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Möbiusschleifen
»Es wird Zeit, Frau Mundrach.«
Er soll mich hier verweilen lassen. Dich in meinen Händen, allein mit meiner Erinnerung, die viel zu frisch ist, um sie in der Vergangenheit zu denken.
»Stefan!«
Ich rüttle leicht an deinen Beinen, um dich zu wecken. Hätte ich von draußen die Musik nicht gehört, wäre ich vielleicht nicht einfach so in die Wohnung gegangen. Immerhin habe ich den Schlüssel nur für Notfälle. Ist dies ein Notfall?
Du hast nicht geöffnet, nachdem ich geklingelt habe. Und ich hörte die Musik, die durch deine Tür drang. Sie war nicht so laut, dass du mein Klingeln nicht hättest hören können.
Seit drei Tagen hast du dich nicht gemeldet. Da habe ich mir eben Sorgen gemacht.
Es ist so ordentlich hier. Anscheinend brauchst du mich gar nicht mehr. Ein paar Blumen könnten nicht schaden. Ich werde welche mitbringen, wenn ich dich das nächste Mal besuche.
»Stefan, aufwachen!«
Ich schüttle dich etwas fester an der Schulter. Du siehst so friedlich aus, erst recht, wenn du im Schlaf lächelst. Deinen Schlaf hast du von mir. Wie oft musstest du mich mit aller Gewalt aus den Träumen reißen, um pünktlich zur Schule zu kommen, als du noch ein Kind warst?
Du scheinst getrunken zu haben. Eine leere Flasche Wodka steht neben dem Sofa auf dem Tisch. Vielleicht wolltest du gar nicht einschlafen? Sonst wärest du doch sicher in das teure Bett gegangen, das ich dir zu deinem Umzug geschenkt habe. Lange kannst du ja noch nicht dort auf der Couch liegen. Immerhin läuft die Musik noch.
»Stefan!« Ich werde energischer und lauter. Dabei streichle ich durch dein Haar. Wie lange habe ich deine Wangen nicht mehr berührt. Ob ich es darf? Als du klein warst, mochtest du es, wenn ich dir mit dem Zeigefinger ganz leicht über die Lippen strich. Das war schön. Einmal noch. Vielleicht weckt dich ja die schöne Erinnerung.
Du bist so blass. Du solltest viel öfter an die Sonne gehen. Ich habe doch so einen schönen Garten. Warum nutzt du ihn nicht?
Wie schön war es, als du noch lieber bei mir bleiben wolltest, statt dich mit Freunden im Hof zu treffen. Nie konnte ich dich rausschicken. Egal wie schön das Wetter war. Immer musste ich dich zwingen, mir mal ein paar Stunden Ruhe zu gönnen, in denen ich Zeit für mich hatte. Nie wolltest du von meiner Seite weichen.
»Stefan.« Zärtlich flüstere ich deinen Namen. Mein Zeigefinger spürt keinen Widerstand an deinen Lippen. Warum sind sie so blass, deine Lippen? Fast bläulich? Und warum spüre ich keinen Atem?
Jetzt kreische ich, packe dich fest an beiden Schultern, reiße dich hoch und presse dich wieder auf das Sofa zurück. Die Panik möchte mir etwas einreden, was unmöglich wahr sein kann, aber warum wachst du immer noch nicht auf? Wo ist dein Herz? Kann ich fühlen, ob es noch schlägt? Vielleicht, wenn ich die Hand unter deinen Pulli halte? So wie früher, wenn du Fieber hattest? Du bist so kalt! Du müsstest doch frieren.
»Stefan, wach endlich auf!«
Wo hast du nur dein Telefon? Ich muss unbedingt einen Notarzt anrufen. Welche Nummer war das noch? Warum verwechsle ich immer "eins-eins-null" und "eins-eins-zwei"? Was muss ich wählen, was muss ich sagen?
»Hallo? – Kommen Sie bitte schnell! - Mein Sohn.«
Wie gut, dass sie Geduld mit mir haben, auch wenn ich immer unklarer und ungeduldiger meine Antworten in den Hörer brülle. Wie gut, dass sie mir am anderen Ende Fragen stellen. Fragen sind etwas, an dem ich mich festhalten kann. An ihnen kann ich mich durch die Informationen kämpfen, bis endlich die erlösende Auskunft kommt: »Wir schicken sofort jemanden vorbei.«
Warum sehe ich dich auf Fotos nie lachen? Die Bilder deiner Kindheit scheinen von Wolken überzogen, einem Schatten, der über deinem Mund liegt, und ihn verschließt? Dabei hast du so oft gelacht, dass ich deine gute Laune manchmal nicht ertragen konnte. Du hattest es doch gut bei mir. Ich habe dich so sehr geliebt. Auf alles habe ich deinetwegen verzichtet, am meisten auf das Leben.
