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Lydias Blutige Gnade

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Anmerkungen zum Text

In dieser Geschichte wollte ich die Erzählweise durch den Zeitsprung ins Verhör etwas verändern, nicht nur chronologisch erzählen. Die Rückblende zur Auflösung empfand ich als sympathisch.

Lydias Blutige Gnade

Lydias blutige Gnade

- 31.03.1992 – 22:59 Uhr – Hamburg - Rotlichtviertel

"Du bist zu weich für diesen Job! Hab´ ich dir vor Jahren schon gesagt, Harvey!", brüllte ich über das Knallen der Gewehrschüsse hinweg.
"Ich bin nicht zu weich, sondern ich habe noch einen kleinen, beschissenen Rest meiner Seele aufbewahrt - das ist ein Unterschied, du herzloser Bastard!", erwiderte Harvey und duckte sich tiefer hinter den alten Holztresen, während Späne und Holzstücke um ihn flogen.
"Oh, dann ist ja alles gut, solange du dich durch die Hintertür in den Himmel schleichen kannst? Das kannst du vergessen! Solche Leute wie wir nehmen nicht den Fahrstuhl nach oben, sondern krachen durch eine Falltür nach unten, verstehst du? In die Lava, Harvey. Wir sehen uns in der Hölle wieder!", schrie ich. Am liebsten hätte ich ihn selbst erschossen, aber mein Colt war leer.
"Wir sind noch nicht tot!“, blaffte er zurück, „Nur in der Klemme!“
"Wir verrecken oder kommen in den Knast.", erklärte ich und blickte über das Ungeheuer von einem Tresen, hinter dem wir uns verschanzt hatten. Kaum das mein Scheitel zu sehen war, donnerten Schüsse durch die Empfangshalle des Bordells, das wir um eine halbe Million Deutsche Mark erleichtert hatten. Doch unseren leisen Abgang verhinderten mehrere der wunderschönen Frauen, als sie Waffen gezogen und das Feuer eröffnet hatten- jede von ihnen um ihren Anteil an dem gewaschenen Geld des Clans beklaut, von Harvey und mir.

Wir zerfetzten ihre schön geformten Körper mit 5,56mm-Geschossen, durchlöcherten sowohl ihre schönen Dessous, als auch den ein oder anderen Kopf. Bis unsere Magazine geleert waren und wir auf unsere Pistolen wechseln mussten. Mit solch hartnäckigem Widerstand hatten wir nicht gerechnet. Es sollte ein Quickie werden, die Waffen nur zum Einschüchtern herhalten. Rein, raus, ab auf ein Schiff und weg.
Doch vor der massiven, zweiflügligen Ausgangstür stand nun ein Mädchen. Sie war höchstens dreizehn Jahre alt, doch hatte ein Gewehr in der Hand und vermasselte uns gehörig die Flucht. Harvey brachte es nicht fertig, sie zu töten und zog mich hinter den Tresen, um dem Donnerhagel zu entkommen. Ich Blödmann knickte um, streckte erschrocken das Bein aus und fing mir eine Kugel in den Fuß ein. Umzingelt von über zwanzig Frauenleichen und einer Rotzgöre, die uns ein drittes Nasenloch in den Kopf schießen würde, verließ mich der Mut. Ich konnte Sirenen hören. Alles war außer Kontrolle.

"Die Bullen kommen. Todestrakt oder direkte Exekution, Harvey, worauf wettest du?"
"Halts Maul! Wir verschwinden hier, bevor die da sind."
"Dann erschieß dieses Mädchen endlich!", brüllte ich.
"Nein! Das mach´ ich nicht!", schrie er und schlug mir mit der Faust ins Gesicht.
"Tu es, du Weichei!" Harvey starrte mir in die Augen, schüttelte dabei langsam den Kopf.
"Dann mach ich es selber.", sagte ich und entriss ihm seinen Revolver. Ich beugte mich an der Seitenwand des Tresens vorbei und nahm sie ins Visier. Sie lehnte zitternd am Türrahmen. Die Kleine hatte Angst. Ich lächelte, hörte im Hintergrund das Schnappen eines Gewehrverschlusses. "Nur eine kleine Rotzgöre.", murmelte ich. Dann wurde es dunkel, ein gedämpfter Knall drang noch an mein Ohr. Harvey hatte die Seiten gewechselt. Ich fiel in ein schwarzes Loch, zumindest vorübergehend. Ohnmacht.

- 02.04.1992 – 19:38 Uhr - Hamburg, Intensivstation

„Das Mädchen schrie und schoss auf den Tresen, bis das Gewehr nur noch ein Klacken von sich gab.“, referierte Inspektor Barth, „Dann stand ihr Partner auf und rief dem Mädchen zu:
"Das Magazin ist leer, Kleine. Keine Sorge, ich werde dich nicht abknallen." Dann soll Herr Keller mit den Taschen einfach an ihr vorbeigegangen und verschwunden sein. Die Beute, aufgeteilt in zwei großen, schwarzen Reisetaschen, nahm er mit. So lautete ihre Aussage.“
„Dann ist er noch am Leben?“, fragte ich.
„So scheint es. Er ist auf der Flucht und zur Fahndung ausgeschrieben. Ihre Hinweise könnten strafmildernd wirken, sollten sie zu seiner Ergreifung führen. Aber ganz ehrlich: Es wird nicht viel verhandelt.“, antwortete Inspektor Barth und blickte mich über den Rand seines dicken Brillengestells an. Das war mir selbst schon aufgegangen. Ein gestandener Mord ist immer noch ein Mord. Also fünfundzwanzig Jahre sitzen, vielleicht länger.
„Er wird schon auf der anderen Seite des Atlantiks sein.“, mutmaßte ich.

- 31.03.1992 – 23:00 Uhr – Hamburg – zurück im Bordell

Das Gewehr war zu groß und zu schwer. Sie ließ den Lauf sinken, doch ihre Hände waren weiter um das Todesinstrument verkrampft. Sie war doch noch ein Mädchen.
"Die Tasche des Toten hinter dem Tresen ist zweihundertfünfzigtausend Mark schwer. Zu wenig für deine Seele, aber besser als ´ne Kugel im Bauch.", Harvey wartete nicht auf ihre Antwort, sondern verschwand durch die Vordertür, wie es geplant war. Die Sirenen rückten näher, doch er war schon in seinem silbernen Toyota verschwunden, als die Einsatzkräfte eintrafen. Auf ihn wartete ein Frachtschiff mit dem Ziel Ostküste der Vereinigten Staaten.

Die dritte Tasche war ebenfalls verschwunden, bis die Kleine mit ihrer Aussage fertig war und sich unbeobachtet aus dem Staub machen konnte – obdachlos, perspektivlos, aber zweihundertfünfzigtausend Mark schwer und frei von den Fesseln des Clans, der sie nach Deutschland verschleppt hatte. Ihr Name war Lydia. Sie musste erwachsen werden.

 

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