Es sind nicht die Jeans – es sind deine Titten.“
„Meine … was?“
„Deine Titten. Hast schon richtig gehört.“
„Und … und was stimmt mit denen nicht?“
„Du muss sie zeigen. Das heißt: Der BH muss weg.“
„Weg?“
„Exakt. Wenn du wie eine Prolo aussehen willst, dann muss du darauf verzichten.“
„Verstehe ich nicht. Heutzutage tragen alle einen BH.“
„Nein, nicht alle. Die Prolotöchter haben’s noch nicht geschnallt, dass man ohne BH früher oder später einen Hängebusen bekommt.“
„Na ja, die Jennifer trägt schon einen …“
„Jennifer ist eine Ausnahme. Und die bestätigt die Regel.“
„Nein, Ausnahmen widersprechen der Regel. Hast du selbst mal gesagt.“
„So? Meinetwegen. Aber Fakt ist: Die werden dich so nicht für eine der ihren nehmen.“
„Und wenn schon!“
„Wie du willst. Als Ersatz könntest du wenigstens deinen Bauchnabel zeigen.“
„Aber das ist doch out!“
„Nicht bei denen.“
„Boah! Was muss ich noch alles tun?“
„Saufen!“
„Saufen? Was saufen?“
„Alles. Alles, was dir vorgesetzt wird.“
„Und was trinken die so?“
„Meistens Bier.“
„Ich mag doch kein Bier!“
„Wird dir nichts anders übrig bleiben, Schätzchen.“
„Haben die auch Weißbier?“
„Manchmal.“
„Hoffentlich haben sie’s heute. Das kann ich gerade noch trinken. Sonst sterbe ich.“
„Es wird schon nicht so schlimm werden.“
„Mann, bin ich aufgeregt! Hautkontakt zu echten Prols! … Sind wir bald da?“
„Sind schon. Da im Hinterhof ist es. Riechst du nichts?“
„Doch … es riecht feucht … nach moder … die haben hier wohl schon lange nicht mehr gelüftet …“
„Quatsch. So riecht Patchouli.“
„Patschouli?“
„Ja. Das Zeug dient der Tarnung.“
„Tarnung?“
„Es überdeckt Haschgeruch. Angeblich.“
„Toll, diese Tarnung: Wir tarnen uns und sie tarnen sich auch.“
„Tja, so sind die Zeiten: Nur Lug und Trug. Überall. Sogar einer aus deiner Sippe, der Freiherr …“
„Schweig! Den kennen wir nicht mehr.“
„Okay, okay. Wir sind ohnehin da.“
„Mann, wie finde ich das? Da gibt’s ja keine Möbel!“
„Wozu auch. Eine Matratze ist alles, was du hier brauchst. Sonst gibt’s Abschürfungen am Kreuz.“