Als du dich ankündigtest, mir in die Eingeweide trampeltest und mich allmorgendlich kotzen ließest, habe ich zu rauchen aufgehört. Nur einen Schnaps habe ich mir hin und wieder gegönnt, um die Schmerzen zu lindern, die Übelkeit. Ich habe mich auf dich gefreut.
Wie lange dauert das Lied eigentlich noch? Oder fängt es immer wieder von vorne an?
»Die Fenster sind verdunkelt. Das Telefon ist stumm. Die Klingel hab ich abgestellt, nun bringe ich dich um.«
Habe ich das nicht schon mal gehört?
Wie lange durfte ich dich nicht mehr küssen? Darf ich es jetzt? Darf ich meinen Mund auf deinen pressen, um dir meinen Atem zu leihen, nur so lange, bis du wieder deinen eigenen findest? Deine Lippen empfangen mich, aber die Lungen sind versperrt. Es ist, als ob du ein Ventil geschlossen hast. Wie kann ich es schaffen, es zu öffnen und dir wieder Leben einzuhauchen?
Nein, so darf ich nicht denken. Du lebst. Du atmest nur nicht. Wenn die Ärzte kommen, werden sie es schon schaffen, aus deinem Lächeln wieder ein Lachen zu zaubern, so hell und klar, wie ich es aus deinen Kindertagen kenne. Wo bleiben sie nur?
»Sie hat dich viel geprügelt. Du gabst es ihr zurück. Du tötetest die Greisin mit rhetorischem Geschick.«
Ist es die Musik in einer Endlosschleife gefangen?
Hast du eine Vorstellung, wie es ist, wenn die Mutter einen nicht liebt? Meine hat mich nicht geliebt. Sie hat mich geschlagen und erniedrigt. Ich habe dich nie geschlagen. Das wollte ich dir nicht antun. Ich weiß, wie weh das tut. Du solltest es gut haben bei mir. Du solltest mir vertrauen, mich als Freundin sehen, der du alles erzählen könntest. Immer hättest du zu mir kommen können. Warum musstest du dich betrinken?
Vielleicht wachst du auf, wenn ich auf deine Brust drücke? Wie fest kann ich drücken? Ich will dir doch nicht weh tun. Aber du schläfst so fest. So fest habe ich nie geschlafen.
»Wie lange siehst du schon diesen blöden Film?« Die Geräusche aus deinem Fernseher holen mich aus dem Schlaf. Es ist Sonntag. Ein schöner Tag. Die Sonne steht so hoch über meinem Fenster, dass es schon Mittag sein muss. »Warum hast du mich nicht geweckt, als du aufgestanden bist?«
»Mama. Steh bitte auf.« Deine Bitte kam wie immer zu spät.
»Dir ist es egal, ob ich aufwache. Wenn es dir so egal ist, dann brauche ich auch nie wieder aufzuwachen. Du genießt die Zeit ohne mich. Wahrscheinlich ist es eine Erholung für dich.«
»Mama, steh bitte auf!« Wie hilflos deine Versuche waren. Hättest du nicht einmal morgens zu mir ins Bett kommen können, wie Kinder, die ihre Mütter lieben? Mich mit Küssen wecken? Hättest du nicht Frühstück für mich machen können und mich mit dem Duft von Kaffee wecken, wie die Kinder im Werbefernsehen?
Du solltest doch anders werden. Nicht, wie die Männer, die mich verlassen haben wie dein Vater, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr. Du solltest Rücksicht lernen. War das so schwer? Nicht einmal meine Tränen konnten dich zu liebevoller Zärtlichkeit erziehen. Warum warst du bloß so sehr Mann? Schon als kleiner Junge? Was habe ich falsch gemacht? Warum konnte ich dir nicht beibringen, wie man seine Mutter achtet? Ich wollte doch nur, dass du es bei deiner Frau später auch können würdest.
Endlich. Wo waren die Sirenen? Habe ich sie durch die Musik nicht gehört? Aber die Türglocke ist laut. Sie kann man nicht überhören, schon gar nicht, wenn man ungeduldig auf die Erlösung wartet.
»Kommen Sie rein!«, fordere ich die Männer auf. Die Sorge steckt mir im Hals und läuft mein Gesicht herunter. Ich schaue sie kaum an. Ich wende mich gleich ab, um ihnen den Weg zu weisen.
Es sind so viele Geräte im Koffer, so viele Werkzeuge der Hoffnung, die sie bei sich tragen. Die könnten sie doch wenigstens benutzen, anstatt sich wortlos über dich zu beugen und deine Augenlider zu öffnen. Spüren sie die Vorwürfe in meinen Blicken nicht? Merken sie nicht, wie misstrauisch ich ihnen über die Schulter schaue? Wie schaffen sie es, aufzustehen, ohne etwas versucht zu haben und mir ins Gesicht zu schauen, während sie mir routiniert mitteilen: »Es tut uns Leid. Wir können nichts mehr tun.«
Was heißt das? Sie können nichts mehr tun? Sie können dich doch nicht so einfach aufgeben? Meinen Stefan doch nicht.
