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Märchenwald
Abraham Jackson lag, völlig durchnässt und entkräftet, verborgen hinter einem toten Baumstamm auf dem Waldboden. Er hoffte, dass ihn nichts und niemand hier entdeckte, bis er sich etwas erholt hatte.
Nicht, dass ihm sein Zustand allzu viel ausmachte. In seiner bisherigen Ausbildung war es Gang und Gäbe gewesen, übermüdet und erschöpft durch den Dreck zu kriechen.
Aber das hier war etwas ganz anderes.
Dies war der letzte Test - sollte er ihn bestehen, bedeutete das eine Aufnahme in die geheime Spezialeinheit, die Missionen im direkten Auftrag des Präsidenten ausführte. Damit gehörte man zu den Besten der Besten.
Er wusste nicht einmal, wo er war. Die Transportflugzeuge konnten einen innerhalb von vierundzwanzig Stunden an jeden Ort der Welt bringen. Sie waren fünfunddreißig Stunden unterwegs gewesen, bevor man sie abspringen ließ. Direkt über einem Wald. Es gab nur einen Auftrag: Finde aus dem Wald heraus.
Was sich so einfach angehört hatte, erwies sich als härtester Teil seiner Ausbildung überhaupt.
Schon allein die Umgebung war seltsam. Die Bäume trugen kaum Blätter, trotzdem schien die Sonne nicht durchdringen zu können. Alles wirkte düster und trostlos, in gewissem Sinne schien alles hier steinern und uralt zu sein.
Jackson hatte von Anfang an ein seltsames Gefühl gehabt, als beobachte ihn jemand. Natürlich dachte er dabei an versteckte Kameras, zu Überwachungszwecken, zumindest versuchte er sich das einzureden.
Als er auf die sprechenden Bäume getroffen war, hatte er noch an einen blöden Scherz der Ausbilder geglaubt. Animatronische Dinger, die ihm Angst machen sollten. Dicke, knorrige Stämme, mit verzerrten Gesichtern darauf. Sie hatten geheult und ihn verspottet. Jackson hatte mit dem Bajonett auf einen davon eingestochen. Blut war aus dem Baum gequollen, und das Lachen war in Schmerzenschreie übergegangen. Immer weiter hatte er auf den Baum eingehackt, aber es war keinerlei Mechanik zum Vorschein gekommen. Nichts Künstliches. Keine Drähte, kein Lautsprecher. Nur Blut und Holz. Als ihm klar geworden war, dass es sich um echte Bäume handelte, war er in Panik davongelaufen. Die anderen Bäume hatten ihm nachgerufen, er sollte den Wald nicht mehr ungeschoren verlassen.
Ein Heulen hatte in ihre Rufe eingestimmt. Es war aus der Ferne gekommen. Wie Wölfe oder große Hunde.
Jackson hatte viel zu spät bemerkt, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Der Boden neigte sich bergan, was kräftezehrend war, und der Waldrand wäre in dieser Richtung wohl am weitesten entfernt.
Deshalb hatte er angehalten, um kurz auszuruhen und sich zu orientieren. Jackson hätte sich für seine Unbeherrschtheit ohrfeigen können. Diese verdammten Bäume, echt oder nicht, hatten ihn eine Scheißangst gemacht. So etwas hätte nicht passieren dürfen.
Es wurde bereits dunkel, trotzdem änderten sich die Lichtverhältnisse nur geringfügig. Es war Vollmond, aber Abraham zweifelte daran, dass das Mondlicht allein damit zu tun hatte.
Abraham überlegte. Er musste seine Richtung ändern. Es war sinnlos noch weiter bergauf zu gehen, ebenso wenig wollte er zurück zu den sprechenden Bäumen. Also wäre es am besten...
Halt! Seine Sinne waren darauf gedrillt, seine Umgebung konstant zu überwachen. Hatte sich da etwas bewegt? Er meinte einen Schatten im Geäst eines Baumes zu erkennen. Als er sich auf das wabernde Dunkel in den Ästen konzentrierte, glaubte er ein Augenpaar zu erkennen. Plötzlich huschte dieses Etwas davon. Von einer Baumkrone zur anderen. Etwa ein Dutzend andere Schatten, die er nicht bemerkt hatte, taten das selbe. Kreuz und quer sprangen sie von Baum zu Baum ohne ein Geräusch oder Bewegung zu verursachen.
Ein Zischen hinter ihm ließ ihn herumfahren. Auf dem umgestürzten Baumstamm kauerte ein seltsames Wesen.
Es war klein und hager. Schwarz wie ein Schatten, seine Fäuste vor sich auf dem Baumstamm ruhend, starrte es ihn an.
Zwei rotglühende Augen waren die einzigen erkennbaren Konturen in dem länglichen Gesicht.
„Wirrrchhh hhhaben dichhhhh geeehfunden“, zischte es ihn an.