»Dürfen wir mal telefonieren?«
»Muss ich wirklich zu Manuel gehen?« Die Sonne schien, wir hatten deinen Tag im Schwimmbad verbracht. Ich wollte ein bisschen in Ruhe lesen oder fernsehen. Ich wollte einen Cognac trinken und mich erholen.
»Manuel ist dein Freund, Stefan. Und Freundschaften muss man pflegen.« Nie hattest du ein Gespür dafür, wie anstrengend diese Tage waren.
»Ich bin aber erschöpft. Ich mag jetzt nicht mehr zu Manuel gehen.« Hast du jemals gefragt, wie es mir geht?
»Du hast es ihm gestern versprochen. Wenn du deine Verabredungen nicht einhältst, bist du kein Freund, sondern ein Arschloch! Also gehe jetzt zu Manuel!«
Liegt es daran, dass du auf den Kinderbildern nie lachst? Dass ich dir zeigen wollte, dass Freunde wichtig sind? Dich manchmal aus Liebe zu dir mit sanfter Gewalt von mir trennen musste? Ich habe deine Liebe zu mir genossen. Weißt du das nicht? Hast du dich deshalb so sehr betrunken?
Ich kann nicht einmal mehr mit dem Kopf nicken. Wie bekomme ich es hin, ihnen wortlos das Telefon zu geben?
»Schrei nur Mutter. Niemand kann dich hören.«
Wie schalte ich diese verdammte Musik aus? Ich habe diese Anlage doch schon nicht begriffen, als sie noch in deinem Kinderzimmer stand.
»Mund auf, Mutter. Niemand wird uns stören.«
Wo bleiben die Schreie, die wir in unserer Brust vergraben, die nie den Weg nach draußen finden, sondern nur in uns selber widerhallen? Müssten sie uns nicht immer mehr füllen, bis wir schließlich platzen? Wie viel Wut ertrage ich?
»Soll ich das abstellen?«, fragt mich einer der Männer, während sein Kollege telefoniert.
Jetzt kann ich nicken. Auch hinsetzen kann ich mich jetzt, deine Beine ganz leicht zur Seite schieben, um mir Platz zu schaffen. Ich möchte dich nicht verletzen. Aber ich kann nicht mehr stehen bleiben. Im Stehen kann ich mein Gesicht nicht verbergen, muss gefasst bleiben und zuhören, wie der Arzt die Polizei ruft. Schreien kann ich nicht.
»Der Junge war Ihr Sohn?«
Was heißt, du warst? Du bist es noch. Du wirst immer mein Sohn bleiben.
»Lassen Sie los, Frau Mundrach. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.« Weiß er, wie das ist?
Wie wenig von dir übrig ist. Ein Häuflein Asche ist alles, was ich von dir in den Händen halte.
Urnenbeisetzung. Welch friedliches Wort dafür, dass ich alles, was du mir gelassen hast, unter der Erde verscharren soll. Könnte ich nicht wenigstens diesen Rest von dir behalten und in dein Zimmer neben die Fotos stellen?
Was hast du dir dabei gedacht, Stefan? Mich zuschauen zu lassen, wie sie dich in einem Zinksarg auf die Straße tragen? Hast du einmal darüber nachgedacht, dass du mir das Herz damit brechen könntest?
Warum hast du mich allein gelassen? Warum muss ich mich darum kümmern, deine Beerdigung zu organisieren, deine Wohnung zu kündigen und aufzulösen? Warum muss ich so viele mitleidige Hände entgegen nehmen, die alle nur meinen Schmerz vertiefen? Hättest du daran nicht denken können, bevor du so viel trinkst? Da hattest doch gar keinen Grund dich zu betrinken. Dir ging es doch gut. Du hattest doch mich.
Verzeih mir meine Wut, Stefan. Es war doch ein Unfall. Du hast es bestimmt nicht gewollt. Der Arzt hat bestimmt keine Ahnung. Der behauptet, du hättest dir Tabletten in den Wodka gemischt oder sie mit ihm hinuntergespült. Wie kann er es wagen? Was will er mir einreden? Schuld?
Nie wärest du auf die Idee gekommen, mir solchen Schmerz zuzufügen. Du hast mich doch geliebt. Hast du doch, oder?
Die kursiv gesetzten Textpassagen entstammen dem Lied „Die Fütterung" von Heinz Rudolf Kunze. Die Verlagsrechte der Texte liegen beim Oktave Musikverlag.