Abraham griff nach seiner Waffe. Aber noch bevor er die Mündung auf das Wesen richten konnte, war es bereits aufgesprungen und den nächsten Baumstamm hinaufgehuscht, um sich zu den anderen zu gesellen.
Er schoss ihm nach, leerte ein ganzes Magazin, ohne erkennbare Wirkung.
Irgend etwas kam aus dem Nichts geflogen und traf ihn am Kopf. Ein Stein?
Er wusste es nicht, aber er fühlte gleich darauf Blut an seiner Schläfe hinunterlaufen.
Wieder packte ihn die Angst. Er musste weg. Abraham drehte sich um und lief. Hinter sich hörte er weitere Wurfgeschosse in den Waldboden einschlagen. Weg, einfach nur weg von hier.
Er lief bergab, aber nicht in die Richtung aus der er gekommen war.
Die Schatten folgten ihm. Links und Rechts sah er, wie sie von Baum zu Baum huschten.
Plötzlich landete eines der Wesen auf seinem Rücken. Er spürte ein Stechen in seinem Nacken, aber als er danach schlug war da nichts, außer ein paar Kratzern an seinem Hals. Abraham setzte seine Flucht fort, verfolgt von den Schatten und ihren Geschossen, die sie auf ihn warfen.
Blieb er auch nur eine Sekunde stehen, trafen sie ihn. Solange er in Bewegung blieb, war er vor ihren Würfen relativ sicher.
Schatten sprangen im Laufen auf ihn und nagten an seiner Ausrüstung. Irgendwann riss der Tragegurt seines Rucksackes. Abraham ließ ihn fallen und lief einfach weiter. Stehen bleiben hatte keinen Sinn mehr. Seine Munition hatte er, in verzweifelten Versuchen die Schatten zu verscheuchen, verbraucht. Es blieb ihm nichts anderes übrig als weiterzulaufen.
Aber wie lange konnte er das durchhalten? Laufen, den Bäumen ausweichen, die Schatten ignorieren. Er hatte keine Ahnung ob er seine Richtung gehalten hatte, seine einzige Orientierung war die Neigung des Waldbodens. Er war bereits mehrmals gestolpert und hingefallen. Abraham wusste nicht, ob die Schatten ihm etwas vor die Füße geworfen hatten, oder es einfach Wurzeln gewesen waren, die aus der Erde ragten. Jedenfalls schmerzte seine Hüfte seit dem letzten Sturz, trotzdem zwang er sich weiterzulaufen.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit sah er Licht zwischen den Bäumen. War das der ersehnte Waldrand? Abraham hielt darauf zu. Das Licht flackerte, wie Feuerschein. Als er näher kam, sah er, dass sich auf der beleuchteten Fläche keine Bäume mehr befanden. Der Waldrand war zum Greifen nahe. Mit letzter Kraft legte er einen Spurt hin und hechtete zwischen den letzten Baumreihen hindurch. Er rollte sich ab und blickte zurück, um zu sehen, ob die Schatten ihm auf das offene Gelände folgten.
Nichts. Er sah sie in den Baumkronen sitzen. Sie zischten ihn an, aber sie kamen nicht herunter.
Er hatte es geschafft, er war aus dem Wald heraus. Zwar hatte er seine Ausrüstung verloren und nur sein Gewehr gerettet, aber er sollte ja auch nur einen Weg herausfinden. Das Wie war ihm selbst überlassen.
Die Schatten hatten sich anscheinend geschlagen gegeben, denn sie warfen nichts mehr nach ihm. Das Licht, das ihn hier hergeführt hatte, kam von Fackeln, die mit langen Stielen im Boden steckend, den Waldrand säumten. Abraham fragte sich, wer sie wohl aufgestellt hatte. Wahrscheinlich sollten sie einfach als Orientierungshilfe dienen.
Wo musste er nun hin? Er hatte eigentlich angenommen, dass am Rande des Waldes ein Empfangskomitee auf ihn wartete. Wahrscheinlich war der Waldrand zu groß, um ihn lückenlos zu besetzen. Er musste ja nur daran entlang wandern, um auf jemanden zu treffen.
Jetzt erst wagte er, die Schatten in den Baumkronen aus den Augen zu lassen. Sie waren noch immer da, reglos starrend. Abraham wandte sich von ihnen ab und erstarrte. Was er für den Waldrand gehalten hatte, erwies sich nun als Lichtung. Die Fackeln bildeten einen Kreis um den freien Platz im Wald und tauchten den Ort in fahles Licht. Er befand sich noch immer innerhalb des Waldes.
Plötzlich fingen die Schatten in den Bäumen an zu zischen. Abraham interpretierte das als höhnisches Lachen. Sie waren nicht nur hinter ihm, sondern überall in den Bäumen, rings um ihn herum. Damit nicht genug, bemerkte er jetzt, dass die Bäume Gesichter hatten. Oder hatten sie erst jetzt welche bekommen? Ja, er war sich sicher, es waren vorhin ganz normale Bäume gewesen. Jedenfalls begannen sie in das Gelächter der Schatten einzustimmen. Sie lachten und verhöhnten ihn.
Nun wurde Abraham klar, dass er in eine Falle gelaufen war.
In diesem Augenblick hörte er wieder das Heulen. Nicht aus der Ferne, wie beim ersten Mal, sondern ganz in der Nähe. Es kam aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen.
Plötzlich verstummte das Lachen und Zischen und eine seltsame Gestalt kam aus dem Unterholz.
Das Wesen war klein, etwa halb so groß wie Abraham und trug eine graue Kutte. Das Gesicht war im Dunkel der Kapuze verborgen.
Abraham hob sein Gewehr, bereit sich zu verteidigen, auch wenn ihm dieses Wesen nicht wirklich gefährlich erschien.
„Du hast einen Baum getötet“, begann es zu sprechen und seine Stimme klang weich und angenehm. „Den Wald zu betreten ist verboten und wir vertreiben alle Eindringlinge. Aber dein Tun ist unverzeihlich. Die Hüter verlangten nach deiner Haut. Ich habe sie ihnen versprochen. Mach dich bereit!“
Noch ehe Abraham etwas erwidern konnte, verschwand das Wesen wieder in der Dunkelheit.
Ein Rascheln ließ ihn herumfahren. Von drei Seiten tauchten bizarre schwarze Hunde aus der Dunkelheit auf. Groß wie Kälber, wirkten diese Tiere wie eine Mischung aus Dobermann und Rottweiler. Auf ihrem Rücken saßen Gestalten von der Größe des Kuttenträgers. Ihr schlanker Körper mit dem glänzenden schwarzen Fell, verlieh ihnen eine katzenartige Erscheinung. Ihr Kopf, mit der gedrungenen Schnauze und dem breiten Maul erinnerte dagegen an mittelalterliche Wasserspeier. In ihren Händen hielten sie hölzerne Lanzen. An dem einen Ende befand sich eine metallene Klinge, am anderen jedoch ein menschlicher Totenschädel.
Die Lichtung war auf einem Mal zur Arena geworden, mit Schatten und sprechenden Bäumen als Zuschauer und seltsamen Gladiatoren, die die Blumen auf der Wiese zertrampelten. Abraham machte sich bereit. Wenn er die Worte des Kuttenwesens richtig verstanden hatte, war dies ein Kampf auf Leben und Tod. Auch wenn es anscheinend für ihn nicht den Hauch einer Chance gab, wollte er seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Seine Haut, darauf hatten sie es ja anscheinend abgesehen.
„Ah, da ist ja das Menschlein, das Kruun den Greis auf dem Gewissen hat“, sagte einer von ihnen mit quäkender Stimme. „Ja, lasst uns mit seiner Haut eine Trommel bespannen und ein Trauerlied für Kruun singen“, krächzte der andere
Einen Kampfschrei ausstoßend, gaben die Beiden ihren Reittieren die Sporen und stürmten auf ihn zu.
Abraham hielt sein Gewehr wie eine Lanze, um den ersten, der ihn erreichte, mit dem Bajonett aufzuspießen. Plötzlich bemerkte er im Augenwinkel, dass der dritte eine Schleuder über dem Kopf wirbelte. Zu spät! Ein Stein traf ihn an der Hand und er ließ vor Schmerz die Waffe fallen. Das letzte was er sah, war ein grinsender Totenschädel, der auf sein Gesicht zugerast kam. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Der Hüter mit der Schleuder ritt zu dem am Boden liegenden Abraham hin. Er stieg von seinem Hund und betrachtete ihn mit spöttischem Blick. Dann zog er ein Messer mit kurzer, scharfer Klinge aus seinem Gürtel und machte sich ans Werk.
Epilog:
Alle Herumstehenden lachten, als Abraham Jackson aus dem Wald trat. Genau wie die Bäume gelacht hatten, während er noch seinen Weg hinaus gesucht hatte. Er war splitterfasernackt auf der Lichtung erwacht und hatte sich, unter dem allgemeinen Spott der Waldbewohner, auf den Weg nach draußen gemacht. Die Hüter waren neben ihm hergeritten und hatten Spottlieder gesungen. Dazu hatten sie auf Trommeln gespielt, die mit dem Stoff seiner Uniform bespannt waren.
Ihren Hohn zu ertragen war einfacher gewesen als den seiner eigenen Kameraden.
„Na, Jackson, gehäutet worden?“, fragten sie ihn und schüttelten sich vor Lachen, während er nackt auf den Ausbilder zuging, um sich unter allgemeiner Heiterkeit und Erniedrigungen vorschriftsmäßig zurückzumelden.